Um vier Uhr kommt der Moser von der Polizei

«Lufttor» heisst das hier. Restaurant «Airgate», im Parterre dieses Hochhauses. Wir nehmen die Hagenholzstrasse, die hier die grosse, stadtauswärtsführende Thurgauerstrasse kreuzt, Richtung Schwamendingen. Rechts: Endlose Reihen parkierter Autos. ZÜRICH'S ERSTE DRIVE-IN OCCASIONS-SCHAU, RIESEN-AUSWAHL, GARANTIE, EINTAUSCH, KREDIT. Links: Das «Lufttor», Südansicht, davor der Schriftzug RANK XEROX als riesiges Plakat. Rechts: SRO-FAG WERK 2, Kugellager, davor ein schmales Fussballfeld, die Linien mit Sägemehl gezogen, die jetzt, im Regen, dunkelgelb versickern. Auf den Trottoirs beidseitig: kahle Platanen. Links ein weiteres Parkfeld, weitgehend besetzt. Rechts: STEINER METALLBAU, zuerst ein riesiger blauer Klotz mit weissen reflektierenden Fenstern, dann, langgestreckt, zum Teil hinter Maschenzaun mit nach innen abgewinkelter Stacheldrahtzinne die Fabrikgebäude: Hier wird Holz und Aluminium zu Fenstern und Möbeln verarbeitet. Links: VBZ Busgarage. Jetzt in langer Reihe dem Trottoir entlang abgestellt Wohnwagen ohne Nummernschilder. Rechts: AG HUNZIKER + CIE BAUSTOFF-FABRIKEN, hinter Maschenzaun ein langgezogenes Betonröhrenlager. Auf zwei Schienen schwebt langsam ein blauer Kran darüber hin, ein Arbeiter im gelben Regenüberwurf führt mit einer Hand das an Stahlseilen weggehobene Röhrenteil. Links: TV FINLUX, HAGMANN ELECTRONIC AG, GUSTAV KÄSER AG MANAGEMENT U. VERKAUFSSCHULUNG, dann JAEGGI + HAFTER AG HOCH- UND TIEFBAU. Linksab: Hinweistafel POLETTI AG, BAUUNTERNEHMUNG, dann ein offenes Feld, dahinter die verregneten, klotzigen Bauten des Fernsehstudios Leutschenbach. Rechts: Nach dem Röhrenlager ein flacher, grosser Kiesplatz, eingezäunt, der nach hinten an Schrebergärten mit einem Gewirr von niederen Holzhäuschen stösst. Halbrechts, weiter vorne: die Kehrrichtverbrennungsanlage, breite, niedere Quader, dunkelnass, das Hochkamin ist in der oberen Hälfte weissrot gestrichen, hohe Ringe, dreimal rot, zweimal weiss, der Rauch steigt grau ins niedrige Regengewölk, Wind.  

Es ist kurz vor vier, als Gertrud Vogler, die Fotografin, und ich den Kiesplatz betreten. Die Wohnwagen, lang und niedrig, sind nach hinten aufgereiht. Vor einem der Wagen, unter einem aus rotem Zelttuch gespannten Regendach drängen sich Leute, stehen eng beieinander, Hände in den Hosentaschen, Krägen hochgeschlagen, einer mit triefendem Haar, nassfleckiger Wildlederjacke, in der Hand eine Bierflasche. Kaffee wird herumgereicht. Wir seien nicht die ersten von der Presse, umso besser, wenn viele kämen, sagt man uns. Und auf unsere Frage, ob sich etwas tue: Die müssten jeden Augenblick kommen, der Moser von der Polizei habe am Morgen am Telefon vier Uhr gesagt, und dass das mit diesem Platz an der Hagenholzstrasse für die Stadt sowieso nur ein befristeter Versuch gewesen sei. Er habe auch gesagt, das sei gegen die Abmachung gewesen, dass sie über den 8. April hinaus geblieben seien. Jetzt gebe es hier Parkplätze für die Zürcher Herbstmesse, die ZÜSPA, und ob der Platz im Herbst zum Überwintern wieder geöffnet werde, wisse er nicht, die Leute würden sich ja nicht an die Abmachungen halten. Ob er polizeilich werde räumen lassen, habe er nicht sagen wollen. Mittlerweile, pünktlich um vier, sind zwei Autos vorgefahren, haben ganz vorne an der Hagenholzstrasse parkiert, mehrere Herren sind ausgestiegen und, empfangen von den Wortführern der Fahrenden, in einem Wohnwagen verschwunden.

