Ein Leben lang administrativ versorgt

 

I Die Erziehung zum Schwererziehbaren

Von seinen Eltern weiss Bruno Koller nur, dass sie ihm moralisch minderwertiges Erbgut mitgegeben haben sollen. Zu seinem Besten wurde er früh interniert. Weil er das nicht ertrug, versuchte er zu fliehen. Je häufiger er floh, desto härter wurde er erzogen. So wurde er zu dem, wofür ihn seine Erzieher von Anfang an gehalten hatten.

«Infolge vollständiger Mittellosigkeit und Verhaftung des Ehemannes sah sich Frau Koller genötigt, ihre beiden Kinder anfangs April der städt. Armenbehörde zur Versorgung zu übergeben. Der anderthalbjährige Bruno befindet sich seither im städt. Jugendheim, während das vier Monate alte Mädchen Frieda im Säuglings- und Mütterheim verpflegt wird. Beide Kinder werden hinfort auf Kosten der Armenbehörde auferzogen werden müssen.» Heute lebt Bruno Koller, knapp siebzigjährig, in einer Einzimmerwohnung in Le Landeron, im obersten Stock eines Geschäftsbaus. «Hier bin ich mehr als nur zufrieden», sagt er und schiebt die Schirmmütze über die weissen Haare zurück. «Hier habe ich meine eigenen vier Wände.» Die Küche ist blitzblank. Auf dem kleinen Küchentisch, an dem er aus seinem Leben erzählt, steht eine Schreibmaschine, daneben seine Zigaretten, ein Aschenbecher. Im Hintergrund das Buffet aus dem Bieler Brockenhaus und der grosse neue Fernseher mit Videogerät.

Zur Zeit gilt für ihn die Verfügung vom 3. Februar 1997 der Abteilung Straf- und Massnahmenvollzug des Kantons Bern: «Koller hat zum weiteren Vollzug der Massnahme der Verwahrung nach Art. 43 Ziff. 1 StGB im Massnahmenvollzugszentrum St. Johannsen bzw. im Wohnexternat in Le Landeron zu verbleiben.» Artikel 43, das sind die «Massnahmen an geistig Abnormen». Früher war’s Artikel 42, «Verwahrung von Gewohnheitsverbrechern». Und angefangen hat’s 1929 mit Artikel 311 des Zivilgesetzbuches: «Entzug der elterlichen Gewalt».

Abschied von der Familie

Von seinen Eltern kennt Koller nichts als die jahrzehntelange Aktenlitanei von der «schweren erblichen Belastung», die zu einer «angeborenen abnormen Artung seines Charakters» und zum «Defekt» einer «konstitutionell bedingten moralischen Minderwertigkeit» geführt habe. «Ich kann mich nur erinnern», sagt er, «dass sie mich geholt haben. Sie haben mich in eine Wolldecke getan, uniformierte Polizisten auf jeden Fall, in ein Auto und fort. Seither habe ich die Mutter nie mehr gesehen.»

In solchen Situationen werden Akten angelegt: Brunos Vater führe «ein arbeitsscheues Leben»; was er bei Gelegenheit erwerbe, verwende er hauptsächlich für Alkohol; neun Vorstrafen «wegen Skandals und Ärgernisses, Nachtlärms, Hausfriedensbruchs, Betrugs und liederlichen Lebenswandels». Im August 1929 wird er für ein Jahr in die Strafanstalt Witzwil versorgt; 1938, im Alter von 36 Jahren, ist er an Tuberkulose gestorben. Und die Mutter stehe ihrem Ehemann «inbezug auf lockere Lebensführung» nicht nach: Fünf Vorstrafen wegen Strichgangs, gewerbsmässiger Unzucht, Liederlichkeit und Betrugs. Nachforschungen ergeben: Kollers Mutter hat 1930 und 1931 ausserehelich zwei Töchter geboren, die zweite, Hedwig, zusammen mit deren Erzeuger getötet; wegen Mords hat sie wie dieser zwei Jahre Zuchthaus abgesessen und sich in dieser Zeit von Kollers Vater scheiden lassen. 1934 hat sie den anderen Mann geheiratet und in den folgenden zwölf Jahren von ihm weitere fünf Kinder geboren. 1977 ist sie gestorben. Dass Bruno Koller eine Schwester und sieben Halbgeschwister hat, von denen heute fünf noch leben, hat er im Rahmen dieser Recherche erfahren.

In Berns Jugendheim ist Koller nicht lange geblieben. «Als kleiner Bub kam ich ins Oberaargauische, zu einem Huf- und Wagenschmied namens Brand. Der hatte eigene Kinder, von denen hat aber nie eines in der Schmitte mitgearbeitet. Ich weiss nicht mehr, ob ich drei oder vier oder fünf war, als ich ein Cholechübeli erhielt, das so klein war, dass ich es tragen konnte. Damit musste ich aus dem Keller Kohlen herauftragen, damit Brand genügend Glut hatte, wenn er an der Esse arbeitete. Nach der Arbeit musste ich in mein Zimmer hinauf – ein Raum ausserhalb der Wohnung, mit Gittern an den Fenstern. Mit Brands Kindern bin ich wunderselten in Kontakt gekommen – etwa am Sonntag, wenn sie mich zum Mittagessen heruntergeholt haben. Während der Woche hat mir der Schmied das Essen aufs Zimmer gebracht. Mit seiner Frau hatte ich nie etwas zu tun.»

Diese Familie Brand gibt es auch in den Akten. Koller sei als anderthalbjähriger Bub zu ihr in die Pflege gekommen: «Dort genoss das Kind eine gute Erziehung. Schon frühzeitig aber machten sich bei Bruno Erziehungsschwierigkeiten bemerkbar, die die Geduld der Pflegeeltern gelegentlich auf eine harte Probe stellten. Mit dem zunehmenden Alter steigerte sich auch das schwierige Verhalten des Buben, der neben lügen, stehlen, Schule schwänzen und drgl. darauf ausging, andere Leute zu betrügen und zu hintergehen.»

«Lügen und stehlen?», fragt Koller am Küchentischchen in Le Landeron. «Natürlich habe ich Essen zu stehlen versucht, weil ich Hunger hatte, und natürlich habe ich’s abgestritten, weil ich mich vor den Schlägen des Schmieds gefürchtet habe. Das hätte man doch auch schreiben müssen!» Koller misstraut den Akten: «Wenn jemand nicht fähig ist, differenziert zu prüfen, was den Tatsachen entsprechen könnte, dann sind diese Akten verdammt heikel. Man erwartet von mir immer Beweise, aber die sind so weit zurück kaum mehr zu finden. Und dann kommt es vor allem darauf an: Wer wirkt glaubwürdiger?»

Auf dem Weg zur Heimattreue

1937 ist es bei den Brands nicht mehr gegangen. Gestützt darauf, dass der zehnjährige Bruno «als schwererziehbar» zu betrachten gewesen sei, wurde er von der Vormundschaftskommission der Stadt Bern am 4. Januar 1938 in das «Knaben-Erziehungsheim Oberbipp» eingeliefert, das in jenem Jahr im Jahresbericht festhielt: «Es hat keinen Sinn, die Knaben zu verweichlichen, da sie doch später vom Leben nicht mit Glacéhandschuhen angefasst werden.»

