Vom Preis des Neinsagens

Schreiben, verzweifeln, sich umbringen. Schreiben, verstummen, sich psychiatrisieren lassen. Schreiben, immer weiter schreiben, überleben im Kellerloch. Schreiben, flüchten, emigrieren in sich hinein oder weg von hier. Schreiben, hartnäckig aufklären, in ein Vakuum reden. Schreiben, gemeinsam widersprechen, öffentlich streiten. Schreiben, sich organisieren, Interessen verteidigen: Dissidenz, Widerspruchsgeist, Widerständigkeit in der schweizerischen Literatur dieses Jahrhunderts hat viele Facetten. Immer wieder haben sich Schreibende der Frage neu gestellt: Wozu will ich mich brauchen lassen, wofür und wogegen rede ich? Jene, die diese Frage ignoriert haben, sind immer schon gebraucht worden: von den herrschenden Interessen. Von ihnen ist hier nicht die Rede.

1.

Die «geistige Landesverteidigung» fordert von der Literatur die «Höchste Äusserung des nationalen Gedankens». — Dreissiger Jahre: Weltwirtschaftskrise, Massenarbeitslosigkeit, Frontenfrühling, Burgfrieden. Als nationale Leistungsschau steht die «Landi», die Landesausstellung 1939,  vor der Tür. Der damalige Bundesrat Philipp Etter fordert «geistige Landesverteidigung»: «Wir müssen in unserem Volk erhalten und mehren den Glauben an unseren Staat, die Ehrfurcht vor unserem Staat, die Freude an unserem Staat.» Zelebriert werden soll das heilige Vaterland als geistige und soziale Einheit; das Kunstschaffen wird angehalten, Wirklichkeit widerspruchsfrei zu inszenieren. «Kunst ist», so postuliert Etter, «wesentliche, höchste und reinste Äusserung des nationalen Gedankens, Ausdruck der geistigen Selbstbehauptung und Zeugnis mutigen, schöpferischen und zukunfts-bejahenden Selbstbewusstseins». Damit Kunst dies zuverlässig sei, spricht er sich im Namen der «geistigen Gesundheit» auch dafür aus, der Staat solle mit seiner Autorität die Freiheit von Presse, Literatur und Kunst einschränken. Dafür garantiert sein Innendepartement während des 2. Weltkriegs jedem, der einen Schriftsteller irgendwie beschäftigt, fünfzig Prozent der Lohnkosten zurückzuerstatten. Zuckerbrot und Peitsche machen in den dreissiger Jahren die Dichtkunst für die innere Front der  «geistigen Landesverteidigung» brauchbar. «Wie nie zuvor in der Geschichte des kargen Literaturlandes Schweiz», kommentiert Charles Linsmayer, «wurde dem Schriftsteller offiziell hofiert, wurde sein Tun als sinnvoller Beitrag an die Erfüllung einer nationalen Aufgabe gesehen.» Gegen die geistige Landesverteidigung, die Literatur zum nationalistischen Propagandainstrument degradiert hat, öffentlich Stellung zu nehmen, ist äusserst schwierig gewesen. Max Frisch:«Vielleicht muss man selbst geschrieben haben, um an Hand damaliger Texte zu erkennen, wie unfrei uns der notwendige Kampf um die Freiheit machte».

2.