«Mir händ jetzt da zwölf, drizä Wohnwäge. Das cha jede säge, die müend ewägg sy, wett nid wäisch, wohii», sagt einer und eine Frau fährt fort: «Es isch e so: Mir hätted gern e Platz bis am vierezwänzigschte, da hämmer wider öppis. Aber do uf em Platz hett's no paar Familie, wo nid wüssed wohii.» Als dieser Platz im letzten Sommer eröffnet worden ist, sei es in der Zeitung noch als erster Zürcher Standplatz für Fahrende bezeichnet worden, nichts von Provisorium. Aber sofort habe es Leute gegeben, die sie hätten weghaben wollen. An einem Frühschoppen der Oerlikoner SVP habe einer gesagt, es sei den Polizisten nicht zuzumuten, sich «mit den letzten Dreck» herumschlagen zu müssen. Und ein anderer habe gesagt, man habe schon «Neger und Mestizen» im Quartier und jetzt noch die Zigeuner. Sie sollten sich entweder den Sitten anpassen oder an die Grenze gestellt werden. Und vor einem Monat sei ein Bericht der Quartiervereine im «Schwamendinger Boten» gewesen, man habe die Bedenken der von der Ansiedlung von Zigeunern betroffenen Anwohner aufgenommen und gegenüber dem Polizeivorstand der Stadt Zürich die Aufhebung dieses Provisoriums verlangt. da sei nun plötzlich die Rede gewesen von «Provisorium». Jetzt gehe es wohl wieder, wie im letzten Herbst, als sie von der Fahrweid draussen gekommen seien: «Dert hämmer müesse fahre. Si händ üs Zyt ggä bis am Mäntig, drum simmer uf Dietiken abe ufenes Fabrikareal yne. Verschtaasch, mir händ ja au gwüsst, dass mer nid inechönd uf das Areal, aber es isch kes Fahrverbot gsy und nüt – und gang du Knall uf Fall öppis go sueche. Si mer dert ane gfahre, Kären abghänkt, ufgschtipperet, s'Züg parat gmacht, chunnt so ne Knorrli, jo, do chönd er nid bliebe. Dasch em Abig am sibni gsy und mir händ Familie bi üs gha mit chline Gööfli. Nächär si mer uf dä Parkplatz gäge Birmensdorf ue, am Hoger obe, häi welle übernachte derte. Häi nid emal Kären abghänkt gha z'Nacht am halbi zwölfi, isch e Schtreife durechoo: ‘Abfahre do, do händ er nüt verlore.’ Aber mir sy du dert obe blibe bis am Morge. Nächär hämmer dänkt, chumm, mir gönd id Brunau abe, de chömmer de vo dert us go witterluege. Simmer abe, isch dr Herr Luchsinger cho vor Quartierschmier vo dr Brunau, dä het e grossi Schnöre gha mit ein zäme: ‘Abfahre do, i vierezwänzg Schtung wäi mer öich nüm do druff gseh!’ D’Frau Römer het denn gluegt mit em Herr Moser zäme, dass mer händ chönne under d’Öiropabrugg. Und das isch jetzt do genau z’Gliiche wi letsche Herbscht.»

Im roten Regendach hat sich über uns langsam eine Wassermulde gebildet. Jetzt stösst einer mit der Hand von unten an das Zeltdach. Ein Schwall Wasser fällt ins Kies und versickert schäumend. Der mit der Bierflasche und der nassfleckigen Wildlederjacke ist diskret weggeschickt worden: Der gehöre zu den Clochards, die Ende März von der Polizei vom Mattebrüggli an der Sihl zwangsweise hierher verfrachtet worden seien. Das sei eben nicht gut, wenn jetzt einer hier mit einer Bierflasche herumstehe, wenn Leute von der Presse hier seien, sonst steht mit Sicherheit in der Zeitung, alle Zigeuner würden saufen. Gertrud, die Fotografin, unterhält sich jetzt mit dem Fotografen vom «Blick», der vom «Tagi» geht im Regen hin und her auf der Suche nach einem Sujet. Die Verhandlungen im Wohnwagen dauern an. «Si lönd is ja üsi Fahrzüg au iilööse. Dr Schtaat nimmt ja s’Gäld au vo üs. Werum hed er de ke Platz für öis? Si händ Tschuttplätz, si händ da usse Plätz zum Schpeerwärfe, zum Armbruschtschiesse händs Platz, für d’Hünd händs Platz: Di ganz Allmänd händ si freigää für d’Hünd, zum Verschiisse. Es isch jo nid gsäit, wenn alli andere inere Wonig sind, dass mir müend noogiige. Es isch äifach emol üses Läbe. Mir wänd nid ine Wonig und mir gönd nid ine Wonig. Üs cha niemer vorschriibe, mir läbed i dr freie Schwiz.» Es gebe ja nun seit letztem Jahr diesen Bericht über die Fahrenden, die eine Studienkommission für das Justiz- und Polizeidepartement gemacht habe. Dort drin stehe in den Empfehlungen, es sei wünschenswert, dass in jedem Kanton mindestens ein Winterstandplatz und regional verteilte Durchgangsplätze eingerichtet würden. Im Sinne eines Modells könnte der Bund einzelne Plätze auf seinem Grund schaffen. Für die Gestaltung der Plätze sollten Fahrende beigezogen werden. Solche Sätze stünden in diesem Bericht.