«Am Morgen musste ich um vier Uhr aufstehen, um im Stall zu misten und die Kühe zu putzen. Danach musste ich mich waschen und andere Kleider anziehen. Um sieben gab’s Morgenessen, Suppe und ein Stück Brot. Um halb acht war Schule, das Programm war das einer Primarschule. Der Unterschied bestand darin, dass wir an den schulfreien Nachmittagen nicht frei hatten. Dann kamen die Landwirtschaftsaufseher und nahmen uns mit zur Arbeit. So war der Tagesablauf sechs Tage in der Woche. Sonntags gab’s am Morgen heissen Kakao und Brot, daran erinnere ich mich, den hatte ich verruckt gärn; mittags Kartoffeln und Gemüse und ein Stück Fleisch oder eine Wurst. Weil ich dem Fleisch nie viel nachgefragt habe, habe ich es einem anderen gegeben, der eine Handorgel hatte. Für mein Fleisch gab er sie mir am Sonntagnachmittag zum Üben. Noten habe ich nie gekannt; mir hat es genügt, wenn ich hörte, was ich spielte.»

Und am nächsten Tag begann wieder der Unterricht bei Lehrer Christen, der 1941 im Jahresbericht schrieb: «Wir haben auch im verflossenen Jahre in unserer Schulstube und im Freien in schönsten Stunden das Zusammengehörigkeitsgefühl gespürt, das wir hinaustragen wollen in eine wirre, aufgabenreiche Welt, in der auch unsere Buben gesunde, opferfreudige und heimattreue Glieder werden wollen.» Koller erinnert sich: «Als ich einmal vom Stall gekommen bin, hatte ich schwarze Ränder unter den Nägeln, weil ich die Hände nicht jedesmal mit der Bürste geschrubbt habe. Da hat mich der Lehrer Christen nebenaus genommen und die Zimmertüre geöffnet. Ich musste den Daumen zwischen Türrahmen und Tür hineinschieben, und er hat die Tür langsam zugedrückt. Danach musste ich ins Bezirksspital nach Herzogenbuchsee. Dort liess man mir den Daumennagel abnehmen.» Der Nagel ist nachgewachsen. Aber auch jetzt noch, bald sechzig Jahre später, ist er verkrüppelt.

Ab 1940 melden die Jahresberichte, man habe vermehrt mit «Drausbrennern» zu tun. «Es war so: Viele Anstaltskinder hatten irgendwo Eltern und Angehörige und haben ab und zu Besuch gehabt. Von denen bin ich gehänselt worden, weil ich nie Besuch hatte. Die schlimmste Zeit war vor Weihnachten. Dann sagte ich mir jeweils: Wenn andere Kinder Eltern haben, so hast du doch auch welche. Und wenn sie nicht selber kommen, so musst du sie halt suchen gehen. Jedes Jahr ist dieser Gedanke gekommen, wie wenn innendrin ein Endlosband abgelaufen wäre. Ich erinnere mich, dass ich im Winter in den Finken davongelaufen bin. Natürlich habe ich mich verirrt. Gegen den Hunger habe ich Schnee gegessen. Ich bin gelaufen, bis ich so müde war, dass ich irgendwo eingeschlafen bin. Eltern habe ich keine gefunden.»

Das Strafritual für zurückgebrachte «Drausbrenner» lief immer gleich ab: «Die anderen Buben des Heims mussten in einem Saal antreten und zur Abschreckung zusehen. Mir hat man die Hosen heruntergelassen, mich über einen Stuhl gelegt und Füsse und Hände mit einem Strick untendurch zusammengebunden. Danach hat man mich mit einem Ledergürtel ausgebrätscht.» Für das Nähen der Platzwunden an Rücken und Gesäss war das Bezirksspital Niederbipp zuständig. Es folgten zehn Tage Dunkelarrest: «Weil die schwere Bohlentür nicht ganz dicht abschloss, gab es unten einen Schimmer. War er weg, war Nacht. Pro Tag gab es am Mittag 50 Gramm Brot und in einem Blechbecken einen Liter Wasser. Nach der Dunkelhaft war ich durch den Hunger jeweils geschwächt. Ich erinnere mich, dass ich danach einmal der Küche zugeteilt wurde. Wenn mir Fräulein Sophie, die dicke Köchin, befahl, dem Hund ‘Hansa’ Milch und Brotbrocken zu bringen, kroch ich jeweils ins Hundehaus und ass die Brocken selber. Einmal hat sie mich dort drin erwischt und mich ins Gesicht getreten. Sie traf den Mund und schlug oben und unten je zwei Zähne heraus.» Seither hat Koller zwei Brücken im Gebiss.

Verbotene Lüste, scheiternde Fluchten

Kollers letzte Oberbipper Flucht fand Erwähnung im Jahresbericht 1942: Im November sei «ein schwerer Ausbruch von zwei Unverbesserlichen» erfolgt. Am 13. November ist er, knapp fünfzehnjährig, mit dem Mitzögling Paul Steiger auf die Flucht. Sie wurden im Schloss von Oberbipp von den drei Töchtern des Pächters versteckt. «Das waren zfridni Meitli, die einzigen, die uns Anstaltsbuben nicht einfach als minderwertig abgetan haben.» Die Hanna war wohl damals ein wenig Kollers Schatz. Er hatte sie im Handorgel-Gruppenunterricht kennengelernt, mit dem die Heimoberen damals laut einer Aktennotiz vergeblich «sein Vertrauen zu gewinnen» versuchten.

Der Schlosspächter war im Aktivdienst, vor seiner Frau wussten sich die beiden Halbwüchsigen versteckt zu halten, und abends schlüpften sie zu den Pächterstöchtern ins Bett. Nach zehn Tagen setzten sie die Flucht aus Angst, mit der Zeit hier doch erwischt zu werden, fort, wurden aber bereits in Niederbipp gefasst und ins Heim zurückgeschafft. Im Dezember wurde Koller in die Anstalt Bächtelen nach Bern versetzt, dort gab es Klagen wegen «Unbotmässigkeit und Davonlaufen». Koller erinnert sich an Zimmerarrest mit normalem Essen einmal pro Tag – «die humanste Disziplinarstrafe», die er in seiner Jugend erlebt habe. Am 20. Mai 1943, mit fünfzehneinhalb Jahren, Versetzung in die Jugenderziehungsanstalt Tessenberg. Die Jugendanwaltschaft liefert das dazu nötige Urteil: mehrfacher Diebstahl und Unzucht mit Kindern. Damit sind die Nächte gemeint, die der Fünfzehnjährige im Schloss Oberbipp mit der anderhalb Jahre älteren Hanna verbracht hat. Ob auch sie damals bestraft worden ist, weiss Koller nicht: Vor ungefähr acht Jahren habe er sich auf der Gemeindeverwaltung Oberbipp nach Hannas Familie erkundigt. Aber die Pächtersfamilie habe seither schon zweimal gewechselt.