Wer schreiben und sich nicht brauchen lassen will, hat in jener Zeit ein «Leben wie ein Hund». — Hans Morgenthaler hat die «Dichtermisere» kurz vor seinem Tod (1928) so beschrieben:«Ich habe ein Leben wie ein Hund! / So werde ich nie und nimmer gesund! / So ist’s in der freien Schweiz: / Elend eng und kein Bücherabsatz.» In der gleichen Zeit hat in Bern Robert Walser unter bedrückendsten wirtschaftlichen Umständen bis über seine Grenzen hinaus versucht, von seiner Arbeit zu leben. 1929 ist er verstummt. Als er 1943 als Herisauer Psychiatriepatient auf einem Spaziergang von Carl Seelig gefragt wird: «Wieviel würden Sie brauchen, um als Schriftsteller leben zu können?», antwortet er: «Schätzungsweise 1800 Franken jährlich.» – «Nicht mehr?» – «Nein, das würde genügen. Wie oft habe ich in meiner Jugend mit weniger auskommen müssen! Man kann doch auch ohne materielle Güter ganz ordentlich leben.» Zum Vergleich: Ein Jahr später, 1944, hat man im Schweizerischen Schriftsteller-Verein (SSV) über die Einführung von Werkjahren diskutiert; dort ist man von einem Jahresbeitrag von 8000 Franken ausgegangen. In seinem Büchlein «Die Schweiz und ihre Schriftsteller»(1966) schreibt Kurt Marti, die Schweiz sei von jeher zu klein gewesen, um ihre Schriftsteller ernähren zu können: «Diese waren deshalb schon immer und sind noch, wie die Industrie unseres Landes, auf Export angewiesen. Export heisst für den Deutschschweizer Autor: Bücherabsatz nach Deutschland.» Nach Carl Spittelers Abgrenzungsrede gegen das Deutsche Reich («Unser Schweizer Standpunkt», 14. 12. 1914), aber erst recht nach der Machtübernahme Hitlers 1933 ist der deutsche Büchermarkt für die deutschschweizerische Literatur zusehens ausser Reichweite geraten. Beschränkte Publikationsmöglichkeiten und geistige Landesverteidigung haben den schweizerischen Holzboden in den dreissiger Jahren sehr hart gemacht. Walser hat später zu Carl Seelig gesagt: «Wissen Sie, warum ich als Schriftsteller nicht hochgekommen bin? Ich will es Ihnen sagen: ich besass zuwenig gesellschaftlichen Instinkt. Ich habe der Gesellschaft zu wenig geschauspielert.» Zwar hat Peter Bichsel über Ludwig Hohl einmal gesagt: «Hohl ist nicht einer, der im Keller lebt, sondern einer, der schreibt.»  Aber wo sonst als in einem Kellerloch hätte der mittellose Hohl, der sich nie hat brauchen lassen wollen, in diesem Land und in dieser Zeit überleben können?

3.

«Landi» 1939: Die brave Dichtkunst wird mit dem «Weiheraum der Dichtung» belohnt. — in den dreissiger Jahren ist die geistige Landesverteidigung zum Nenner der Bemühungen des SSV geworden. Er attestiert sich in jenen Jahren selber, dass er «aus einem Interessenverband immer mehr zu einem Zentrum schweizerischer Kulturpolitik» geworden sei. Am Festakt zu seinem 25jährigen Bestehen gibt sich 1937 gar Bundesrat Etter die Ehre, und an der Landi 1939 wird die Dichterzunft für ihre Nützlichkeit an der inneren Front mit einem «Weiheraum der Dichtung» belohnt. In diesem kathedralenartigen Saal mit überlebensgrossen Freskobildern von Rousseau bis Spitteler wurde Literatur an der «Landi» als erhebende, idealistisch-nationale Sprachkunst zelebriert. «Auf dass das lebendige Wort sich zum Worte der Verewigten geselle, lasen Schriftsteller und Schriftstellerinnen in regelmässig wiederkehrenden Vormittagsstunden vor einer kleinen Gemeinde aus ihren Werken. Schauten sie über die Zuhörer hinweg, so sahen sie zur Linken und zur Rechten des Eingangs an den Seitenwänden die beiden Tafeln IN MEMORIAM mit den Namen so vieler anderer grosser Dichter und Denker. Und liessen sie den Blick ruhen auf der Rückwand, so lasen sie in unseren vier Landessprachen jene Worte, die unser Glaubensbekenntnis sind: ‘Die Grösse unseres Landes ist die seines Geistes’», hält der damalige SSV-Präsident Felix Moeschlin fest. «Nichts zeigt auf einen Blick das gesteigerte Selbstbewusstsein [des SSV, fl.] klarer als die geschwundene Hemmung vor solchem Pathos, das ja mit Billigung und Unterstützung der Mitglieder inszeniert worden ist», kommentiert der Literaturhistoriker Ueli Niederer. 

4.