Als sich die Wohnungstür endlich öffnet, regnet es immer noch. Die Herren von der Polizei verschwinden so diskret, wie sie gekommen sind, kein Kommentar zuhanden der Presse. Wir werden zu einem Kaffee in einen Wohnwagen eingeladen, und die beiden Wortführer der Fahrenden berichten über die Verhandlungen. Die Vertreter der Polizei hätten auch eingesehen, dass die Leute hier irgendwo sein müssten und hätten aufschiebende Wirkung bis zum 24. April gewährt und dann hätten, mindestens ein Teil der Leute, die jetzt hier seien, für vierzehn Tage einen Platz in Dübendorf. Ob die Polizisten sehr hart aufgetreten seien? «Mit dene Beamte, wo mir diräkt z’tue händ, hämmr äigetlich e guets Verheltnis, will, mir redet di gliich Schpraach. Nu, me muess halt säge, es sind Beamti, wo Ufträäg überchömet, si chönd nid sälber beschtimme, so wi si’s als Mänsche würdet mache», sagt Jürg Häfeli, der, als Sekretär der Interessengemeinschaft des fahrenden Volkes, der «Radgenossenschaft», zu den Verhandlungen angereist ist. Und Herr B., der für die Leute hier auf dem Platz verhandelt hat, erzählt: «Ich ha voredane em Moser gsäit: Vor drissg Johr, da simmer äifach i de Wälder umezoge, wo’s Platz gha hät. Hüt hämmer nüt anders als Betong. Aber: Für sis Volk händ si glueget und händ Gämpingplätz ggmacht, öis händ si d’Plätz gschtole. Aber es isch ne nid d’Sinn cho z’säge: Also, mir mached en Gämpingplatz für d’Mönschhäit und dene, wo äigetlech nid Mönsche sind wi mir, gämmer äifach zää oder zwänzig Prozänt drvoo.» Und zur Bestätigung holt ein Dritter einen Brief hervor, den ein Funktionär des TCS seinerzeit als Antwort auf eine Anfrage der «Radgenossenschaft» verfasste, ob Fahrende auf ihre Campingplätze dürften: «…doch möchten wir vorab feststellen, dass unsere TCS-Campingplätze im touristischen Sinne geschaffen wurden und somit die Aufnahme von fahrenden Sippen unmöglich ist. Wir vertreten die Ansicht, dass die Niederlassung von berufstätigen Sippen Sache der öffentlichen Hand ist und eine entsprechende Regelung verdient.» Ja, lacht nun ein vierter, gerade heute morgen habe der Moser am Telefon gesagt, die Fahrenden müssten halt mehr Eigeninitiative entwickeln und auch mal Private anfragen, ein Baugeschäft oder so, ob sie nicht für ein paar Tage Platz zur Verfügung stellen würden.

Später – wir haben für die Gastfreundschaft und den Kaffee gedankt und uns auf den Rückweg gemacht – schaue ich noch einmal zurück (Kehrichtverbrennungsanlage, verlassene Schrebergärten, Betonröhrenlager, Geschäftshäuser, drüben die Fernsehstudios) und frage mich, wo hier die «betroffenen Anwohner» sein könnten, von denen der «Schwammendinger Bote» berichtet hat. Und dann frage ich mich, was die ZÜSPA für sensationelle Ausstellungen plane, für die die Auto fahrenden Besucher einen fast viertelstündigen Anmarsch von hier draussen ins Messegelände ohne zu murren auf sich nehmen würden. Feiner Nieselregen.

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24. April 1984: Die Clochards sind weg. Denen sei versprochen worden, sie sollten verschwinden, bis die Zigeuner weg seien, dann könnten sie vielleicht zurückkehren, erzählt Herr B. Er ist mit seinen Leuten damit beschäftigt, die Fahrt nach Dübendorf vorzubereiten, wo sie ab morgen für vierzehn Tage Markt halten wollen. Wohin die Graubündner gehen, deren vier Wagen weiter drüben stehen, weiss B. nicht. Jetzt, an diesem schönen Frühlingstag, stehen die Sesshaften hinter dem Zaun scharenweise in ihren Schrebergärten und bebauen mit Hackeli und Rächeli die zwanzig Quadratmeter gemieteten Grundundbodens.

(Redaktionelle Bearbeitung: 1994.)

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