Eine Nische der musikalischen Moderne

Einmal erhielt Hermann Gattiker eine kleine öffentliche Anerkennung: Die Stiftung Pro Helvetia überwies ihm am 10. Juni 1954 einen Betrag von 1000 Franken. Die Stadt Bern allerdings hat, soweit man weiss, von seinen «Hausabenden für zeitgenössische Musik» nur insofern Kenntnis genommen, als sie in späteren Jahren auf der Entrichtung der Billettsteuer bestanden hat.

Der ewige Beethoven

Das offizielle Bern war in diesem Jahrhundert nie eine Hochburg der musikalischen Moderne. «Ein ausgeprägter Wille zur Traditionsbildung», die dem bernischen Charakter entspreche, kennzeichne zum Beispiel die Entwicklung der Bernischen Musikgesellschaft (BMG), hat Franz Kienberger 1965 in einem Aufsatz festgehalten, in dem er auf der Suche nach den meistgespielten Komponisten die BMG-Programme der Jahre 1915 bis 1965 auszählte. Resultat: Bei den Symphoniekonzerten führt Beethoven (230 Aufführungen) vor Mozart (208) und Brahms (115); bei den Kammermusikkonzerten Beethoven (153) vor Mozart (87) und Schubert (61).

Werke moderner Komponisten figurieren erst im hinteren Teil der Aufzählung: An symphonischer Musik nimmt Bern jene von Strawinsky (28 Aufführungen), Hindemith (15), Bartók (14) und Mahler (11) immerhin zur Kenntnis; als Kammermusiker vorgestellt werden Dvorák (20 Aufführungen), Ravel (20), Debussy (18), Bartók (7), Hindemith (6), Strawinsky und Schönberg (je 5). Die meistaufgeführten Schweizer Komponisten sind Othmar Schoeck (35 Aufführungen) und Arthur Honegger (29).

Von Dallapiccola bis Tortelier

Als der junge Pianist Francis Engel ihm im Sommer 1940 beeindruckende Klavierkompositionen vorlegt, weiss Hermann Gattiker als Musikkritiker des «Bund» aus intimer Kenntnis des offiziellen Musiklebens der Stadt, dass er selber etwas tun muss, sollen die Werke dieses Unbekannten innert nützlicher Frist aufgeführt werden. Gattiker handelt. Für den 28. September 1940 lädt der 41jährige Junggeselle zum «Musikalischen Abend» in seine Privatwohnung an der Junkerngasse 40. Zusammen mit Engel und der Sopranistin Alice Dietler stellt er ein Programm mit Liedern und Klavierwerken von Engel, Albert Roussel und Claude Debussy zusammen und verteilt eine vervielfältigte Einladung mit Programmvorschau im Bekanntenkreis. Es kommen etwa drei Dutzend meist jugendlicher Zuhörer und Zuhörerinnen. Der Erfolg ist so ermutigend, dass Gattiker sich zur Organisierung weiterer Abende entschliesst.

Bis zum 1. November 1967 fanden danach genau 200 «Hausabende für zeitgenössische Musik» statt, zwischen 1955 und 1966 zusätzlich 19 Veranstaltungen unter dem Titel «Gattikers Hausabende. Klassische Reihe». Zur Aufführung gelangten insgesamt weit über tausend Werke, einige davon als Uraufführungen. Konzerte in Anwesenheit oder unter Mitwirkung der Komponisten waren nicht selten. Giacinto Scelsi war genau so Gattikers Gast wie Wladimir Vogel, Luigi Dallapiccola oder Ernst Krenek. Für junge Schweizer Komponisten wurden die «Hausabende» zu einer der raren Gelegenheiten, ihre Arbeiten einem Publikum vorzustellen. Der in Bern geborene Jürg Wyttenbach zum Beispiel debütierte hier 1952 am Klavier als 16jähriger Komponist mit einer selber vorgetragenen Sonatine.

Interpretiert wurden die Werke in der ersten Zeit teils von interessierten Schülern und Schülerinnen des Konservatoriums, teils von Berufsmusizierenden aus der Stadt, später immer häufiger auch von Interpreten und Interpretinnen mit internationalem Ruf aus allen Ländern Westeuropas. An den «Hausabenden» waren der Cellist Paul Tortelier oder der Pianist Stefan Askenase so gut zu hören wie das Amsterdamer Streichquartett oder das Parrenin-Quartett aus Paris.