Im Stammbuch der Anstalt Tessenberg, wo Koller unter der Eintrittsnummer 2487 geführt wird, sind bis zu seinem Austritt 1945 vier Fluchtversuche registriert: «Wir sind gewöhnlich an Prêles vorbei die Rebberge hinunter Richtung Ligerz. Ich kann mich erinnern, dass wir einmal zu zweit unten am Bielersee ein Boot genommen haben. Wir haben die Kette abgeschlagen, haben unsere gestreiften Anstaltskleider mit der Ankerkette zusammengeschnürt und den Anker im See versenkt. Dann ruderten wir splitternackt zu einer Villa, unter die man mit dem Boot fahren konnte, steigen hinauf, brachen einen Fensterladen auf, schlugen die Scheibe ein. Wir dachten, in einem solchen Haus habe es auf jeden Fall Kleider. Alles, was wir jedoch gefunden haben, waren Kinderfinken und ein riesiger Strohhut. So sind wir, immer noch nackt, wieder hinauf in die Reben. In einem alten Rebhäuschen haben wir Übergewänder gefunden, die die Bauern brauchten, wenn sie ihre Reben spritzten.» Das Ende dieser Flucht vom 16. Mai 1944 ist aktenkundig: «In Landeron wollten sie zunächst zu Fuss weiter. Kollers Plan war, nach Frankreich zu gehen und sich bei den französischen ‘Maquis’ zu melden, um Sabotageakte zu verüben: ‘Züge in die Luft sprengen etc.’. Sie suchten Fahrräder zu entwenden, wurden aber erwischt und verhaftet.» Der Traum von der Résistance fand sogar Eingang in den Jahresbericht der Anstalt: «Die Anstaltsdisziplin hat ordentlich gelitten, besonders während der Befreiung Frankreichs und der Tätigkeit des ‘Maquis’. Einige Zöglinge glaubten, eine Heldentat zu begehen, indem sie sich um diese Bewegung interessierten und sich ihr hätten anschliessen mögen.»

Keine von Kollers Tessenbergfluchten dauerte länger als vier Tage. Bestraft wurde wie in Oberbipp. «Zum Prügeln kamen jeweils vier Aufseher in die Zelle, während die anderen Zöglinge auf den Feldern an der Arbeit waren. Man musste sich splitternackt ausziehen. Dann wurde man auf die Pritsche gelegt, an Händen und Füssen festgehalten und einer hat mit dem Gummiknüttel geschlagen. Im Dunkelarrest blieb man während vierzehn Tagen.»

Danach wurde Koller jeweils sofort wieder zur Feldarbeit geschickt, wo dann verschiedentlich diese Sache mit dem Kuhhirten passiert ist. Akten gebe es hierzu keine mehr, bedauert Claude Neuhaus, Direktor des «Jugendheims Prêles», wie der Tessenberg heute heisst: Jugendlichen- und Personalakten würden nach zwanzig Jahren vernichtet, «Datenschutzgesetz». Trotzdem schreibt er auf Fragen, die die Sache betreffen: «Ich wäre aber froh, wenn Sie Herrn Koller, einfach einmal in meinen Namen und als heutiger Leiter des Jugendheimes Prêles, mein Bedauern über die Geschichte aussprechen und dass ich mich offiziell bei ihm entschuldigen möchte.» Die Geschichte ist die: «Man hat auf dem Tessenberg natürlich schnell gemerkt, dass ich keine Post und keine Besuche bekam, dass ich also draussen niemanden hatte. Deshalb begann der Melker, mich während der Arbeit nebenaus zu schicken. Er beschäftigte den Rest der Gruppe ausser Sichtweite, kam mir nach und begann, an mir herumzufingern. Dann hat er den Hosenladen aufgemacht, und man musste sein Glied in den Mund nehmen und reiben. Er sagte danach jeweils ungefähr, wenn ich dSchnure nicht halte, gebe es Methoden, mich zum Schweigen zu bringen: Es seien schon andere im Güllenloch verunfallt und, wenn niemand in der Nähe gewesen sei, darin versoffen.»

 

II Im Reich der Administrativjustiz

Warum soll man am Ende nicht das werden, wofür einen die Leute schon die ganze Zeit halten? Bruno Koller spielt geisteskrank, kommt in die Heil- & Pflegeanstalt Münsingen und wird immer mehr zum hoffnungslosen Fall, der sich wehrt, wie er kann. Ab und zu kommt er den Behörden abhanden.

Dass der Melker auf dem Tessenberg jugendliche Zöglinge der Anstalt, unter anderen Bruno Koller, dazu zwang, ihm den Schwanz zu lutschen, ist dann ausgekommen. Der Melker hat sich daraufhin in einer Scheune aufgehängt. Im kantonalen Verwaltungsbericht für das Jahr 1946 wurden im Abschnitt über den Tessenberg die Umstände bedauert, die das gemacht hat: «Wegen Hinschiedes eines Kuhhirten musste dessen Stelle provisorisch neu versehen werden.» Als die Grossräte dieses Sätzchen gedankenlos überflogen oder auch nicht, bevor sie den Verwaltungsbericht guthiessen, lebte Bruno Koller längst in der Strafanstalt Witzwil.

Elektroschocks und Diagnose

Am 4. Mai 1945 schaute auf dem Tessenberg der Landarzt Humbert herein. Koller war gut siebzehn, seit 1938 dauernd interniert und dachte sich, wenn er für die Obrigkeit schon nichts als ein Spinner sei, den man einsperren müsse, könne er ihren Erwartungen ja für einmal gerecht werden. Dem braven Landarzt erzählte er, er habe in der Kirche eine Vision gehabt: Eine weisse glänzende Figur sei ihm erschienen, seither wisse er, dass er ein Prophet, sei und verspüre den unbändigen Drang zu predigen. Humbert muss die Stirn gerunzelt haben: «Obwohl Koller als abgefeimter Lügner bekannt war, bestand doch der Verdacht, dass sich eine schleichende Geisteskrankheit bei ihm entwickle.» Man wies ihn in die Heil- & Pflegeanstalt Münsingen ein.

«Als ich eintrat, wurde ich ein wenig untersucht. Ich musste husten, sie schauten mir in den Hals, das war’s. Den Psychiater, der später das Gutachten erstellt hat, habe ich nie gesehen, nur die Krankenwärter und die Nachtwache, die den Schlafsaal hütete.» Er habe in Münsingen ein «grosssprecherisches Wesen» an den Tag gelegt und viel reklamiert, hielt später das Gutachten fest. Mit einem, der keine Eltern mehr habe, der immer in Anstalten gewesen sei, habe er zu sagen gewagt, mache man halt, was man wolle. Und weil eigentlich nicht einzusehen war, warum er Monat für Monat in Münsingen bleiben sollte, versuchte er zu fliehen: «Wir hatten diese Dreikantschlüssel nachgemacht, mit denen man alle Türen öffnen könnte, und wir haben versucht, die Gitter im WC durchzusägen.» Mehr als einmal ist er erwischt worden. «Zur Strafe gab es Elektroschocks. Dazu musste ich auf ein Bett liegen. Zwei haben mich an den Beinen festgehalten, einer stand beim Bauch und die Krankenschwester und der Doktor standen hinter dem Kopf am Apparat. Sie haben mir einen Gummiknebel in den Mund gesteckt und zwei angefeuchtete Klappen, die aussahen wie grosse, runde Stempel, an die Schläfen gehalten. Schmerzhaft war es eigentlich nicht. Man ist sofort weg gewesen. Wenn man wieder erwachte, hatte man einen furchtbaren Gring, man konnte sich nicht mehr recht erinnern, was gewesen war. Einmal wurde ich vor eine Ärzteversammlung geführt. Jeder hat irgendeine Frage gestellt, ich weiss nicht mehr welche, auf jeden Fall belangloses Zeug.»

