Der Eisbrecher für die Sonntagsarbeit

 

[pfarrblatt, 22.10.2005]

Freiraum jenseits von Konsum und Kommerz

Die Christlichdemokratische Volkspartei, CVP, wirbt für das revidierte Arbeitsgesetz, die Kirchen stellen sich gegen Sonntagsarbeit. Fredi Lerch, Journalist in Bern, führte im Auftrag des «pfarrblattes» ein Streitgespräch mit der Rechtsanwältin Doris Leuthard, Nationalrätin und Präsidentin der CVP, und mit dem Theologen und Volkswirtschaftler Wolfgang Bürgstein, Sekretär von Justitia et Pax, einer Stabskommission der Schweizer Bischöfe für sozial- und wirtschaftsethische Fragen.[1]

pfarrblatt: Die einen sagen, bei der Revision des Arbeitsgesetzes gehe es um die Festschreibung des Status Quo, die anderen, etwa die Gewerkschaften, sie bedeute einen weiteren Schritt in Richtung einer generellen Liberalisierung der Sonntagsarbeit. Was stimmt?

Doris Leuthard: Die Behauptung der Gewerkschaften ist völlig aus der Luft gegriffen. Wir stimmen allein über die Ladenöffnungszeiten in Flughäfen und in den 25 grössten Bahnhöfen ab. Es geht nicht um einen generellen Sonntagsverkauf oder eine generelle Liberalisierung der Ladenöffnungszeiten, sondern darum, dass wir durch die Anpassung des Arbeitsgesetzes gegenüber heute keine Verschlechterung der Situation in den Bahnhöfen erhalten. Wir wollen die Schliessung von etwa 150 Geschäften und die Streichung von deren Arbeitsplätzen verhindern und so den Status quo sichern.

Wolfgang Bürgstein: Aus meiner Sicht geht die Revision eindeutig über den Status quo hinaus. Sie ist eine Tendenzentscheidung: Die bisherigen und meist auch berechtigten Ausnahmen vom Verbot der Sonntagsarbeit in Zentren des öffentlichen Verkehrs sollen nun zur Regel werden. Nicht mehr das Sortiment begründet die Ausnahme, sondern der Standort. In Zukunft kann also beispielsweise Media Markt und Ochsner Sport im Railcity Basel auch am Sonntag öffnen. Bisher haben beide Geschäfte am Sonntag geschlossen.

Leuthard: All jene, die von einem Dammbruch sprechen, sollten bedenken: Es gibt tatsächlich parlamentarische Vorstösse zu weiteren Lockerungen der Ladenöffnungszeiten am Sonntag. Die CVP steht ihnen kritisch gegenüber. Der Parteivorstand hat in einem Positionspapier am Sonntag als generellem Ruhetag festgehalten. Er hat sich aber einverstanden erklärt mit der Möglichkeit offener Läden für die touristischen Zentren wie eben die grossen Bahnhöfe sowie der Möglichkeit für die Kantone, an 4 Sonntagen im Jahr die Ladenöffnungszeiten zu lockern. Alle darüber hinaus gehenden Vorhaben wird die CVP ablehnen.

Bürgstein: Zu fragen ist allerdings, wen die CVP überhaupt im Blick hat mit den erwähnten Lockerungen. Wohl kaum die grosse Mehrheit der Bevölkerung, die am Sonntag eben nicht im Shopville Zürich oder in den Railcitys der SBB zu finden ist! Vor allem die Familien, die Vereine und Verbände und nicht zuletzt die Pfarreien würden die Ausweitung der Sonntagsarbeit zu spüren bekommen.

Umstritten ist die Frage, wo die «öffentlichen Zentren des Verkehrs», wie es in der Gesetzesvorlage heisst, beginnen und wo sie aufhören. Um einen Laden sonntags öffnen zu dürfen, soll ein «funktionaler Bezug zum Bahnhof» genügen. Was heisst das?
Bürgstein: Der «funktionale Bezug» meint eine deutliche räumliche Ausweitung der Bahnhöfe. Warum sollte ein Geschäft wie der Loeb in Bern, das gerade eine Rolltreppe vom Bahnhofsareal entfernt ist, diesen funktionalen Bezug nicht für sich reklamieren? Die Revision ermöglicht eine Entwicklung, die den Sonntag immer mehr zum Arbeitstag machen würde.

