«Die Oper spricht italienisch»

Carmela Frasci-Simonato schiebt ein Blatt Papier über den Tisch, das mit «Lebenslauf» überschrieben ist. Stichworte zum Leben einer Lehrerin mit 22 Jahren Berufserfahrung. Stichworte zum Leben einer Frau, die heute im Opernhaus Zürich für 17 Franken 50 in der Stunde Gäste zu ihren Logenplätzen führt, von denen jeder um die 250 Franken kostet, mehr als zur Hälfte subventioniert von jenen, die Steuern bezahlen. Zum Beispiel von ihr.

Für das Gespräch hat sie sich vorbereitet mit handschriftlichen Notizen, zum Teil auf italienisch, zum Teil auf deutsch. «Als Migrantin bin ich ein halbierter Mensch», sagt sie.

Von der Lehrerin zur Hilfskraft

Ohrenschmaus fürs gehobene Ohr: zurzeit zum Beispiel «Die Entführung aus dem Serail» von Mozart oder «La Bohème» von Puccini. Unter der Woche beginnt für Carmela Frasci-Simonato die Arbeit um 18 Uhr, am Sonntag um 13 Uhr, weil’s dann zwei Vorstellungen gibt. Aus ihrem Pflichtenheft: Logen vorbereiten, Stühle richten, Billettkontrolle, Begleitung der Gäste zu den Plätzen, ihre Betreuung während der Aufführung, Brandschutzprävention, während der Pause Getränkeservice, Kontrolle der Logen nach der Vorstellung.

Sie hat nicht nur distinguierte Gäste. Schwierig sind die unanständigen, nicht selten Betrunkene, die sich zum Beispiel weigern, ihre Mäntel an der Garderobe abzugeben, obschon das aus feuerpolizeilichen Gründen obligatorisch ist. Frasci-Simonato erklärt: «Brennende Textilien können extrem gefährlich sein.» Trotz allem arbeitet sie gern hier: «Die Oper spricht italienisch, wie man sagt, hier bleibe ich mit meiner Kultur verbunden.»

Carmela Frasci-Simonato war nicht immer Platzanweiserin. Sie hat im Kanton Zürich 22 Jahre lang als Lehrerin gearbeitet, bevor sie diesen Beruf verlor, weil sie das falsche Lehrerinnendiplom hatte. Damals fiel sie in ein Loch, kämpfte mit Burnoutbeschwerden, schluckte Medikamente, brauchte eine Psychotherapie: «Mit der Arbeit verlor ich mein soziales Netz. Plötzlich war ich niemand mehr.»

Sie begann, als Bürohilfe zu arbeiten. Ein Arbeitszeugnis attestiert ihr, «eine sehr pflichtbewusste und zuverlässige Mitarbeiterin» zu sein – zum Beispiel beim «Servieren von Getränken und Imbissen anlässlich Sitzungen», bei «Botengängen» oder bei der «Betreuung der Grünpflanzen in allen Büroräumen».

Ist die Schweiz eine richtige Demokratie?

Als Migrantin lebe sie in der Schweiz «wie im Limbus», sagt Carmela Frasci-Simonato, also – nach katholischem Glauben – in der Vorhölle für jene Seelen, die ohne eigenes Verschulden vom Himmel ausgeschlossen sind. Sie legt die Kopie eines Plakats gegen Grenzgänger auf den Tisch, mit dem die rechtsnationale Lega die Ticinesi vor kurzem das Tessin vollgepflastert hat: Unter dem Titel «Bala i Ratt» («Die Ratten tanzen») werden Ratten gezeigt – eine davon unverkennbar mit dem Helm und den Überkleidern eines Bauarbeiters –, die sich an einem Schweizer Käse gütlich tun.

Carmela Frasci-Simonato sagt: «Solche Kampagnen sind verletzend und verzögern bloss den Integrationsprozess.» Man solle doch nicht so nun, als sei die Schweiz kein Einwanderungsland. Und als würden Migrantinnen, Grenzgänger und Sans-Papiers nicht existiereb: «Sie könnten mithelfen, als ‘human resource’ das Land besser zu machen. Aber zuerst brauchen sie gleiche Rechte und Pflichten, damit sie sich wirklich integrieren können.» Dass sie hier seit vierzig Jahren Steuern zahlt, ohne stimmen oder wählen zu können, ärgert sie. «Die Demokratie der Schweiz ist keine richtige Demokratie. Anderthalb Millionen Menschen im Land haben nichts zu sagen, sie dürfen bloss mithelfen, das Land reicher machen. Es gibt hier keinen Ausgleich von Geben und Nehmen.»

Integration kann nicht Selbstvergessenheit sein

Es sei zurzeit Mode, dass man in der Politik von den Migranten und Migrantinnen stärkere Integrationsbemühungen verlange. «Aber was haben wir in all den Jahren für unsere Integrationsbemühungen erhalten?» Zudem rede man nun statt über gleiche Rechte und Pflichten darüber, dass Menschen, die in der Schweiz leben, ihre Sprache, ihre Kultur und ihren Glauben verleugnen sollen: «Genau darum war die Minarett-Initiative ein Skandal.» Der sizilianische Dichter Ignazio Buttitta habe recht: Menschen, die ihre Sprache aufgeben oder aufgeben müssen, verlieren ihre Seelen. «Integration kann doch nicht heissen, dass man vergessen muss, wer man ist.»

Carmela Frasci-Simonato kennt die Kräfteverhältnisse in der schweizerischen Migrationspolitik: Schnelle Fortschritte sind nicht möglich. Aber sie sagt: «Ich bin eine kämpferische Frau und ich will auf der Seite der Schwachen bleiben, weil ich als Migrantin selber einmal fast untergegangen wäre.»

 

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Die Sianeserin

Die Schulen hat Carmela Frasci-Simonato (* 1953) in Siano östlich von Neapel besucht. Danach absolviert sie in Salerno das Lehrerinnenseminar. 1971 zieht sie zu ihren Eltern, die in Zürich arbeiten. 22 Jahre lang arbeitet sie danach als Lehrerin: Angestellt vom italienischen Konsulat erteilt sie Emigranten und Emigrantinnen im Kanton Zürich Kurse zu italienischer Sprache und Kultur. 1993 streicht das Konsulat dieses Angebot und bietet den Angestellten an, in Italien weiterzuarbeiten oder entlassen zu werden.

Frasci-Simonato bleibt in Zürich und findet keine Anstellung mehr, weil ihr Lehrerinnen-Diplom in der Schweiz nicht anerkannt wird. Sie wird Bürohilfe. 2003 meldet sie sich auf ein Inserat als Platzanweiserin im Opernhaus Zürich. Nach neun Jahren in diesem Beruf verdient sie 17.50 Franken netto pro Stunde: «Wäre ich nicht verheiratet und kinderlos, so wäre ich ein Sozialfall.»

Carmela Frasci-Simonato ist Unia-Mitglied und in der IG Migration aktiv. Sie lebt in Zürich. Als Kinoliebhaberin besucht sie gern mittags das «Lunch-Kino», weil sie abends gewöhnlich arbeitet.

Aktuell

Zum Projekt

 

Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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