Das zwölfseitige psychiatrische Gutachten trägt das Datum vom 27. Dezember 1945, wurde von Doktor Seiler verfasst, vom Oberarzt Kaiser mitunterzeichnet und kommt zu folgender Diagnose: «Koller leidet nicht an einer Geisteskrankheit. Er ist ein haltloser, geltungssüchtiger, moralisch defekter Psychopath. Die Psychopathie ist eine angeborene Charakterabwegigkeit und beruht auf vererbter Anlage. Es handelt sich somit nicht um eine vorübergehende Entwicklungsstörung, sondern um einen Dauerzustand.» Wenn keine Geisteskrankheit vorlag, können die Elektroschocks kaum medizinisch begründet gewesen sein. Also waren sie reine Strafmassnahmen wegen der Fluchtversuche, denkt man. Aber hoppla: Fluchtversuche? Wer spricht denn davon? Im Gutachten steht: «Fluchtversuche hat er bei uns nie unternommen, worauf er sich viel zugute hält.» Zwar ist der medizinisch-diagnostische Wert dieses Satzes nicht unmittelbar erkennbar, aber einen Sinn hat er zweifellos: Mit den Fluchtversuchen verschwinden gleichzeitig die Elektroschocks spurlos aus der Welt. Denn wer wird schon einem Zeugen glauben wollen, der in den Akten als «abgefeimter Lügner» bezeichnet wird und wegen angeblicher Halluzinationen eingeliefert worden ist?

Rache an Kellerhans

Nach der Lektüre des Gutachtens hat die Jugendanwaltschaft des Mittellandes sofort in Münsingen interveniert: Zwar werde Koller eine «hochgradige Gemeingefährlichkeit» attestiert, aber die Einweisung in eine Arbeitsanstalt abgelehnt, wie das gemeint sei? Die Antwort aus Münsingen trägt das Datum vom 9. Januar 1946 und zeugt von der konstruktiven Zusammenarbeit bernischer Amtsstellen: «Nach der in Ihrem Schreiben enthaltenen Aufklärung sind wir ohne weiteres damit einverstanden, die Schlüsse unseres Gutachtens dahin abzuändern, dass wir schon heute eine dauernde Versetzung in eine geschlossene Arbeitserziehungsanstalt oder Strafanstalt (…) empfehlen.» Seit dem 12. Februar 1946 ist Koller Insasse der Abteilung für Jugendliche der Strafanstalt Witzwil und endgültig Untertan im Reich der Administrativjustiz.

In den nächsten drei Jahren hat der Jugendliche mitzuhelfen, den Müll der Stadt Bern, der in Eisenbahnwagen angeliefert wird, auf den weiten Feldern des Grossen Mooses zu verteilen. 8. Dezember 1947: Koller wird zwanzig, die Bevormundung wird weitergeführt. 8. Februar 1949: bedingte Entlassung mit Bewährungsfrist und Schutzaufsicht. Gutshof Enggistein als Übergangszeit, bevor er «geeignet placiert» werden würde, Anweisung, «dort fleissig und regelmässig zu arbeiten und zu keinen Klagen Anlass zu geben». Kauf einer teuren Handorgel, ohne Geld zu haben. 5. März: Unerlaubter Ausflug ins Rüttihubelbad, Rückkehr nach Enggistein in «total betrunkenem Zustand». 9. März Flucht. Verhaftung auf dem Bahnhof in Chiasso. Armenpolizeiliche Rückschaffung. Bezirksgefängnis Bern. 8. April: Überführung in die Arbeitserziehungsanstalt Lindenhof/Witzwil. Eine Verlegung ins Arbeiterheim Nusshof/Witzwil wird im Februar 1950 rückgängig gemacht, weil sich Koller als «selbstgerecht und selbstherrlich» erwiesen habe. Verlängerung der «Administrativenthaltung» um ein Jahr. 7. April 1950: Neuerliche Verlegung in den Gutshof Enggistein. Erneuter scheiternder Versuch, eine Handorgel zu kaufen. «In der Nacht vom 27./28. Juli 1950 brannte er durch und entwendete zu diesem Zweck ein Fahrrad bei einem Landwirt (…) und fuhr [damit] nach Witzwil, wo er sich freiwillig stellte.» Man ist ratlos: Ein Zweiundzwanzigjähriger macht sich strafbar, um ins Gefängnis fliehen zu können – den einzigen Ort auf der Welt, wo er nicht unerträglich fremd ist. Die Behörden wissen natürlich Rat: Beobachtungsaufenthalt in der Heil- und Pflegeanstalt Münsingen, anschliessend Verlängerung der Massnahme um ein Jahr. Wieder Witzwil. Sommer 1951: «Wie angesichts des schwierigen Charakters von Koller Bruno zu erwarten war, lautet der Führungsbericht von Herrn Direktor Kellerhans nicht ermutigend.»

Am Küchentisch seiner Einzimmerwohnung in Landeron erinnert sich Koller: «Der Direktor Kellerhans in Witzwil war Oberst im Militär und Pferdefanatiker. Ich wurde dazu bestimmt, sein Reitross zu pflegen. Einmal habe ich ein Gesuch bei der kantonalen Polizeidirektion gemacht für eine bedingte Entlassung. Kellerhans sagte, er unterstütze es, weil er mit mir zufrieden sei. Kurz darauf erhielt ich von Bern Bericht: Mit einer derart miserablen Führung, wie ich sie in Witzwil zeige, könnten sie mein Gesuch auf keinen Fall annehmen. Wenn das so ist, dachte ich, hat mich Kellerhans angelogen. Kurz darauf musste ich ihm das Ross parat machen, weil er den Concours von Saignelégier besuchen wollte. Er stellte mir den Anhänger hin mit seinem Jeep, vornedran und ich sollte sein Ross hineinführen, die Türe schliessen und die Blache herunterlassen. Statt sein Pferd holte ich ein Guschti aus dem Stall, stellte das in den Anhänger, gab ihm einen Haufen Heu, Türe zu und Blache runter. Dann kam Kellerhans in seiner Militäruniform heranstolziert, setzte sich in den Jeep und fuhr in den Jura hinauf. Als er zurückgekam, gab es Lämpen.» Koller schmunzelt und sagt dann: «Ich setzte mich mit jenen Mitteln zur Wehr, die mir zur Verfügung standen. Immer fliehen hat’s ja auch nicht gebracht, darum unternahm ich ab und zu etwas anderes.»