Wer nicht mitmachen will oder kann, wird zum «Dichter im Abseits». — «Friedensabkommen am 19. Juli 1937: Burgfrieden zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften; 1940: Verbot der Kommunistischen Partei; 1943: Ernst Nobs wird zum ersten sozialdemokratischen Bundesrat gewählt. «Wo sollte», fragt Charles Linsmayer, «als die Arbeiter mit den Fabrikbesitzern gemeinsame Sache machten, als die Sozialisten für die Armee eintraten, als das gesamte Potential mit dem Regierungslager verschmolz und alles von der Einigkeit und Geschlossenheit der Demokratie sprach, beispielsweise ein links engagierter Schriftsteller noch einen politischen Standort finden?» Gefragt gewesen sind damals nicht «Dichter», sondern «Schweizerdichter (so geschrieben)» (Max Frisch). Andere, wie Albin Zollinger, mussten lernen, «in Watte zu sprechen», kamen im eigenen Land, noch einmal mit Frisch, in «die Lage eines Emigranten, ohne aber einer zu sein: die Emigranten hatten ein andres Hinterland». Aber nicht nur Zollinger ist ein Dissident der schweizerischen Enge jener Zeit geworden. Dieter Fringeli hat die «Dichter im Abseits», wie er sie nennt, einmal aufgezählt: «Ich weiss, dass man darüber streiten kann, wieweit das ‘Volk der Hirten’ (Jakob Bührer), das ‘Volk der Tellen’ (A. X. Gwerder) die Verantwortung für das Scheitern seiner besten Autoren in der ersten Jahrhunderthälfte zu tragen hat – für Friedrich Glausers Flucht in die Fremdenlegion, in Alkohol und Rauschgift, für Jakob Schaffners Flucht in den Nationalsozialismus, für Hans Morgenthalers Flucht in den siamesischen Dschungel und in die ‘Verkommenheit’, für Robert Walsers Flucht in Alkohol und Irrenhaus, für Albert Steffens Hinwendung zur Antroposophie, für Siegfried Langs Verstummen, für Otto Wirz’ Flucht vor der ‘Philisterei und Enge dieses erbärmlichen Landes’, für die masochistische Identitätssuche Albin Zollingers, für Ludwig Hohls Flucht in den Alkohol, in Isolation und Subjektivität, für Paul Hallers, Caesar von Arx’ und Alexander Xaver Gwerders Flucht in den Freitod.» 

5.

Nach dem 2. Weltkrieg wird die fleissige Schweiz immer reicher, die fleissige Dichtkunst marginal. — Als 1962 der SSV sein 50jähriges Bestehen in Rheinfelden feiert, schaut kein Bundesrat als Festredner herein (Bern überweist als Präsent 100000.-). An der «EXPO», der Landesausstellung in Lausanne 1964, kann der SSV keinen Einfluss nehmen auf die Darstellung der schweizerischen Literatur. An der Zelebrierung von technokratischem Fortschritt und wachsendem Wohlstand ist der SSV gerade noch am Rande ein bisschen dabei: mit einem Schriftstellertag und einer Serie von Einaktern. Niederer: «Stand der Verein 1939 selbstbewusst da, mit dem stolzen Anspruch, nicht nur die Schriftsteller, sondern geradezu den Geist des Landes zu repräsentieren, so bietet er nun, 1964, den etwas kläglichen Anblick einer im Grunde kraftlosen Vereinsstruktur, die zwar ziemlich viel Geld, aber wenig Geist und Unternehmungslust vorweisen kann.» Ein wichtiger Grund, weshalb der SSV im Laufe der fünfziger Jahre zur Bedeutungslosigkeit hinabgesunken ist, ist das «helvetische Malaise»: Auf den raschen wirtschaftlichen Aufschwung, der einem grossen Teil der Bevölkerung einen gewissen Wohlstand, aber auch bisher unbekannte Probleme gebracht hat, haben in jenen Jahren Politiker und Intellektuelle ­– nicht nur die im SSV organisierten – gleichermassen mit Staunen und Konzeptionslosigkeit reagiert.

6.