Leuthard: Das stimmt so nicht. Das zuständige Departement hat im Rahmen der parlamentarischen Beratungen klar dargelegt, dass die vorgenommenen Definitionen dieses «funktionalen Bezugs» eindeutig sind und kein Anlass zur Furcht besteht, dass hier irgendwelche Ausweitungen stattfinden können, die über das Bahnhofsareal hinausgehen und damit in einen Bereich hineingreifen, an dem am Sonntag tatsächlich eine gewisse Beruhigung des Lebens stattfindet.

Bürgstein: Dieser «funktionale Bezug» hat noch andere Auswirkungen: Es kommt zu einer weiteren Verlagerung von den Fachgeschäften und Quartierläden hin zu den grossen Anbietern in den Zentren. Kleinere und Fachgeschäfte können sich die hohen Mieten meist nicht leisten. Ausserdem ist eine Verlagerung von Voll- zu Teilzeitstellen und von Facharbeitsplätzen zu Arbeitsplätzen mit geringerer Qualifikation zu erwarten.

Merkwürdigerweise lehnt ja der Schweizer Detaillistenverband die Vorlage ab, obschon die FDP sie ausgerechnet mit dem Argument unterstützt, sie setze sich «für Arbeitsplätze im Schweizer Detailhandel» ein. Wer profitiert tatsächlich?

Leuthard: Der Detaillistenverband stellt sich gegen das Gesetz, weil einzelne seiner Mitglieder um ihre Marktanteile und Absätze fürchten. Eine solche abwehrende Haltung aus Furcht vor Konkurrenz halten wir aber nicht für die richtige Einstellung. Denn die Konsumenten, welche am Sonntag Nahrungsmittel brauchen, warten meist nicht bis am Montag. Sie verzichten entweder auf den Konsum oder besorgen sich die Dinge am Tankstellenshop. Den Detaillisten ist damit nicht geholfen.

Bürgstein: Mir scheinen aus wirtschaftlicher und ethischer Perspektive eher die Argumente des Schweizer Detaillistenverbands nachvollziehbar. Profitieren würden vor allem die grösseren Anbieter, die eben die Miete für die Verkaufsflächen und die zusätzlichen Personalkosten tragen können.

Die Vorlage hat eine «liberale» Seite, weil sie die Freiheit der Konsumierenden erhöht zu entscheiden, wann und wo sie einkaufen wollen – und eine «illiberale», weil sie in der Tendenz mithilft, den «unterbruchslosen Wirtschaftsprozess zum globalisierten Sachzwang» zu machen (Peter Ulrich, in: NZZ, 18.6.2005). Bürger und Bürgerinnen sind Konsumierende und Arbeitende. Was überwiegt?

Bürgstein: «Freiheit» braucht einen Rahmen, sonst landen wir dort, wo das Gesetz des Stärkeren das Sagen hat. Der bestehende Rahmen, das mit Ausnahmen versehene Verbot der Sonntagsarbeit, bietet für den weitaus grösseren Teil der Bevölkerung heute noch einen Freiraum, etwas zu tun, wozu man unter der Woche keine Gelegenheit hat. Diesen Raum für Freiheit und eigene Lebensgestaltung jenseits von Konsum und Kommerz gilt es zu erhalten.

Leuthard: Man kann doch in diesem Zusammenhang nicht davon sprechen, dass ein weiterer Schritt in Richtung «unterbruchsloser Wirtschaftsprozess» gemacht werde! Nochmals: Es geht bei dieser Vorlage nur um Läden in Zentren des öffentlichen Verkehrs, in denen ja schon heute keine Sonntagsruhe herrscht. Zudem werden auch keine Arbeitnehmer unter Druck gesetzt. Sie müssen ihr Einverständnis zur Sonntagsarbeit geben. Übrigens stellen wir fest, dass heute die Nachfrage nach Sonntagsarbeit viel grösser ist als das Angebot.

Bürgstein: Natürlich gibt es Leute, die gerne am Sonntag arbeiten möchten. Für den grösseren Teil aber – wir reden hier zunächst hauptsächlich vom Service- und Verkaufspersonal – dürfte es kaum ein Ausdruck des freien Willens sein, wenn der Sonntag als gemeinsamer Familien- und Erholungstag vermehrt verloren geht.