Das zweite Gutachten

In Witzwil gab es damals eine berüchtigte Strafe: die Wolldeckenwickel. Koller hat sie drei- oder viermal über sich ergehen lassen müssen: «Man wurde von zwei Mann in den dunklen Arrest geführt. Dort wurden Wolldecken nass gemacht. Eine wurde auf den Boden gelegt, in die ist man eingewickelt worden. Dann kam eine trockene und danach wieder eine nasse. Nach drei oder vier Wolldecken wurde die Rolle mit drei breiten Gurten verschnürt. Dann kam wieder eine nasse, wieder eine trockene, wieder Gurten – so lange, bis man in 21 Wolldecken gewickelt war, elf nasse und zehn trockene. Danach wurde man in eine Ecke geschmissen. Beim Eintrocknen begannen sich die Decken zusammenzuziehen, man konnte sich nicht mehr bewegen und fast nicht mehr atmen, hatte Angst zu ersticken und liess vor Angst den Stuhl und das Wasser fahren. Zu trinken hat’s nichts gegeben. Nach 24 Stunden wurde man geholt: Raus, auf die Felder zur Arbeit.»

3. August 1951: Verlängerung der «Enthaltungszeit um zwei Jahre». Arbeiterheim Tannenhof/Witzwil. 28. September: Flucht, Zechprellereien, Diebstahl einer Militäruniform. Verhaftung in Diesse, Bezirksgefängnis La Neuveville. 11. Oktober: Psychiatrische Klinik Waldau, nachdem sich Koller «wie ein Verrückter gebärdet» habe, «um seine Einweisung zu erreichen». 1. November: Rückführung in den Tannenhof, «wo sich der Verwalter bereit erklärte, es mit dem Mann nochmals zu versuchen». 16. Dezember 1951 Flucht per Bahn nach Basel, Verhaftung in Birsfelden. 10. Januar 1952: Rückversetzung in die Arbeitserziehungsanstalt Lindenhof/Witzwil. 25. März 1952: Psychiatrische Klinik Waldau mit der behördlichen Anfrage an die Psychiater, «ob die Drohung Kollers, die Scheunen von Witzwil anzuzünden, ernst zu nehmen sei».

Am 28. April 1952 unterzeichnen Doktor Spoerri und Professor Wyrsch gemeinsam Kollers zweites psychiatrisches Gutachten. Es attestiert ihm «eine angeborene abnorme Artung seines Charakters» und tituliert ihn als «haltlosen, geltungssüchtigen und debilen Psychopathen». Am 16. Mai 1952 ist Koller in der Arbeitsanstalt St. Johannsen, und Anfang Juni, nach einem neuerlichen Fluchtversuch, im Bezirksgefängnis Bern, im sogenannten Amtshaus. Dort gab ihm, erinnert er sich, der Gefängnisarzt Hausherr einen väterlichen Rat: «Brünu, los, so wi du das machsch, chunnsch du nid witer! Du muesch einisch e rächte Chrampf mache, de chunnsch mindeschtens vor Gricht. Süsch blibsch dis Läbe lang dinn.» Das leuchtete Koller ein. Seit über vierzehn Jahren war er nun ununterbrochen interniert, obschon er sich nie ein grösseres Delikt hatte zuschulden kommen lassen. Wieso sollte er sich noch länger bemühen, einer Gesellschaft angehören zu dürfen, die solches Unrecht zuliess?

 

III Durch Trümmerstädte nach Harmagedon

Wer im Reich der Administrativjustiz kein guter Untertan sein will, muss Gewohnheitsverbrecher werden. Bruno Koller war zeitlebens ein schlechter Untertan. Einmal heiratete er und wäre fast zum frommen Bürger bekehrt worden. Aber der Knast, den er schon kannte, war ihm lieber.

«Der einzige Grund dafür, dass ich mit dem Gesetz immer wieder in Konflikt kam, waren die Fluchten», sagt Bruno Koller. «Ich habe in jeder Institution zu flüchten versucht, und wenn man mittellos flüchtet, ist man darauf angewiesen, irgendwo etwas zu klauen, Kleider, Esswaren und, wenn’s geht, Geld.» 24. April 1953, Strafkammer Bern: Zwei Jahre Gefängnis wegen Diebstahls, Veruntreuung, Sachbeschädigung, Betrug, Zechprellerei, Irreführung der Rechtspflege. [1] 11. August 1955, Amtsgericht Nidau: sechs Monate Gefängnis (Diebstahl, Sachbeschädigung). 12. Oktober 1956, Kriminalgericht des Kantons Aargau: zweieinhalb Jahre Gefängnis (fortgesetzter vollendeter und versuchter Diebstahl etc.). 18. Dezember 1958, Landesgericht Innsbruck: drei Monate schwerer Kerker und Landesverweisung wegen Diebstahls. «Irgendwo etwas zu stehlen, das gibt keine Befriedigung. Man weiss ja nie, wenn man etwas stieht, ob das selber einer ist, der auf der Schattenseite durchmusste. Befriedigung und Genugtuung gibt es nur, wenn man bei einem etwas nehmen kann, der Millionen hat, bei dem der Reichtum offensichtlich ist: ein grosses Wohnboot auf dem See, eine Villa und zwei, drei Autos zu Hause: so einen zu schädigen, hatte ich absolut keine Bedenken.» 19. März 1959, Bezirksgericht Lenzburg: fünfzehn Monate Gefängnis (Diebstahl, wiederholter versuchter und vollendeter Betrug etc.). 16. Juni 1961, Obergericht des Kantons Aargau: fünfzehn Monate Zuchthaus (Betrug, Diebstahl etc.). 26. Juni 1964, Kriminalgericht des Kantons Luzern: ein Jahr Zuchthaus (wiederholter Diebstahl, wiederholte Veruntreuung). «Unbeteiligte draussen sagen in einem solchen Fall schnell: So einer ist einfach kriminell veranlagt – obschon einem dieses ewige Wieder-etwas-Klauen-Müssen zum Hals heraushängt. Es war ein Teufelkreislauf», sagt er.

Die Kübel der Freiheit

Nie lernte Bruno Koller die Freiheit anders kennen als auf der Flucht. Denn gewöhnlich sass er nun dreifach verurteilt im Gefängnis: erstens wegen eines konkreten Delikts, zweitens, weil ihm die Juristen Artikel 42 StGB («Verwahrung von Gewohnheitsverbrechern») verpasst und drittens, weil ihn die Psychiater als «gemeingefährlich» bezeichnet hatten. Aber Not macht listig: «Im alten Bau auf dem Thorberg, aus dem es kaum ein Entkommen gab, hörte man nachts die Wärter durch die Gänge patrouillieren. Vor jeder Türe blieben sie stehen und guckten durch den Türspion in die Zelle. Ich nahm das Lineal, das ich in der Zelle hatte, band eine Schnur dran und unten an die Schnur einen gekrümmten Nagel. Nun hörte ich auf die Schritte der Wärter, die alle anderthalb bis zwei Stunden ihre Runden machten. Wenn ich hörte, wie sie die Klappe am Spion zur Seite schoben, sass ich so auf dem Bett, dass sie mich gut sehen konnten, liess meinen Angel in den Nachtkübel baumeln und sagte immer wieder: ‘Sie beissen nicht. Sie beissen nicht.’ Wenn ich hörte, das sie die Klappe schlossen und wieder gingen, legte ich mich ein bisschen hin. Kamen sie wieder, begann ich erneut: ‘Sie beissen nicht. Sie beissen nicht.’ Das ging drei Tage so, dann kam der vom Krankendienst und sagte, ich müsse mitkommen. Der Arzt redete ein bisschen mit mir. Dann hiess es, ich käme für einige Tage weg. Prompt brachten sie mich mit dem Gefängniswagen in die Waldau nach Bern. Am vierten oder fünften Tag bin ich dort ab, weil ich keine Lust hatte, sofort wieder auf den Thorberg zurückzukehren. Von Westerland auf der Insel Sylt habe ich dem Direktor Werren auf dem Thorberg eine Karte geschrieben. Ich habe mich herzlich bedankt für die Verlegung in die Waldau, die Fische hätten gebissen.»