EXPO: Statt «kunstgewerblich-gerissener Selbstbeweihräucherung» eine Stadt bauen! — Dabei war dem «helvetischen Malaise» schon 1955 von Intellektuellen entschieden widersprochen worden:«Man ist nicht realistisch, indem man keine Idee hat». Unter dem Titel: «achtung: Die Schweiz» schlugen Lucius Burckhardt, Max Frisch und Markus Kutter vor, als Landesausstellung 1964 eine Stadt zu gründen. Geplant werden sollte eine Stadt für 10 000 bis 15000 Einwohner, denkbare Standorte: irgendwo im Seeland oder im Rhonedelta oder in einer Saaneschlaufe im Freiburgischen, Kostenpunkt ungefähr 300 Millionen Franken. «Unsere Hoffnung: Dass man durch ein Unternehmen, das vom Volk gewollt wird, zur grundsätzlichen Auseinandersetzung kommt, was wir uns unter unseren schweizerischen Schlagworten vorstellen, und dass die Schweiz sich besinnen muss, wo sie steht, woher sie kommt und wohin sie will.» Hinter der Idee steckte eine nach wie vor aktuelle Zeitdiagnose: «Es fehlt die Tat. Das heisst: wir arbeiten, aber wir arbeiten im Zeichen der Resignation. Wir tun, was gerade möglich ist; aber wir verändern nichts. (...) Die Resignation gilt als demokratische Weisheit.» Den «jungen Menschen», die froh wären, »wenn die Schweiz, ihre Heimat, zur Welt gehörte, wenn sie Anteil nähme an der grossen Auseinandersetzung, durch Gestaltung, Entwurf und Wagnis», bleibe nichts anderes übrig, als «eines Tages [zu] resignieren oder aus[zu]wandern». Kurt Marti berichtet: «Die Idee ist nicht verwirklicht worden. Man warf ihr Intellektualität, Künstlichkeit und Planungsterror vor und berief sich ihr gegenüber auf die bewährten Erfahrungen ‘natürlichen’ Wachstums und freier Entwicklung, resultierend aus dem ungeplanten Spiel der Interessen (...) Der Alarmruf der Broschüre war umsonst. Ungeplant wurde weitergewurstelt.»  Die EXPO ist dann ungefähr zu dem geworden, wovor Burckhardt/Frisch/Kutter gewarnt haben: «kunstgewerblich-gerissene Selbstbeweihräucherung».

7.

Einige Jahre des öffentlichen Streits verändern die Situation der Schreibenden in der Schweiz nachhaltig. — Wie Fanale stehen Max Frischs und Friedrich Dürrenmatts schriftstellerische Arbeiten in den fünfziger Jahren für den Ausbruch aus der Enge der Aktivdienstzeit. Ab 1959 ergreift eine neue Generation von Schreibenden das Wort. Literarische  Dissidenz ist nicht länger schicksalhaftes, auswegloses Leiden an einer weltabgewandten, hermetischen Provinz, in der nicht Funktionalisierbares in der «Feindseligkeit des Schweigens» (Zollinger) erstickt wird. Nonkonformisten, die Gesellschaftskritik als Teil ihrer schriftstellerischen Arbeit betrachten, provozieren einen Politisierungsschub unter schweizerischen Intellektuellen. Zwei Fragen stehen im Zentrum ihrer öffentlichen Debatten ab 1965: Jene nach der Schweiz als literarischem Thema und jene nach Engagement und dichterischer Qualität. 

• In der Zeitschrift «neutralität» stellt Frisch 1965 unter dem Titel «Unbewältigte schweizerische Vergangenheit?» Fragen:«Hat die Schweiz der letzten Jahrzehnte eine Literatur, in der sie sich erkennen muss, und wenn nicht, warum nicht? (...) Ist unser Land für seine Schriftsteller kein Gegenstand mehr?» Obschon die literarische Auseinandersetzung dringend notwendig wäre, «sofern wir die Schweiz als eine Realität wollen, nicht als Plakat, das niemals ein Lebensraum sein kann», sieht Frisch in der Schweiz nur «stilistische Talente»; ihre Arbeiten seien «fast ausnahmslos apolitisch oder abstrakt-politisch». Damit ist die Frage nach dem Engagement in der Literatur für die Schweiz gestellt. Otto F. Walter antwortet: «Selbst wo sie [die Literatur, fl.] die direkte Kritik der Verhältnisse sucht, zögert sie, gerade im Bestreben, wirklich realistisch zu sein, vor dem tauglichsten Mittel der littérature engagée: vor dem Gebrauch des traditionellen Realismus – weil sie nicht mehr ohne Ironie die Verhältnisse in der Sprache abbilden kann, sondern in der Sprache die Verhältnisse schaffen muss (um sie angreifen zu können).» (Damit nimmt Walter jene Position vorweg, die er 1983 gegen Niklaus Meienbergs Vorwurf des «Subrealismus» erneut verteidigen wird).