Brückenbauer für die moderne Musik

In einem der ersten öffentlichen Hinweise auf Gattikers Tätigkeit als Konzertveranstalter betont 1943 das «Berner Tagblatt» die aufführungspraktischen Eigenheiten der Anlässe: «Es wird bezweckt, ganz neue, noch ungedruckte Werke junger und jüngster Komponisten ausfindig zu machen. Dank der häuslichen Intimität kann ein neues Stück zwei- oder mehrmals nacheinander gespielt werden, was sich mit nachherigem Beisammensein und Diskussion zu wertvoller Prüfung und Fühlungnahme sehr gut eignet.»

Über seine Motivation als Musikveranstalter schrieb Gattiker 1943 in einem Brief an den Klarinettisten Willy Tautenhahn: «Sie wissen ja, dass ich die Abende nicht für mich veranstalte, sondern damit gewisse Werke überhaupt bekannt werden können.» In einem Hinweis auf die 100. Veranstaltung würdigte der «Bund» zwölf Jahre später Gattiker als Kulturvermittler, der in der Überzeugung handle, «dass der Mangel an echter Anteilnahme an der zeitgenössischen Musik zu einem guten Teil auf den Mangel an Möglichkeiten, sie häufig und in künstlerisch hochstehender Wiedergabe hören zu können, zurückzuführen» sei, dass aber «die moderne Kunst dieser Anteilnahme, die durchaus nicht unkritisch zu sein braucht, bedarf, um in lebendiger Fühlung mit denen zu bleiben, an die sie sich richtet.» Mit den Worten des polnischen Intellektuellen Jerzy Stempowsky, der die Hauskonzerte häufig besuchte, ging es Gattiker darum, «den Abgrund» zuzuschütten, «der das Publikum heute von der modernen Musik trennt».

Enge und Ausbruch

Bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs fanden 25 Abende statt. In dieser Zeit war Gattikers Engagement auch ein stiller Protest gegen die chauvinistischen Auswüchse, die die «Geistige Landesverteidigung» im kulturellen Bereich mit sich brachte. Verschiedene Quellen betonen den gesellschaftlichen Charme der «Hauskonzerte» in diesen Jahren: Bis in den Morgen hinein diskutierend sei der Kreis des interessierten Publikums oft dichtgedrängt in der Junkerngasswohnung beieinandergesessen. Für ein Glas Wein und einen kleinen Imbiss sorgte Gattiker jeweils selbst. Unkostenbeiträge waren trotzdem langezeit freiwillig, später bescheiden. Die 25. Einladung bringt zum ersten Mal den Hinweis: «Fr. 1.- Eintritt als Beitrag an die Unkosten erbeten. Freiwillige Beiträge an das Buffet (Weinhandlung Seiler) seien im voraus herzlich verdankt.»

Mehr als die Spesen konnte den anreisenden Musiker und Musikerinnen nie vergütet werden. Stillschweigend und jahrzehntelang hat Gattiker seine «Hausabende» privat subventioniert, obschon er selber wenig hatte. Zwar war er der einzige Sohn des mächtigen Industriellen August Gattiker-Sautter, der in Richterswil am Zürichsee eine Textilfirma betrieb und für die freisinnige Partei zwischen 1934 und 1943 im Nationalrat gesessen hatte. Aber als es ums Erben ging, wurde er übergangen. Seine Familie verzieh ihm nicht, dass er sich für die Musik entschieden hatte und nicht für die Volkswirtschaft und für die Firma seines Vaters.

Die «Weltwoche»-Journalistin, die im Mai 1944 eine Reportage über die «Hausabende» veröffentlichte, war beeindruckt von der «lebendigen und offenen Gemeinschaft», die die Klage zunichte mache, «dass es eng geworden sei innerhalb unserer stacheldrahtumwehrten Grenzen, dass in dieser abgeriegelten Luft nichts Frisches mehr wachsen und blühen könne». Gattiker wird an dieser Stelle mit den Worten zitiert: «Aus der ganzen Schweiz werden mir Manuskripte zugeschickt, und unsere besten und grössten Musiker freuen sich, bei mir zu spielen, freuen sich, dem unpersönlichen Konzertsaal zu entrinnen, und stören sich weder an den primitiven Zuständen, noch daran, dass ich natürlich keine Honorare zahlen kann. Sie alle tun es um der Sache willen!»

