Der Mann, der nicht arbeiten darf

Im Hauptbahnhof Zürich sind zurzeit die letzten hundert Meter der Geleise 12 und 13 mit Puffern gesperrt. Hier befindet eine der Baustellen des unterirdischen Durchgangsbahnhofs Löwenstrasse, dem Herzstück der neuen direkten Verbindung zwischen Altstetten und Oerlikon, der so genannten «Durchmesserlinie». Es ist früher Nachmittag, und es ist heiss. Die Arbeiter tragen Warn- und Schutzausrüstung, ganz in Orange. Nur einer trägt einen weissen Helm. Das ist der «Siwä», der Sicherheitswärter. Ein Mann mit kräftigem Handschlag und klarem Blick. Er heisst Arnold Kropf und sagt: «Ich bin der Noldi.»

Züge können nicht ausweichen

Gibt es einen Beruf, in dem Arbeit untersagt ist? Ja. Im Reglement 20.100 bestimmt das Bundesamt für Verkehr für Sicherheitswärter und -wärterinnen: «Mit Ausnahme der Bedienung der Kommunikationsmittel sowie der Warnanlage ist ihm/ihr jede andere Arbeit untersagt.» Gefordert wird die ungeteilte Konzentration, weil jeder Fehler tödliche Folgen haben kann: «Siwä» haben «für den Schutz des Personals bei Arbeiten in und neben den Geleisen zu sorgen».

Noldi Kropf ist Sicherheitswärter und Sicherheitschef. Als ersterer sorgt für den Schutz, als letzterer für die Durchführung der Sicherheitsmassnahmen. Kommt er als Sicherheitschef auf eine neue Baustelle, instruiert er die Arbeiter zuerst über die geltenden Sicherheitsregeln. Dazu verteilt er die Broschüre «Ich schütze mich!» – sie liegt in acht Sprachen vor – und lässt die Arbeiter per Unterschrift bestätigen, dass sie das Gesagte verstanden haben und die Regeln einhalten wollen.

Wird an befahrenen Geleisen gearbeitet, warnen die Siwä mit Hornsignalen vor herannahenden Zügen. An unübersichtlichen Stellen auf offener Strecke unterstützt ein Vorwarner die Arbeit, der hinter der nächsten Kurve steht und per Funk den Zug ankündigt. «Siwä und Arbeiter grüssen dann den Lokführer mit einem Handzeichen, das besagt: Wir sehen dich und passen auf. Denn Züge können nicht ausweichen.» Hält sich ein Arbeiter nicht an die Vorschriften, dann gebe es nur eines: «Du musst dich durchsetzen, auch wenn es nur um die obligatorische Schutzausrüstung geht.» Als Autorität aufzutreten sei für ihn als 52jährigen freilich einfacher als für die jungen Kolleginnen und Kollegen.

Sicherheitswärter werden ausschliesslich von privaten Geleisebaufirmen angestellt und bei Bedarf an die SBB für ihre Baustellen ausgeliehen Leider sei, sagt Kropf, das Sicherheitsverhalten der SBB-Angestellten selber, die tagtäglich im Gleisbereich arbeiten, «oft nicht gerade vorbildlich»: Die Routine und das Gefühl, es sei ja noch nie etwas passiert, sei eine Gefahr für die Sicherheitskultur. Gerade letzthin habe ein junger SBB-Zugbegeiter die Missachtung einer Vorschrift mit dem Leben bezahlt: «In der Nähe von Winterthur wollte er noch schnell auf einen anfahrenden Flachwagen aufspringen. Er ist gestolpert und unter die Räder gekommen.»

Fahrleitungen mit 16000 Volt Spannung

Die grösste Gefahr im Zürcher Hauptbahnhof sind die Fahrleitungen: «16000 Volt – keine Chance, wenn’s dich trifft», sagt Kropf. «Vor Jahren hat es hier im Geleisefeld einen Unfall gegeben. Ein polnischer Stahlbauer wollte verbotenerweise von der Dienstbrücke herunter etwas messen. Er benutzte ein Rollmessband aus Stahl und berührte damit eine Fahrleitung. Er erlitt schwere Verbrennungen an Händen und Füssen und war zwei Jahre lang arbeitsunfähig: «Überlebt hat er, weil das Messband schmolz und so der Stromfluss schnell unterbrochen worden ist.»

Viele Arbeiten im Geleisebereich können nur nachts ausgeführt werden, weil dazu laut Sicherheitsmassnahmen die Geleise gesperrt und die Fahrleitungen ausgeschaltet werden müssen. «In diesem Fall rufe ich abends vor Arbeitsbeginn das Zentralstellwerk an, das die entsprechenden Geleise sperrt. Ist die Sperrung bestätigt, rufe ich die Kreisleitstelle an, die im entsprechenden Abschnitt den Strom ausschaltet.» Danach kontrolliert Kropf die Fahrleitung mit der Prüfstange. Fliesst kein Strom mehr, erklingt ein bestimmtes akustisches Signal. Nun sichert er die Fahrleitung auch noch mit einer Erdungsstange. Erst danach gibt er die Baustelle frei.

Kropf wünscht, in der Zeitung «ein grosses Kompliment und Dankeschön» anbringen zu können, und zwar «an alle Baumitarbeiter im Hauptbahnhof Zürich für ihre professionelle, disziplinierte Arbeit und ihr vorbildliches Sicherheitsverhalten». Dank ihnen sei man hier in den letzten zehn Jahren, unter zum Teil schwierigen Arbeitsbedingungen, von schweren oder gar tödlichen Unfällen verschont geblieben.

 

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Der Vielseitige

Noldi Kropf (* 1960) ist in Muri-Gümligen (BE) aufgewachsen und sagt: «Mich kann man fast überall brauchen.» Gelernt hat er Mechaniker. Nach der Rêkreutenschule begann er befristet als Panzertestfahrer für die Armee. Danach: Lagerist, Betriebsmechaniker, Hausmeister-Stellvertreter bei der SBB-Generaldirektion in Bern, Aussendienstler für Büro- und Werkstatteinrichtungen, danach zehn Jahre lang Vertreter für Versicherungen und für eine Krankenkasse.

Mit vierzig macht er die Schule, das Praktikum und die verschiedenen Prüfungen zum Sicherheitswärter, später absolviert er zusätzlich die Ausbildung zum Sicherheitschef. Angestellt war er bei verschiedenen Firmen, seit Anfang 2009 ist er bei der Gleisag AG in Goldach (SG). Gearbeitet hat er aber seit 2002 immer im Hauptbahnhof Zürich, und immer auch als Koordinator der Sicherheitswärter.

Der Lohn der Siwä liegt zwischen 5000 und 6000 Franken brutto im Monat. Kropf ist Unia-Mitglied. Er lebt als Single in einem umgebauten Bauernhaus in Liebensberg (ZH). Dorf findet er die Stille, die er zur Erholung braucht. Er fährt Mountainbike und ab und zu gern im selbstgebauten Renncockpit auf der Playstation Rennen gegen Online-Gegner.

Aktuell

Zum Projekt

 

Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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