• Am 17. Dezember 1966 erhält Emil Staiger, Ordinarius für Literatur an der Universität Zürich, den Literaturpreis und bedankt sich mit einer Rede, in der er gegen die «Legion von Dichtern, deren Lebensberuf es ist, im Scheusslichen und Gemeinen zu wühlen», vom Leder zieht: «Wenn solche Dichter behaupten, die Kloake sei ein Bild der wahren Welt, Zuhälter, Dirnen und Säufer Repräsentanten der wahren, ungeschminkten Menschheit, so frage ich: In welchen Kreisen verkehren sie? (...) Wenn uns die Dichter unserer Zeit verlassen, rufen wir den Beistand der Dichter vergangener Zeiten herbei und lassen uns von ihnen sagen, was der Mensch ist und vermag, was er auch heute noch vermag, sofern er stark und innig will.» – Im «Tages-Anzeiger» polemisiert Hugo Leber gegen Staigers reaktionären Literatur-Begriff: «Was blieb, so ist zu fragen, von dieser Gemeinschaft, in der Dichter vergangener Tage das beseelte Bild des Menschen schufen? Es ging unter im Bombenregen der Unvernunft, der inhumanen Macht. Der erhabene Held, in der Schönheit der Sprache aufgerichtet, wird zum Parteigänger der Macht: Ästhetik wird zur Ideologie, Schönheit zur Blindenbrille vor der Wirklichkeit.» Damit war jene Kontroverse entfacht, die als «Zürcher Literaturstreit» in die Literaturgeschichte eingegangen ist.

• An den «Oltener Literaturtagen 1970» stellen sich mehrere Dutzend  SchriftstellerInnen öffentlich der Frage nach dem Engagement in der Literatur. Mit dem Terminus «litterature engagée» hatte J. P. Sartre 1947 darauf hingewiesen, dass Sprechen im literarischen Sinn, also Schreiben und Veröffentlichen, «Handeln durch Enthüllen» ist, Enthüllen aber Veränderung bewirkt. Im deutschen Sprachraum ist solche Literatur lange pejorativ als «Tendenzliteratur» abgetan worden. In seinem «Tagebuch 1946-1949» hat Frisch das Verhältnis zwischen «Tendenz und Dichtung» aber umgewertet: «Wer sich nicht mit Politik befasst, hat die politische Parteinahme, die er sich sparen möchte, bereits vollzogen: er dient der herrschenden Partei.» 1970 konstatiert der Literaturkritiker Heinz F. Schafroth in Olten beim Podiumsgespräch unter dem Titel «Engagement und dichterische Qualität» «einen unausgesprochenen Consensus: die Schriftsteller verstehen ihr Engagement ausnahmslos als eines in der Opposition. Keiner sieht es als staatserhaltend und patriotisch, nirgends soll es schweizerische Eigenart bewahren oder schweizerische Untadeligkeit-trotz-allem nachweisen helfen.» Dissidenz ist von individueller und existentieller Stellungnahme zur nonkonformistischen Gesellschaftskritik geworden.

8.