Auf dem Referendumsbogen, also von den Gewerkschaften, wurde argumentiert, Sonntagsarbeit sei «familienfeindlich». Jetzt hat sich aber vor allen anderen die CVP die Familienpolitik auf die Fahnen geschrieben. Ein Widerspruch?

Bürgstein: Ich teile hier die Einschätzung der Gewerkschaften, die sich in diesem Punkt mit der Stellungnahme der beiden Landeskirchen deckt. Diesen Widerspruch muss Frau Leuthard auflösen.

Leuthard: Tatsächlich ist der Zusammenhalt der Familien für eine Gesellschaft enorm wichtig, und es stimmt, dass er in den vergangenen Jahren durch neue Familienstrukturen, Scheidungen und individuelle Freizeitgestaltung da und dort labil geworden ist. Daher setzt sich die CVP ein für eine bessere Unterstützung und Anerkennung der familiären Arbeit, die Eltern leisten. Mit der Möglichkeit, dass an den grössten Bahnhöfen Läden offen sind, kann dieser Zusammenhalt aber wohl weder gefördert noch beeinträchtigt werden. Wichtig ist vielmehr, dass Familien die Gemeinschaft pflegen, sich Zeit nehmen füreinander und das möglichst täglich, soweit und sooft sich dazu Gelegenheit bietet. Zum anderen: In zahlreichen Familien reicht ein Einkommen nicht mehr aus. Viele Frauen sind gezwungen, zum Erwerb beizutragen. Teilzeitstellen bieten sich ihnen oft im Verkauf oder in den Spitälern. Hier gibt es spezielle Arbeitszeiten am Abend oder am Wochenende. Dies hat für viele den doppelten Vorteil, dass diese Zeiten besser bezahlt sind und sich die Kinderbetreuung durch den Ehegatten ohne weitere Kosten organisieren lässt.

Herr Bürgstein, sind diese gesellschaftspolitischen Veränderungen nicht unbestreitbar? Muss man so gesehen die Revision des Arbeitsgesetzes nicht annehmen?

Bürgstein: Warum sollte man Dinge, die sich bewährt haben bis in die heutige Zeit, vorschnell preisgeben? In diesem Sinne ist die Ablehnung der Vorlage nicht falsch, sondern geboten! Es geht nicht darum, den Lauf der Dinge aufhalten zu wollen, sondern ein Mass zu finden, das uns Menschen zuträglich ist. Der arbeitsfreie Sonntag steht für einen bewährten Rhythmus von Arbeit und Freizeit, und jede und jeder, der unbedingt am Sonntag über die bestehenden legalen Möglichkeiten hinaus einkaufen möchte, kann dies bereits heute im Internet tun und bekommt die Dinge sogar noch ins Haus geliefert.

Frau Leuthard, sowohl aus den beiden Testamenten der Bibel als auch aus der Stellungnahme der beiden Landeskirchen lässt sich die Aufforderung zur Respektierung des Sonntags herauslesen. Müsste so gesehen die ‘C’VP die Revision des Arbeitsgesetzes nicht ablehnen?

Leuthard: Das Sonntagsgebot war ja nicht primär ein kultisches, sondern ein sozialethisches Gebot. Zur Zeit der Festschreibung des Dekalogs ging es darum, allen einen freien Tag zu sichern, was damals nicht üblich war. Dieses Grundanliegen ist heute gesichert, denn wer Sonntagsarbeit leistet, dem muss in der folgenden Woche Freizeit zugestanden werden. Wir sollten die Realität dieser Gesellschaft wahrnehmen, die nicht mehr ausschliesslich an einer christlichen Lebensform festhält.  Es gilt, eine Güterabwägung zu treffen. Wollen wir den Verkauf in Zentren des öffentlichen Verkehrs verbieten und damit den Individualverkehr unterstützen, der durch die stärkere Frequentierung der Tankstellenshops entsteht? Wer konsequent für einen arbeitsfreien Sonntag kämpfen will, müsste eine Initiative starten für ein totales Mobilitätsverbot und die gänzliche Einstellung der Sonntagsarbeit. Dies wäre völlig weltfremd und auch untolerant gegenüber Andersgläubigen oder Nichtgläubigen. Insofern ist der Kampf gegen diese Revision des Arbeitsgesetzes mit biblischen Argumenten doch etwas pharisäerhaft. – Um es nochmals klar zu sagen: Die CVP ist weiterhin dafür, dass dort, wo heute Sonntagsruhe herrscht, diese auch bewahrt werden soll. Denn wir glauben, dass dies für die Menschen gut ist. Aber zur Ruhe zwingen wollen und können wir niemanden.