Der Weg in die Öffentlichkeit

Eine zweite, klar abgrenzbare Phase in der Geschichte der Veranstaltungen bildet die Zeit von 1945 bis 1959, die die Abende 26 bis 132 umfasst. Mit dem Kriegsende öffnen sich auch die Grenzen. Der Ruf von Gattikers «Hausabenden» verbreitet sich schnell im nahen Ausland. Irène Gattiker-Lauterburg, die damals ihren späteren Mann kennenlernt, erinnert sich, nach dem Krieg hätten die «Hauskonzerte» zu einer Öffnung gegenüber dem Ausland beigetragen: «Es war wichtig, dass man aus der schweizerischen Enge herausgekommen ist.» Musiker und Musikerinnen hätten sich jetzt von überall her gemeldet, hätten schriftliche Programmvorschläge eingereicht und Gattiker habe so viele Angebote gehabt, dass er habe auslesen können. Die «Hauskonzerte» sind damals weitherum nicht nur die einzige Möglichkeit gewesen, moderne Musik zu hören, sondern auch, sie aufzuführen.

Nach der Heirat 1948 arbeitete Irène Gattiker-Lauterburg bei der Organisation der «Hausabende» mit, seit Beginn der fünfziger Jahre sind die Einladungen mit «Hermann und Irène Gattiker» gezeichnet. Der Veranstaltungsort wechselt mit dem Wohnort der bald einmal sechsköpfigen Familie: Nach drei verschiedenen Adressen an der Junkerngasse, finden die «Hausabende» an der Gerberngasse 10, dann an der Bantigerstrasse 14, dann am Nydeggstalden 34 statt. Erst seit Ende der fünfziger Jahre finden sie im Saal des Lyceum-Clubs am Theaterplatz 7 einen öffentlichen Rahmen.

Gattiker, der als Musikkritiker noch während des Weltkriegs vom «Bund» zum «Berner Tagblatt» gewechselt hatte, kümmerte sich neuerdings nicht nur um die Musik- sondern auch um die Filmkritik. Und er begann selber, Filme zu drehen: Zwischen 1950 und 1955 zum Beispiel dokumentierte er jeden «Hausabend» mit einer kurzen schwarzweissen Stummfilmsequenz. Was zu sehen ist: Musiker des Indig-Streichquartetts im Frack unterwegs in der Gerberngasse; Frauenhände, die virtuos über die Tasten des Flügels wirbeln; Sandor Veress im Gespräch mit dem Duo Gaby und Attyla Lengyel; das Publikum dichtgedrängt im engen Raum, die Herren mit Kitteln und Krawatten, die Damen in hellen Blusen; Ernst Krenek, der Schönberg-Schüler, gelassen einem Gespräch folgend; et cetera.

Am 8. Februar 1959 stirbt Gattiker knapp 60jährig und völlig unerwartet. Sein Nachfolger als Musikkritiker am «Bund», Max Favre, schreibt: «Es scheint unmöglich, dass durch einen jähen Tod dieses wertvolle Aufbauwerk für immer abgebrochen würde. Die Fackel muss wieder aufgenommen und weitergetragen werden, im idealistischen Geiste des Dahingegangenen und zur Ehre des bernischen Musiklebens, das solche belebende Kräfte nicht entbehren darf.»

Wo sy mr eigentlech?

Die Fackel ist wieder aufgenommen worden: Bereits am 21. Februar 1959 findet der 133. «Hausabend» mit Werken von Hindemith und Schoeck statt – die Einladung ist mit «Irène Gattiker und die Künstler» unterzeichnet. Seither organisiert Irène Gattiker-Lauterburg zusammen mit Hedi Portenier die Veranstaltungen.