«Linksintellektuelle und Progressisten» gründen 1971 die Gruppe Olten. — Peter Bichsel schreibt 1969:«Weil die Einheit ‘Schöne Schweiz – gute Schweiz – fortschrittliche Schweiz – humane Schweiz’ selbstverständlich ist, fassen wir Kritik am einzelnen immer als Kritik am Ganzen auf. Eine Kritik beginnt bei uns deshalb mit einem umständlichen Bekenntnis zum Ganzen.» Wer auf dieses Bekenntnis verzichtet, gehört als «Lockvogel und Aushängeschild» schon fast zum Feind. So jedenfalls will’s das Zivilverteidigungsbüchlein, ein Elaborat aus dem kalten Krieg, das, ebenfalls 1969, gratis an alle Haushaltungen verteilt wird. Die pointiert intellektuellenfeindliche französische Übersetzung des SSV-Präsidenten Maurice Zermatten führt zum Austritt von 22 Schriftstellern aus dem Verband (Peter Bichsel, Jean-Louis Cornuz, Walter Matthias Diggelmann, Friedrich Dürrenmatt, Ernst Eggimann, Jürg Federspiel, Dieter Fringeli, Max Frisch, Walter Gross, Ludwig Hohl, Franck Jotterand, Peter Lehner, Kurt Marti, Adolf Muschg, Werner Schmidli, Jörg Steiner, Yves Velan, Walter Vogt, Otto F. Walter, Walter Weideli und Heinrich Wiesner). Diese Autoren gründen im Januar 1971 die «Gruppe Olten» und geben sich 1974 mit einer Statutenänderung den Vereinszweck:«Ihr Ziel ist eine demokratische sozialistische Gesellschaft». Mit der Gründung der Gruppe Olten hat sich erstmals ein Zweig schweizerischer literarischer Dissidenz, derjenige der «Linksintellektuellen und Progressisten» (so ein SSV-Protokoll), organisiert.

9.

Mit dem «Diskurs in der Enge»  publiziert Paul Nizon 1970 einen paradigmatischen Diskussionsbeitrag. — «Zu den Grundbedingungen des Schweizer Künstlers», schreibt Nizon, «gehört die ‘Enge’ und was sie bewirkt: die Flucht», denn «die Schweiz lebt kulturell ‘im Ausschluss’».  Er bestimmt das kulturelle Klima als amusisch, kunst- und geistfeindlich, von «aggressiver Selbstgerechtigkeit» und «ressentimentgeladen» und konstatiert: «Die Schweiz verscherzt ihre Söhne.» Die Enge des Kleinstaates als die «Absenz von ‘Welt’» wird in der modernen erzählenden Literatur zur «Enge des Stoffproblems». Deshalb sei das «Fluchtmotiv», das sich «wie eine ansteckende Krankheit» durch die schweizerische Literatur ziehe, zentral:«In unserer Literatur reissen die Helden aus, um Leben unter die Füsse zu bekommen – wie in Wirklichkeit die Schriftsteller ins Ausland fliehen, um erst einmal zu leben, um Stoffe zu erleben.» Deshalb auch sei die neuere erzählende Literatur «mehrheitlich stoffarm und heimatlos». Weil «Kritik am Etablierten definitorisch zum künstlerischen Daseinsentwurf» gehöre und weil dadurch jeder «echte Künstler naturnotwendig im Gegensatz zur Gesellschaft» stehe, wolle die Schweiz «ihre grossen Söhne nicht nur nicht tragen» sondern sei «ihnen geradezu feindlich gesinnt». Als Konsequenz bleibt nur das Weggehen: Emigration als Dissidenz. Nizon hat für sich diesen Weg gewählt.

10.

Heute funktioniert der Literaturbetrieb so echolos wie ehedem. Die Dichtkunst treibt fleissig marginale Blüten. Bloss wozu? — In den letzten zwanzig Jahren sind die politischen Unterschiede zwischen dem SSV und der Gruppe Olten kleiner geworden. Kritische, nonkonformistische Intellektuelle gibt es heute in beiden Organisationen. Die «demokratische sozialistische Gesellschaft» ist bisher unverbindliche Worthülse geblieben. Unter der Oberfläche von schillernder Buntscheckigkeit, Heterogenität und Originalität ist die Literaturszene heute weitestgehend saturiert und bieder. Der Anspruch, dass die Entwürfe länger halten müssten als eine literarische Saison, ist als unliterarisch verpönt. Mit der zelebrierten Absichtlosigkeit der Spracharbeit korrespondiert ihre Folgenlosigkeit und gesellschaftliche Echolosigkeit. Was Ende der sechziger Jahre schon fast ein öffentlichen Diskurs gewesen ist, ist in den achtziger Jahren wieder zum bildungsbürgerlichen Ritual  verkommen. Widerspruchsgeist zeigt sich am ehesten noch bei jenen, die gegen die Kulturflut der Freizeitgesellschaft auf der Verbindlichkeit ihrer Spracharbeit bestehen. Trotz allem fragen sich auch heute AutorInnen: Wozu will ich mich brauchen lassen? Wofür und wogegen rede ich?