[1] Aus terminlichen Gründen wurde dieser Wortwechsel schriftlich, per E-Mail, geführt. Dabei legte das «pfarrblatt» Doris Leuthard und Wolfgang Bürgstein die gleichlautenden Fragen vor. Die von Lerch besorgte Montage der Antworten wurde von beiden gleichermassen autorisiert.

 

[WOZ, Nr. 44, 3.11.2005]

Auch sonntags neuer Käse

Bei der Revision der Arbeitsgesetzes geht es um das Recht auf gedankenloses Shoppen für die einen und mies bezahlte Sonntagsarbeit für die anderen. Vor allem aber geht es um ein neoliberales Dogma.

Am 27. November kommt das revidierte Arbeitsgesetz zur Abstimmung, weil der Schweizerische Gewerkschaftsbund und die christliche Gewerkschaftsdachorganisation Travail Suisse das Referendum ergriffen haben gegen den neuen Artikel 27, Absatz 1ter: «In Verkaufsstellen und Dienstleistungsbetrieben in Bahnhöfen, die aufgrund des grossen Reiseverkehrs Zentren des öffentlichen Verkehrs sind, sowie in Flughäfen dürfen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sonntags beschäftigt werden.» Das bedeutet: Alle Geschäfte mit einem «funktionalen Bezug» zu den grössten 25 Bahnhöfen und den beiden grossen Flughäfen in Zürich und Genf sollen ihre Angestellten zu regelmässiger Sonntagsarbeit aufbieten dürfen. Auf Antrag der Kantone können zusätzlich Bahnhöfe mit grösserer regionaler Bedeutung in die entsprechende Liste aufgenommen werden.

Verwirrspiel um den Status quo

Die CVP-Präsidentin Doris Leuthard plädiert für ein «Ja» zur Vorlage, um «so den Status quo zu sichern» («pfarrblatt», 22.10.2005). Unia-Geschäftsleitungsmitglied André Daguet sagte am 30. September an einer Medienkonferenz: «Wer Nein stimmt, stimmt Nein zu mehr Sonntagsarbeit und für den Status quo.» Was stimmt?

Leuthard stützt sich auf ein Papier der «SBB Immobilien». Aus der parteiischen Sicht des Vermieters hat diese Firma die «Konsequenzen eines ‘Neins’» für ihre Geschäftsräumlichkeiten untersuchen lassen. Ergebnis: In den 25 grössten Bahnhöfen des Landes müssten insgesamt 116 Geschäfte geschlossen werden.

Der Schweizerische Gewerkschaftsbund (SGB) hat das SBB-Papier analysiert, das nun im Abstimmungskampf ein Verwirrspiel um die Interessen der Angestellten ermöglicht (Leuthard zum Beispiel behauptet im «pfarrblatt»: «Wir wollen die Schliessung von etwa 150 Geschäften und die Streichung von deren Arbeitsplätzen verhindern»). Der SGB kommt  zu folgendem Ergebnis: «Das Bundesgericht hat in seinen Urteilen wiederholt präzisiert, dass der Begriff ‘spezifische Bedürfnisse’ weit zu verstehen und kein absoluter und unumstösslicher Wert ist.» Und: «Die Anzahl der sonntags zu schliessenden Geschäfte ist masslos übertrieben», einerseits, weil ein Teil der mitgerechneten Geschäfte bereits heute am Sonntag geschlossen sei, andererseits weil das SBB-Papier verkenne, «dass wegen neuen Konsumbedürfnissen und Sortimentsanpassungen die kantonalen Arbeitsämter weiterhin die Sonntagsarbeit bei den bestehenden Bahnhofsgeschäften weitgehend akzeptieren werden». Daraus schliesst der SGB: «Der Status quo ist mit einem ‘Nein’ nicht gefährdet.»