Bruno Koller schätzt, dass er in seinem Leben ungefähr achtzig Mal nach Deutschland ausgerissen ist: «Heute wie damals, nach wie vor, ist das eine Erleichterung, wenn ich diese verdammte Schweizer Grenze hinter mir habe.» Die grüne Grenze zwischen Genf und dem Bodensee kennt er wie selten einer: «Es gibt verschiedene Übergänge, wobei ich die Orte nicht nennen will – man weiss ja nie, wann man sie wieder braucht», sagt der heute fast Siebzigjährige am Küchentisch in seiner Einzimmerwohnung in Le Landeron. In den später vierziger Jahren gelang ihm die Überquerung der Grenze zum ersten Mal: «Drüben waren die Lebensmittel knapp, haufenweise fremdes Militär, französische Einheiten, amerikanische Einheiten, englische Einheiten – ein Durcheinander. Und die Deutschen hatten selber fast nichts zu essen. Es wurde Handel getrieben mit Seidenstrümpfen, Kaffee und Zigaretten. Wenn ich statt Geld solche Sachen mitbrachte, konnte ich damit draussen mein Versteck bezahlen – ich habe immer bei Privaten, in Familien gelebt. Die Familienmitglieder mussten jeden Morgen in die Arbeitskolonnen gehen, um mitzuarbeiten. Auch ich habe häufig Schrottkübel geschleppt, ich lernte dort Auto fahren und fuhr bei den Aufräumarbeiten zeitweise einen schweren, dreiachsigen GM. Ich fühlte mich wohl dort. Diesen Leuten war es egal, wer man war und woher man kam. Ich war in Freiburg, später in Karlsruhe, dann in Hamburg, Bremen, Hannover. Nie hat mich jemand nach einem Ausweis gefragt. Man hat dann etwa selber erzählt, dass man aus der Schweiz komme, und dann ist man sogar noch gut angesehen gewesen. Die Leute haben es geschätzt, dass einer kam, um zu helfen, nicht einfach als Tourist, um zu sehen, wie es ihnen schlecht ging. In der Gemeinschaftsküche konnte ich das Essen holen, dazu gab es ein Taggeld, hunderttausende alter Mark, fast wertlos.»

Kaffee und Kuchen in der Polizeizentrale

In Deutschland machte Koller merkwürdige Erfahrungen: Zum Beispiel wurde er dort von Polizisten nicht nur höflich und korrekt, sondern ab und zu sogar ausgesprochen zuvorkommend behandelt: «Ich bin einmal, das ist noch gar nicht so lange her, mit einer Handorgel auf die Flucht und habe in Karlsruhe versucht, Strassenmusik zu machen. Weil ich Hemmungen hatte vor der Leuten, spielte ich in einem Nebengässchen. Plötzlich kamen zwei Uniformierte und sagten: ‘Mensch, warum spielst du da hinten? Komm doch nach vorne, hier verdienst du doch keinen Scheiss.’ Ich dachte schon, dass die mich einpacken. Aber jo chasch dänke. Sie haben mir eine günstige Ecke gezeigt, wo man den Hut auf den Boden legen konnte und’s dann auch was gegeben hat. Als ich am anderen Morgen mit meiner Orgel wieder am Hauptbahnhof von Karlsruhe stand, hupte plötzlich ein heller Mercedes ohne Blaulicht oder Aufschrift neben mir. Ich reagierte nicht, weil ich ja nicht wusste, wen die suchten. Da stieg einer aus, klopfte mir auf die Schulter und sagte: ‘Mensch, kennst du uns nicht mehr?’ Sage ich: ‘Nein.’ Sagt er: ‘Wir haben dir doch gestern den guten Platz gezeigt zum Spielen. Jetzt kommst du mit, bekommst ’nen Kaffee.’ Wir haben die Orgel eingeladen und sind zur Polizeizentrale hinaufgefahren. Dort haben sie mir Kaffee und Kuchen aufgestellt und ich musste ihnen ein bisschen was vorspielen. Dann haben sie mich mit dem Auto wieder an den Bahnhof hintergeführt.»

Zu Beginn einer Flucht versuchte Koller häufig, ein Auto zu stehlen und damit über die Grenze zu kommen: «Wenn ich draussen ein Auto verkaufen konnte, lebte ich von diesen Mitteln. Ging mir das Geld langsam aus, so habe ich geschaut, dass ich wieder südwärts und über die grüne Grenze kam. Hier versuchte ich, etwas zu stehlen und damit gleich wieder hinüberzukommen. In Deutschland direkt etwas zu versuchen, hätte mir der Kopf nicht zugegeben: Ich hätte draussen nie jemandem etwas weggenommen, die haben mir auch nie was zuleide getan. Umgekehrt in der Schweiz – da bin ich nach meiner Auffassung sozusagen berechtigt zu klauen.»

Zu Kollers Deutschlandfahrten steht in seinen Akten nichts. Die Zeiten erfolgreicher Flucht figurieren darin als Löcher. Erst wenn er erwischt wurde, begann wieder, schwarz auf weiss, die Behördenwahrheit zu wachsen. Dann lernte er die Schweizer Polizisten von der unzimperlichen Seite her kennen. Unter Drohungen und Prügel versuchten sie, ihm auf dem Posten sämtliche Einbrüche anzuhängen, die in letzter Zeit in ihrer Region gemeldet worden waren. Mehr als einmal gab er Delikte zu, die er nicht begangen hatte, um weiteren Repressalien zu entgehen. Für ihn spielte ja die Höhe des Urteils keine grosse Rolle. Solange ihm nicht eine neue Flucht gelang, blieb er sowieso drin.

Die gescheiterte Teufelsaustreibung

In den sechziger Jahren sass Koller jahrelang in der Strafanstalt Lenzburg; seit dem 8. Juni 1968 in der Arbeitskolonie Murimoos. In dieser Zeit hat er eine Frau kennengelernt, die Gefangenenbesuche machte. Sie war ihm nicht unsympathisch, und dass sie zu Beginn und am Schluss des Besuchs jeweils mit ihm beten wollte, störte ihn nicht gross. Während der Zeit in Murimoos verlobten sie sich, im Winter 1968/69 wurde geheiratet. Zum ersten Mal lauteten die Prognosen für Koller aus der Sicht der Behörden günstig. Er zog zu seiner Frau nach Bern, und am 13. Juni 1969 wurde diese der Einfachheit halber zu seiner Vormündin ernannt. Im ersten Vormundschaftsbericht ein Jahr später attestierte sie ihrem Mann, dass er sich «vorbildlich» verhalte. Am 15. Dezember 1970 ist Kollers Vormundschaft nach 41 Jahren aufgehoben worden.

