Kunst der Geistesgegenwart

In letzter Zeit, schreibt Kurt Marti 1968, erhalte er vermehrt Anfragen von Redaktoren «seriöser, eher rechts von der Mitte stehender Zeitungen». Das Anliegen sei stets das gleiche: Ob man Kolumnist werden wolle, schreiben dürfe man, was einem beliebe, «unbehelligt, unzensuriert». Offenbar hat sich damals ein offenerer Zeitgeist als wachsender Marktdruck bemerkbar gemacht. Deshalb schien ein bisschen nonkonformistische Sauce über die obrigkeits- und USA-hörigen Reaktionsleitlinien gut fürs Geschäft.

Diese erste Öffnung – aus der bis in die achtziger Jahre die leicht bekömmliche Sowohl-als-auch-Publizistik der Forumspresse wachsen wird – ermöglicht damals verschiedenen «Nonkonformisten», öffentlich eigene Meinungen zu vertreten. Als Kolumnist bereits einen Namen hat 1968 Walter Matthias Diggelmann; andere – wie Peter Bichsel in der «Weltwoche» – beginnen damals, Kolumnen zu veröffentlichen.

Kurt Marti lehnt die Anfragen ab, denn auch er ist bereits Kolumnist, und zwar der «reformatio». Sie war 1952 mit dem Untertitel «Evangelische Zeitschrift für Kultur und Politik» als Pfeiler im Bollwerk des christlichen Abendlands gegen den kommunistischen Atheismus gegründet worden und hatte sich bereits 1964 nach jungen Kolumnisten umgesehen. Gefunden hat man neben dem originellen «Rechtsintellektuellen» Christoph Blocher auch Kurt Marti, den «linksintellektuellen» Pfarrer der Berner Nydeggkirche. Vorgabe an ihn war einzig, «Kulturelles» im Fokus zu haben, ansonsten: Carte blanche

1964: «Schweizerisch [wäre] demnach eine bestimmte Art und Weise, wie wir mit uns selber nicht fertig werden können!» (S. 31)

Marti, damals 43jährig, hatte mit der «reformatio» Pech und Glück zugleich. Pech hat er, weil er von nun an weitgehend unter Ausschluss der Öffentlichkeit publiziert. Die «reformatio» hat in ihren besten Zeiten kaum mehr als tausend Abonnemente, als sie Ende letzten Jahres ihr Erscheinen eingestellt hat, noch ungefähr halb so viele. Während Bichsel längst – zu Recht und über die Landesgrenzen hinaus – als bedeutender Kolumnist gilt, wissen heute nur Insider, dass Kurt Marti nicht nur ebenfalls Kolumnen geschrieben hat, sondern dass in der Deutschschweiz überhaupt nur Bichsels Kolumnenwerk dem seinigen ebenbürtig ist.

Glück hatte Marti dagegen, dass ihm seine Carte blanche 43 Jahre lang ununterbrochen und unverändert zur Verfügung stand. Jetzt hat ein Redaktionsteam (Hektor Leibundgut, Klaus Bäumlin, Bernhard Schlup) auf über 1400 Seiten alle Kolumnen chronologisch versammelt. Ein Prosawerk, das seinesgleichen sucht; inspiriert von Ludwig Hohl, sowohl was den Titel «Notizen und Details» als auch was die Form der assoziativ collagierten Textstücke betrifft; in der kulturkritischen Geistesgegenwart verwandt mit Theodor W. Adornos Buch «Minima moralia».

1975: «Tatsache aber ist, dass der radioaktive Atommüll uns um x Generationen überleben wird. Wer kann für diese nachfolgenden Generationen garantieren?» (S. 566)

Wovon spricht einer wie Kurt Marti, wenn er 43 Jahre lang ohne thematische Vorgaben über «Kulturelles» spricht? Welcher Kultur-Begriff entfaltet sich da? Seine zentrale Achse ist zweifellos die Sprache. Für Marti ist der «Tatort Wort» überall. Von der Kritik der «verwalteten Sprache» gleich in einer der ersten Kolumnen zieht sich die Auseinandersetzung mit dem Wort bis zur Erinnerung an die reformatorische Emanzipation durch die Rückbesinnung auf die Schrift («sola scriptura») in der allerletzten. Sprach- und Ideologiekritik gehört zu Martis Kerngeschäft, und wenn er die «Methode sanfter Wahrheitsverfälschung» und die «rosaverzuckerte Denklandschaft des Establishments» attackiert, dann kann der sonst mit sanftmütigen Understatement Formulierende scharf werden.

Kontinuierlich setzt er sich natürlich mit den Grossen seiner eigenen Zunft – den Lyrikern – auseinander. «Hölderlin», schreibt er, Oskar Pastior zitierend, sei «eine schöne, dem Deutschen verwandte Sprache»; Trakls Texte seien in Farben, Klängen, so intensiv und klar, «ein LSD-Trip beinahe»; Rilke, an dem er sich reibt, attestiert er, in seinem Spätwerk «nicht auszulesende Dichtung» verfasst zu haben; den nicaraguanischen Befreiungstheologen und Dichter Ernesto Cardenal zitiert er respektvoll mit dem Satz: «Kommunismus oder Reich Gottes auf Erden, das ist das gleiche» – nicht ohne zu erklären, warum ein solcher Satz in der europäischen Sprachtradition nicht funktionieren würde.