Der Gewerkschafter Daguet vertritt deshalb umgekehrt die Haltung, dass das Ja «die völlige Liberalisierung der Sonntagsarbeit» zu Folge habe, wobei die Bahnhöfe lediglich als «Eisbrecher» dienten. Und zwar so: «Wenn immer mehr Geschäfte sonntags geöffnet haben, braucht es mehr Transporte, und es muss bei der heutigen Just-in-Time-Fertigung auch sonntags produziert werden. Und wenn am Sonntag alle Geschäfte offen haben, warum dann nicht die Banken? Die Versicherungen? Die Reisebüros? Und all die arbeitenden Mütter brauchen offene Kindergärten und -horte.» («Work», 17/2005)

Wirft man einen Blick auf die Vorgeschichte der Vorlage, ist das Argument von der bürgerlichen Salamitaktik tatsächlich naheliegend.

Salamischeibe um Salamischeibe

• Mit einer parlamentarischen Initiative fordert der FDP-Nationalrat Rolf Hegetschwiler 2002, im Eisenbahngesetz (EBG) sei einzufügen, dass «Nebenbetriebe an Bahnhöfen, welche als Zentren des öffentlichen Verkehrs gelten, berechtigt» seien, «an allen Wochentagen Personal zu beschäftigen». Das Parlament unterstützt die Forderung, beschliesst aber, sie nicht im EBG, sondern im Artikel 27 des Arbeitsgesetzes (ArG) festzuschreiben. Damit wird der Geltungsbereich der Bestimmung von den Bahnhofsarealen auf das ganze Land ausgedehnt.

• In der bundesrätlichen Botschaft zur Vorlage heisst es dann, «die Definition der Läden, die in grossen Bahnhöfen sonntags Personal ohne Bewilligung beschäftigen können», werde «nur noch von der Lage der Läden abhängig gemacht und nicht mehr vom Bedürfnis der Reisenden und des damit zusammenhängenden Waren- und Dienstleistungsangebots.» Die Kundschaft soll also über die Reisenden hinaus erweitert werden und diese soll sonntags neben dem Joghurt auch gleich das Geschirr, den Kühlschrank und das dazu passende Einfamilienhaus einkaufen können.

• Zudem weist der Bundesrat in seiner Botschaft darauf hin, «dass es unbeachtlich ist, ob sich die Waren- und Dienstleistungsbetriebe auf dem Bahnareal befinden. Massgebend ist wie bereits heute ihr funktionaler Bezug zum Bahnhof.» Daguets auf Zürich bezogener Kommentar dazu: «Das kann je nach Interpretation gut und gern die halbe Bahnhofstrasse sein.»

• Ende August 2004 reicht die ständerätliche Kommission für Wirtschaft und Abgaben (WAK) bei ihrem Rat eine Motion ein mit dem Titel «Erweiterung der Beschäftigungsmöglichkeit am Sonntag». Darin wird der Bundesrat beauftragt, «eine gesetzliche Grundlage vorzulegen, welche im Rahmen der kantonalen Gesetzgebung über die Öffnungszeiten von Detailhandels- und Dienstleistungsbetrieben die Beschäftigung von Arbeitnehmenden am Sonntag ermöglicht und den Schutz dieser Arbeitnehmenden regelt.» Aber genau diese kantonalen Gesetze zur Gewerbebeschränkung werden zurzeit demontiert: Baselland, Zürich und der Aargau haben ihre Ladenschlussvorschiften bereits abgeschafft, die Berner Regierung hat die Abschaffung eben letzte Woche zur Diskussion gestellt mit dem Argument, das nationale Arbeitsrecht regle die Nacht- und Sonntagsarbeit «ausreichend».