«Ich habe damals gearbeitet, Radio- und Fernsehverkauf bei Schmidt-Flor. Nach dem Feierabend sind jeweils Prediger zu uns ins Haus gekommen, denen ich sogar helfen sollte, ihre Zeitschrift, die ‘Wachtturm’ hiess, zu verkaufen. Sie haben schon gliiret, wenn ich abends zur Tür hereinkam, und dann hat das nicht mehr aufgehört. Sogar das Essen ist kalt geworden. Sie beteten in einer Art Singsang etwas von diesem ‘Harmagedon’, dieser ewigen Verdammnis, wo man hinkomme, wenn man sich nicht ganz übergebe. Eine Zeitlang habe ich mir gesagt: Es kostet dich ja nichts, du musst nur immer ja sagen – aber auf die Dauer konnte ich das nicht. Es ist soweit gekommen, dass die Prediger ankündigten, mir den Teufel austreiben zu wollen. Von da an ging ich gar nicht mehr nach Hause.»

Im August 1972 ging Kollers kurze bürgerliche Karriere zu Ende. Seine Frau beschuldigte ihn, ihr durch «betrügerisches Verhalten» 120000 Franken abgenommen zu haben. Koller seinerseits erinnert sich, dass sie den Missionaren pro Sitzung 500 Franken abgeliefert habe. Er tauchte unter und schlug sich durch wie eh und je. Im Februar 1974 wurde er verhaftet, im Juni war wieder einmal ein psychiatrisches Gutachten fällig, die Waldau-Ärzte Schmutz und Cornu zeigten, was sie konnten: Koller sei ein «milieugeschädigter, unintelligenter, geltungssüchtiger bis schwer pseudo-logisierender, haltloser und reizbarer Psychopath mit ausgeprägter Neigung zu Hochstapeleien und wechselnd stark ausgeprägter paranoider Einstellung gegenüber Behörden». Am 11. November 1974 wurde Koller, damals wieder Insasse der Strafanstalt Thorberg, erneut bevormundet. Die Ehe war schon vorher sang- und klanglos geschieden worden.

 

IV Das Leben vor der letzten Flucht

Man erzog ihn zum Schwerziehbaren und versenkte ihn im Reich der Administrativjustiz. Nach Jahrzehnten im Knast wurde ihm die Ehe zum neuen Gefängnis. Einmal jedoch ist Koller der grosse Coup gelungen.

Wenn Koller am Küchentisch seiner Einzimmerwohnung in Le Landeron erzählt, erwähnt er immer wieder das Geld. Vor einigen Monaten hat er mit einer Zehnernote ein Bankonto eröffnet. Die zehn Franken haben sich bis heute nicht vermehrt. Einmal kippt er seine gesamte Barschaft aus dem Portemonnaie auf den Tisch und zählt nach. Es sind siebzehn Franken sechzig. Montag, Mittwoch und Freitag kann er, der fast Siebzigjährige, der wöchentlich eine Stange Magnum Light raucht, in St. Johannsen je 25 Franken Sackgeld abholen. Die Leine ist kurz, an der er gehalten wird. Dabei – einmal in seinem Leben ist er ein paar Tage lang reich gewesen.

Der Geldtransport nach Norwegen

Nach seiner Wiederbevormundung war Koller am 8. April 1975 vom Strafamtsgericht Bern wegen wiederholten und fortgesetzten Betrugs, wiederholten Diebstahls, Hausfriedensbruchs, Sachbeschädigung, wiederholter und fortgesetzter Veruntreuung, Urkundenfälschung, fortgesetzter Widerhandlung gegen das Strassenverkehrsgesetz und Zechprellerei zu dreieinhalb Jahren Zuchthaus verurteilt worden. In den späten siebziger Jahren wurde er durch die Behörden an verschiedene Arbeitsstellen plaziert. Er war Reinigungsarbeiter, Aushilfe, Portier – am liebsten jedoch arbeitete er als Chauffeur. Im Herbst 1980, als er den denkwürdigsten Arbeitsauftrag seines Lebens erhielt, war er in Dietikon mit einer Frau namens Karin befreundet, einer alleinerziehenden Mutter mit zwei Kindern, mit denen er «super» ausgekommen sei. Damals wurde er von einer Firma in Baden angefragt, ob er einspringen und einen Geldtransport ausführen würde, weil ein Chauffeur ausgefallen sei.

«Zu beliefern seien drei oder vier Banken mit Bargeld, wurde mir gesagt. Ich ging nach Baden, wo mir in der Buchhaltung der Firma ein älterer, weisshaariger Herr ein Köfferchen voller Bündeli mit 500er- und 1000er-Noten vorzählte. So viel Geld hatte ich in meinem ganzen Leben noch nie gesehen. Er zählte es durch und sagte dann, ich solle unterschrieben. Das tat ich und dachte: ‘Brünu, jetzt zahlen sie dich aus für all die Jahre, in denen du im Scheissdreck gehockt bist. Das hier ist der Zahltag.’ Ich marschierte hinunter ins Auto und fuhr los. Ich war so durcheinander, dass ich – obschon ich von Baden via Koblenz in zwanzig Minuten jenseits der Grenze gewesen wäre – bis nach St. Gallen auf der Autobahn geblieben bin. Ich wurde weder in St. Margrethen Richtung Österreich noch in Bregenz oder Lindau kontrolliert – den Koffer hatte ich die ganze Zeit auf dem Rücksitz. Ich fuhr durch ganz Deutschland hinauf, zwischenhinein tankte ich mit meinem eigenen Geld. Oben in Puttgarden an der Ostsee, wo ich aufs Schiff gewartet habe, machte ich das Köfferchen zum ersten Mal auf: Es waren wirklich 70000 Franken drin. Ich bin mit der Fähre hinüber nach Schweden, dann weiter nordwärts und hinüber nach Norwegen. Dort ging ich in ein Hotel.

Und dann bin ich – und jetzt können Sie lachen – mit dem ganzen Geld einfach in diesem Hotelzimmer gehockt. Zum Abendessen ging ich hinunter ins Restaurant, danach gleich wieder hinauf – programmiert, wie ich zuvor auch gelebt hatte. Ein anderer hätte sich gesagt: Nun leben wir mal richtig. Aber was heisst schon richtig leben?

