Wer redet schon über Aktien?

«Die leben in einer andern Höhe als wir», charakterisierte ein ungelernter Arbeiter jene, die über Aktien reden, im Gespräch mit dem Zürcher Soziologe Dieter Karrer. Knapp zwanzig im Grossraum Zürich geführte Gespräche bildeten für diesen die empirische Grundlage für seine Dissertation «Die Last des Unterschieds», die er 1996 eingereicht hat und nun in einer zweiten, vollständig überarbeiteten Auflage vorliegt.

Ausgangspunkt der Arbeit bildet die Frage, wie sich der Individualisierungsschub seit dem Zweiten Weltkrieg einerseits auf ungelernte und gelernte ArbeiterInnen, andererseits auf Büroangestellte ausgewirkt hat. Durchgeführt wird die Untersuchung mit dem analytischen soziologischen Instrumentarium der «feinen Unterschiede» von Pierre Bourdieu und in Auseinandersetzung mit der Individualisierungstheorie von Ulrich Beck, dem «Doktorvater». In zwei- bis fünfstündigen Gesprächen erfragte Karrer Hinweise auf die Biographie, die alltägliche Lebensführung und den so genannten «Habitus» – also auf das System dauerhafter Dispositionen, die das Denken und Handeln der Einzelnen determinieren.

Eine der Schlussfolgerungen der Arbeit lautet: Wer über das geringste «ökonomische und kulturelle Kapital» verfügt, nimmt das Leben am stärksten «als durch Geburt zugewiesen» wahr: «Statt ‘eigenes Leben’ und ‘Selbstverwirklichung’ steht hier die existentielle Angewiesenheit auf andere im Vordergrund und die realistische Einsicht, dass man sein Leben nur bewältigen kann, wenn man nicht auf sich allein gestellt ist.» Gleichzeitig erfahren diese Leute das «bürgerliche Milieu» mit «Gefühlen von Unterlegenheit » und als «kulturelle Distanz», die sich «durch nichts mehr verrät als die Sprache». Warum soll man über Aktien reden lernen, wenn man nie welche haben wird?

Karrers Studie zeigt mit grosser Tiefenschärfe Denk- und Handlungsmotive jener Menschen, die die Arbeiterkultur vor dem «Individualisierungsschub» mit Bildungs- und Informationsangeboten und einem reichen Vereinsleben einzubinden vermochte. Wenn die SP-ModernisiererInnen heute «Mittelstand» sagen, meinen sie damit in erster Linie, dass mit diesen Menschen keine SP-Politik mehr zu machen sei und man sie deshalb dem politischen Gegner endgültig als Stimmvieh überlassen könne.

Dieter Karrer: Die Last des Unterschieds. Biographie, Lebensführung und Habitus von Arbeitern und Angestellten im Vergleich. Wiesbaden (Westdeutscher Verlag GmbH) 2000, 341 Seiten.

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