11.

• Literarische Dissidenz meint in der Schweiz vor allem andern eine Lebenshaltung. — In den letzten sechzig Jahren ist Dissidenz eine weltanschaulich antizyklische, ökonomisch und sozial marginalisierte Lebensperspektive. Ludwig Hohl hat sie mit dem «Gesetz von den hereinbrechenden Rändern» beschrieben: «Nicht vom Zentrum aus geschieht die Entwicklung, die Ränder brechen herein.» Das Einflussnehmen wird gedacht als Umschlagen des Unbeachteten in unabwendbare Kraft, die, hereinbrechend, die Mitte zerschmettert. In dieser Hoffnung werden dissidente Autoren als «Mansardenkünstler» – von Hohl bis Franz Böni – zu Emigranten im eigenen Land. Oder sie emigrieren – wie Nizon – ins Ausland.

• Literaturpolitische Opposition meint in der Schweiz vor allem andern eine politische Anschauung. —  Seit der Gründung der Gruppe Olten, also seit zwanzig Jahren, gibt es eine organisierte literaturpolitische Opposition, die – zumindest theoretisch – Einfluss zu nehmen versucht auf die kulturpolitische Hegemonie dieses Landes. In der Praxis haben sich führende ihrer Exponenten – vor allem in den siebziger und frühen achtziger Jahren, zum Teil als Parteimitglieder, zum Teil als kritische Sympathisanten –  für die sozialdemokratische Partei exponiert (Bichsel, Frisch, Muschg, Walter). Die vielen, die sich nie in die Politik begeben haben, sind hartnäckig vor sich hindichtende Nonkonformisten geblieben.

• Literaturpolitische Dissidenz als Teil einer «Kultur der Dissidenz» wäre Lebenshaltung und politische Anschauung. — Mag sein, der von Schriftstellerinnen und Schriftstellern stark unterstützte «Kulturboykott 700» ist ein Signal: Das Nein zur 700-Jahr-Feier wird ja nicht nur postuliert, sondern auch gelebt. Doch dieses Nein zur helvetischen Agonie verordneter Solarität ist zu wenig. Was «Kultur der Dissidenz» heissen könnte, darüber muss nun geredet werden. Und dazu braucht es die SpracharbeiterInnen, die jetzt, sofort, den republikanischen Dialog neu erfinden über den «Umbau der Gesellschaft» (Max Frisch, 20.11.1989). Zum ersten Mal stattfinden kann dieser Dialog am Symposium der «Kulturboykottierenden» am 3./4. November 1990 in Zürich.[1]

Hauptsächliche Quellen:

Dieter Fringeli: Von Spitteler zu Muschg, Basel (Friedrich Reinhardt Verlag) 1975.

Charles Linsmayer: Frühling der Gegenwart – Erzählungen 3. Nachwort, Zürich (Bücherclub Ex Libris) 1983.

Ueli Niederer: 75 Jahre Schweizer Schriftsteller-Verband, in: SSV [Hrsg.]: Literatur geht nach Brot, Aarau/ Frankfurt am Main/ Salzburg (Sauerländer) 1987.

[1] Dieser letzte Abschnitt bezieht sich auf die Aktivitäten des «Kulturboykotts» gegen die «700-Jahr-Feier» der offiziellen Schweiz von 1991. Die Ereignisse im allgemeinen und die Dokumentation zum erwähnten Symposium im Speziellen finden sich in: Fredi Lerch/ Andreas Simmen [Hrsg.]: Der leergeglaubte Staat. Kulturboykott: Gegen die 700-Jahr-Feier der Schweiz, Zürich (WoZ im rotpunktverlag) 1991. Meine umfangreichen Unterlagen zum «Kulturboykott» habe ich 2008 dem Sozialarchiv in Zürich übergeben. – Die «verordnete Solarität» ist eine Wortschöpfung, die mir damals gefiel, weil sie das Wort «Solidarität» mit dem Namen des Eidgenössischen Delegierten für diese «700-Jahr-Feier», Marco Solari, zusammenbrachte. 

 

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