Obschon seit Mitte der fünfziger Jahre regelmässige Besprechungen der «Hausabende» in den Zeitungen – in erster Linie im «Berner Tagblatt» – erscheinen, nimmt das öffentliche Interesse in den frühen sechziger Jahren stetig ab. Die gesellschaftlichen Veränderungen bewirken nicht nur eine langsame öffentliche Anerkennung der «Hausabende» – sie machen sie gleichzeitig überflüssig. In den umliegenden, kriegsversehrten Ländern hat sich wieder ein eigener Konzertbetrieb entwickelt, auch um avantgardistische Werke vortragen zu können, muss niemand mehr nach Bern reisen. Dazu kommt, dass durch die explosionsartige Ausbreitung von Radio und Schallplatte das Verhältnis der Musikausführenden zu ihrem Publikum auf eine zuvor nicht vorstellbare Weise entkoppelt worden ist: Wer sich Musik anhören will, tut dies immer häufiger, ohne die eigenen vier Wände zu verlassen.

Trotzdem findet sich in den Programmen bis zum Schluss immer wieder Zukunftweisendes: Der 194. «Hausabend» findet am 15. April 1966 im grossen Saal der damals von Harald Szeemann geleiteteten Kunsthalle statt. Aufgeführt wird «Babel. Musik für dreizehn beliebige Instrumente», ein eben erst fertiggestelltes Werk von Urs Peter Schneider. Max Favre rapportierte im «Bund» in Stichworten: «Komponist gibt Startzeichen. Tubaspieler kämmt sein doch haarloses Instrument. Posaunist schliesst mehrmals geräuschvoll sein Futteral. Dame schlägt mit Hammer auf Metallplatte. Gitarrist ruft verzweifelt in den Resonanzkasten. Stimme: ‘Wo sy mr eigentlech?’. Orgelklang aus Lautsprecher. Rülpser der Sängerin. Dame zündet Brissago an. Pianist streichelt mit Triangel die Klaviersaiten.» Und in der vielleicht einzigen Rezension, die eine ausländische Zeitung den «Hausabenden» gewidmet hat, kommentierte die «Frankfurter Allgemeine Zeitung» das «Musik-Happening»: «‘Babel’ regt zu Diskussionen, zum Nachdenken an. Und das immerhin in einer Stadt, in der Webern noch als eine Zumutung empfunden wird. Das Publikum wurde jedenfalls aus seiner traditionellen Lethargie und Passivität gerissen.»

Den letzten, 200. «Hausabend» haben Eduard Brunner (Klarinette) und Charles Dobler (Klavier) mit Werken von Albert Moeschinger, Rudolf Kelterborn, Alban Berg, Hermann Meier, Hans Rudolf Lehmann, Robert Suter und Arthur Honegger bestritten. Die zeitgenössische Musik jedoch, wie sie Hermann Gattiker ursprünglich verstanden hat, ist damals selber bereits Geschichte geworden. Gattikers Initiative, dem desinteressierten offiziellen Bern mit bescheidensten Mitteln eine Gegenöffentlichkeit entgegenzustellen, hatte sich erschöpft. Eine neue Generation von Musikern und Musikerinnen gab sich nicht mehr damit zufrieden, die funktionale Harmonik des 19. Jahrhunderts in Frage zu stellen oder mit offeneren musikalischen Formen zu experimentieren. In Frage gestellt wurde in diesen Jahren der Bürgerschreck-Aktionen und Publikumsbeschimpfungen das Ritual wohlanständiger Bildungsbürgerlichkeit selbst, das das «klassische Konzert» auch in Gattikers subkultureller Variante zu einem guten Teil geblieben war.

Mit dem 200. «Hausabend» verabschiedete sich Irène Gattiker-Lauterburg mit einem offenen Brief als langjährige Veranstalterin von ihrem Publikum. Zur gleichen Zeit gründeten Salomo Fränkel, Urs Peter Schneider und andere die «Konzertgesellschaft Neue Horizonte Bern», die am 24. April 1968 im Radiostudio Bern zum ersten Mal öffentlich auftrat. Mit amerikanischer Avantgardemusik hat damals ein neues Kapitel in der Musikgeschichte der Stadt Bern begonnen.

In der Zeitungsversion ist der erste Abschnitt weiter hinten in den Text gestellt worden und verschiedene Hinweise auf Hermann Gattiker wurden gestrichen und in einen Kasten zu seiner Person ausgegliedert. Hier präsentiert wird der Text in der Form, in der ich ihn der Redaktion geliefert habe – unter Berücksichtigung redaktioneller Verbesserungen.

Aktuell

Zum Projekt

 

Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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