• Laut vertraulichem Protokoll hat die ständerätliche WAK bei der Beratung ihrer Motion Klartext geredet: Weil in der Tat offensichtlich ist, dass mit dem Ja am 27. November zwischen Geschäften mit funktionalem Bezug zum Bahnhof und Geschäften ohne diesen Bezug eine wettbewerbsverzerrende Rechtsungleichkeit geschaffen wird, müsse deren Beseitigung «längerfristig das Ziel sein, denn es kann nicht sein, dass die Bahnhöfe ein Areal mit Sonderrechten bleiben», ist zum Beispiel argumentiert worden (siehe «SonntagsBlick», 23.10.2005). Der Vorstoss bezweckt deshalb die Abschaffung dieser «Sonderrechte». Der Ständerat hat die Motion noch in der Herbstsession 2004 gutgeheissen, die nationalrätliche WAK hat sie mit 14 zu 10 Stimmen zur Annahme empfohlen (unter anderem mit der Stimme von Doris Leuthard, die im «pfarrblatt» zur Abstimmungsvorlage verspricht: «Alle darüber hinaus gehenden Vorhaben wird die CVP ablehnen»), der Nationalrat schliesslich hat die Beratung des Geschäfts auf einen Antrag der FDP hin bis nach der Abstimmung verschoben. Kommt das Ja durch, soll es mit dem Instrument dieser Motion ausgehebelt und der Sonntag so generell zum Werktag gemacht werden.

Zeitpolitik gegen Sonntagsarbeit

Die Abstimmung zu gewinnen, sei nicht einfach, sagt der Unia-Sprecher Nico Lutz: «Wenn die Öffentlichkeit davon ausgeht, dass sie über eine Liberalisierung der Ladenöffnungszeiten abstimmt, haben wir schlechte Karten. Aber wenn die Leute begreifen, dass es um die Einführung von mehr Sonntagsarbeit geht, dann schon.»

Aber ist der Sonntag nicht einfach ein alter Zopf und für die Flexibilisierten aller Couleur eine günstige Zeit, um einzukaufen und zu arbeiten? Abgesehen davon, dass generalisierte Sonntagsarbeit die Streichung des Lohnzuschlags von fünfzig Prozent für «vorübergehende Sonntagsarbeit» (ArG, Art. 19,3) zur Folge haben wird: Die Sonntagsruhe, die mit dem Ruhen des Gottes der jüdisch-christlichen Schöpfungsgeschichte korrespondiert, ist nicht nur ein zentrales sozialethisches Gebot dieser Kulturen. «Der arbeitsfreie Sonntag», sagt SGB-Präsident Paul Rechsteiner, «ist wohl die älteste Institution des Arbeitnehmerschutzes überhaupt». Wenn der Sonntag zum Werktag werde, so habe das «unabsehbare Folgen nicht nur für das Familienleben, sondern für das gesellschaftliche Leben überhaupt». Den arbeitsfreien Sonntag zu verteidigen, darauf weist der Wirtschaftsethiker Peter Ulrich hin, ist deshalb ein «zeitpolitisches» Postulat: «Ohne gesellschaftliche Zeitpolitik würde der unterbruchlose Wirtschaftsprozess rasch einmal zum globalisierten Sachzwang.» (NZZ, 18.6.2005)

Am 27. November geht es deshalb nicht nur um flexibleres Einkaufen in den grossen Bahnhöfen oder um mehr Sonntagsarbeit zu schlechter werdenden Bedingungen. Es geht um das neoliberale Dogma, dass alles andere als siebenmal 24 Stunden Produktion und Konsumation Effizienz- und Geschäftseinbussen bedeute. Und es geht vor allem um die Kosten, die die Umsetzung dieses Dogmas verursachen werden durch Vereinzelung, zerschlissene Familienstrukturen, Zerrüttung des gesellschaftlichen Lebens – kurzum: durch die mutwillige Zerstörung des verbliebenen sozialen Kitts in der Gesellschaft. Diese trotz realisiertem neoliberalem Dogma notdürftig zusammenzuhalten, wird nicht gratis sein. Zur Kasse bitten wird der Staat dann in erster Linie die sich hierzulande nicht selten linksliberal dünkende Mittelklasse, die es sich leisten können will, sonntags statt zu arbeiten mit dem Auto in die «Rail Citys» shoppen zu gehen.

Vgl. zum Thema der Sonntagsarbeit auch das Gespräch mit dem Pfarrer und Schriftsteller Kurt Marti, «Gute Argumente gegen Sonntagsarbeit», geführt ein Jahr zuvor anlässlich der Lancierung des gewerkschaftlichen Referendums. – In der eidgenössischen Volksabstimmung vom 27. November 2005 ist die Vorlage «Arbeitsgesetz (Sonntagsarbeit in Zentren des öffentlichen Verkehrs)» mit 50,6 Prozent der Stimmen angenommen worden.

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