Um diese Achse von Martis Kulturbegriff gruppieren sich die weitgespannten Felder der Gesellschaftspolitik und der Sozialethik. Die Ästhetik als Auseinandersetzung mit der «Kunst» im engen Sinn kommt für Marti nur dann in Betracht, wenn sie zur Beantwortung der Fragen, die ihn beschäftigen, etwas beizutragen hat (also ziemlich selten). So auch die Theologie: Sie kommt ins Spiel, wenn sie mitreden kann – oder aus Martis Sicht vermehrt mitreden müsste, aber opportunistisch schweigt. Sowenig aus den Kolumnen je pfarrherrliche Selbstinszenierung spricht, so wenig verleugnen sie doch, dass für ihren Verfasser jedes weltliche Problem auch eine theologische Seite hat.

1986: «Im Gefasel von ‘Sinn-Angeboten’ versucht der Markt, sich selbst zum Big-Sinn hochzustapeln.» (S. 806)

Auf dem Feld der Gesellschaftspolitik ist Martis Kolumnenwerk eine gewaltige Chronik. Freilich keine faktenhubernde, sondern eine, die das, was dem Verfasser das jeweils Nötige und deshalb Fällige erscheint, gedanklich durchdringt, befragt und einordnet. Im Licht leidenschaftlich vernünftiger Argumente ersteht ein ganzes Zeitalter in seiner Frag-Würdigkeit neu: Expo 1964, Prager Frühling, «Fremdarbeiter», Vietnamkrieg, Entwicklungshilfe (Marti gehörte zu den Initianten der «Erklärung von Bern»), der Putsch gegen Präsident Allende, das «Jura-Problem», die AKW-Politik, Waffenhandel, Nicaragua, Tschernobyl, Aids, Europa, Bosnien, Aktivdienst-Debatte, Blocheriana, Expo 2002, der Mobilitätswahn im «Tunnelland».

Wer mit soviel Engagement Aktualität aufgreift und kommentiert, irrt zuweilen. Auch Marti. Aber noch dort, wo er aus heutiger Sicht schief liegt (etwa wenn er 1997 das Zustandekommen der Solidaritätsstiftung bereits voraussetzt und den Schutz von Minderheiten und die Menschenrechte als deren inhaltliches Profil empfiehlt) – noch dort sind seine Überlegungen bedenkenswert, scharfsinnig und dem menschlichen Massstab verpflichtet. Darüber hinaus sind alle Kolumnen ausgezeichnet geschrieben: klar, präzis, gut vermittelnd, ein Lesegenuss. Auch weil unabhängiges Denken definitiv weniger veraltet als abhängiges.

1997: «Je mehr sich der seit 1989 global entfesselte, deregulierende und desolidarisierende Kapitalismus kaputt siegt, desto eher könnte das neue Stich- und Leitwort in der Tat wieder ‘Solidarität’ sein.» (S. 1153)

Nicht weniger lesenswert als die Chronik der Ereignisse ist ihre mitlaufende sozialethische Spiegelung: In einer Kolumne von 1965 findet sich eine Passage (S. 62 ff.) von geradezu verblüffender Aktualität. Es geht um das Paradox, dass auch freiheitliche Gesellschaften auf Tabus angewiesen sind. «Das Toleranz-Tabu ist Voraussetzung jeden Friedens», schreibt Marti. Heute ist der systematische Bruch mit diesem Tabu Voraussetzung aller SVP-Propaganda. Marti regt zum Nachdenken über Heutiges an, nicht nur in dieser Passage.

Verschiedene der eindrücklichsten Kolumnen sind übrigens Würdigungen von sozialethisch Engagierten, von Karl Barth über Dorothee Sölle, Konrad Farner oder Emmanuel Lévinas bis zu Carola Meier-Seethaler (letztere 2006 aus Anlass von Meier-Seethalers Rücktritt aus der Nationalen Ethikkommission im Zusammenhang mit dem Humanforschungsgesetz, wobei Marti ihr von der Presse damals unterschlagenes Rücktrittsschreiben dokumentiert).

2007: «Die Predigt [fällt] nur dann nicht der heute drohenden Bedeutungslosigkeit anheim, wenn sie aufklärerische Elemente enthält.» (S. 1409)

Seit dem Tod seiner Frau lebt Marti in einem Wohnheim. Die Schreibmaschine hat er nicht mitgenommen. Er möge nicht mehr schreiben, hat er gesagt. Zwar ist jeder Besuch bei ihm schon deshalb anregend, weil er regelmässig Aktualitäten anspricht und sie quasi in seinem Kolumnenton argumentierend zu befragen beginnt. Beim letzten Besuch hatte er für seinen Gast zusätzlich eine Überraschung bereit: Er habe da etwas geschrieben, sagte er nebenbei, wenn ich es brauchen könne, könne ich es haben. Er legte vier handgeschriebene Blätter auf den Tisch, betitelt mit «Spätsätze»: Aphorismen, die es verdient hätten, als 253. «reformatio»-Kolumne gedruckt zu werden: «Ich gehöre zum 20. Jahrhundert», heisst es zum Beispiel, «das jetzige wird mir fortzu fremder.» Oder: «Jetzt, da alles ins Licht der Öffentlichkeit gezerrt wird, erquickt mich Gottes Verborgenheit.» Oder: «Die Altersindustrie boomt. Auch ich gehöre nun zu ihrem Rohstoff.» Und: «Ich wurde geliebt, also war ich.»

Kurt Marti: Notizen und Details. Zürich (Theologischer Verlag Zürich) 2010. 

Weitere Rezensionen des gleichen Buchs habe ich veröffentlicht in «reformiert» («Die reiche Ernte eines Unbequemen», Nr. 2/2010) und im «Kirchenboten» («Die ‘Marti-Bibel’», April 2010). 

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