Nach vier oder fünf Tagen kam mir die Karin in den Sinn und die Kinder und ich kriegte derart den Moralischen, dass ich geheult habe wie ein Hund. Ich dachte: ‘Jetz isch die allei deheim und du verreisisch mit däm Chlotz. Gopferglemmi, was isch das scho, 70000 Schtei, drfür vrlürsch nächär di Frou. Brünu, rett no, was zretten isch.’ Ich habe ihr telefoniert und sie hat gesagt: ‘Egal was passiert, komm zurück.’ Und ich bin gegangen. Ich rief in Oslo die Schweizer Botschaft an und erzählte ihnen, was los sei und fragte, ob sie mir garantierten, dass ich wieder zurückfahren könne mit dem Rest des Geldes – ich musste ja das Hotel bezahlen –, ohne dass ich in Deutschland verhaftet würde. Bei der Botschaft sagte man, ich solle bei ihnen vorbeikommen, sie würden mir ein Schreiben machen mit dem Stempel, damit ich ungehindert in die Schweiz zurückfahren könne. Danach bin ich doch tatsächlich mit dem Rest des Bargeldes in die Schweiz zurückgefahren. An der Grenze habe ich den Zöllnern das Köfferchen und das Auto übergeben. Sie brachten mich nach Baden in die Untersuchungshaft. Dort wurde ich einem Untersuchungsrichter vorgeführt, der mich am zweiten oder dritten Tag aus der Haft entliess, weil er sagte, es liege weder Flucht- noch Kollusionsgefahr vor. Kurz darauf wurde ich versorgt, Artikel 42, Massnahmen gegen Gewohnheitsverbrecher. Karin erhielt eine Stelle bei einer Bank und musste den Kontakt zu mir abbrechen, weil sie dort eine neue Bekanntschaft machte. Ich trage ihr nichts nach. Ich weiss nur, dass sie der Typ Frau war, der mich wahnsinnig angesprochen hätte.»

Zu jung für die Endstation

Am 4. August 1981 wurde Koller vom Obergericht des Kantons Aargau wegen wiederholten Diebstahls und wiederholter Veruntreuung zu zwanzig Monaten Zuchthaus verurteilt. Jahre auf dem Thorberg, später in St. Johannsen. 1986 wurde er – unterdessen 59jährig – ins Pflegeheim Bärau bei Langnau eingewiesen, 1988 in das Wohnheim Grünau in Wabern: «Das sind beides Altersheime gewesen. Ich war dort jeweils einer der Jüngsten. Die Leute waren nett und halfen, wo’s ging, das war alles wunderbar. Die konnten auch nichts dafür, dass in diesen Heimen Leute lebten, die auf der letzten Lebenstufe standen und oft in kurzer Zeit starben. Mich hat das einfach umgehauen, wenn ich an jedem zweiten oder dritten Morgen gesehen habe, wie sie wieder jemanden, der in der Nacht gestorben war, auf dem Wägeli in den Kühlraum hinunterbrachten. Das wurde mir zuviel. Darum bin ich abgehauen. Draussen habe ich für zwei Tage ein Auto gemietet und bin damit ab nach Deutschland.» In der Nacht von 28. auf den 29. Oktober 1986 floh Koller aus dem Heim in Bärau; am 8. Januar 1987 wurde er zu vier Monaten Gefängnis wegen Veruntreuung verurteilt. Am 14. September 1988 floh er aus der Grünau; ab 9. Januar 1989 lebte er im Massnahmenvollzugszentrum St. Johannsen; am 12. Oktober 1989 wurde er zu sechs Monaten Gefängnis wegen Veruntreuung sowie wiederholten Betrugs verurteilt.

Am 5. Februar 1990 wird Koller wegen «positiver Entwicklung» die Vollzugsstufe des Wohnexternats gewährt, ab 1. Oktober 1990 hat er ein Zimmer in einer Altersiedlung in Lyss. «Damals habe ich bei Volvo gearbeitet. Ich hatte kein gutes Gefühl, die Betreuer von St. Johannsen standen mir auf den Füssen herum. Dauernd sind Aufgebote gekommen, und man musste wieder zu irgendwelchen Diskussionen gehen. Dann kriegte ich die Kündigung wegen Stellenabbau. Das habe ich den Hänselern natürlich nicht zu sagen getraut.» Wieso denn? Der Stellenabbau sei doch nicht seine Schuld gewesen. «Das können Sie jetzt sagen. Aber ich hätte riskiert, dass man mich wieder hereingenommen hätte, bis eine neue Arbeit gefunden gewesen wäre. Und in meinem Alter findet man nicht so schnell einen neuen Job. Darum dachte ich: Jetzt musst du verreisen, sonst kommt das nicht gut. Ich bin mit einem Auto ab, wieder nach Schweden oder Norwegen hinauf.» Das war im Juli 1992.

Die Kinder, die Fische, die Obduktion

Seit Dezember 1995 wird an Bruno Koller unter Anwendung von Artikel 43 StGB – «Massnahmen an geistig Abnormen» – unter Zugestehung der Erleichterung eines «begleiteten Wohnexternats» im Massnahmenvollzugszentrum St. Johannsen die Verwahrung auf unbestimmte Zeit vollzogen. Seither lebt er in Le Landeron. Unter der Woche muss er die Nachmittage drüben in St. Johannsen verbringen, die Wochenenden sind frei. Heute sei vieles anders als früher, sagt er: «Heute gibt es Beamte, die einen nicht verurteilen und mit denen man über alles reden kann.»

Bei gutem Wetter geht er fischen: «Jedesmal, wenn ich unten am See bin, geht das knapp zehn Minuten, dann habe ich mindestens acht Kinder um mich herum. Sie nehmen mir die eine Rute, dann nehmen sie mir die andere Rute, und jedes will wissen, ob schon einer dran ist – darum fange ich auch selten etwas. Gewöhnlich wickeln sie den Faden falsch auf und kommen dann: ‘Du muesch do flicke, lue, das geit nümme.’ Dann flicke ich es ihnen, und gleich geht’s von vorne los. Auch wenn ich ‘hingere muess’, in Sankt Johannsen, und ich dort zum Fischen gehe, sitzen die Kinder der Angestellten innert einer Viertelstunde bei mir am Zihlkanal. Es ist, als wenn ich sie anziehen würde.» Schimpfen könne er nicht mit ihnen. Kinder seien ja immer irgendwie die Schwächsten.

Mehr als einmal hat Koller unsere Gespräche mit einem Blick auf die Uhr abrupt beendet. Den Bus nach St. Johannsen durfte er nicht verpassen. Pünktlich um halb zwei muss er drüben sein, da verstehen sie selbstverständlich auch heute keinen Spass. Handorgel spielt er übrigens nicht mehr. Die Leute wollten heute Musik mit Gitarre und Schlagzeug, sagt er, seine volkstümlichen Stücke habe niemand mehr hören mögen. Darum hat er sein Instrument verkauft.

Und einmal hat Bruno Koller, statt weiterzuerzählen, sein Videogerät in Betrieb gesetzt und einen Dokumentarfilm angespielt. Zu sehen war eine Leichenobduktion vom Öffnen des Körpers bis zum groben Zunähen des Leichnams und dem Zurückstopfen der Organreste durch die ausgesparte Öffnung in der Brust, dem Aufsetzen des abgetrennten Schädels, dem Zurückziehen der nach vorn geklappten Kopfhaut und der Rekonstruktion des fahlen Gesichts eines greisen Leichnams. Koller befasst sich mit dieser Sache schon lange: Als Insasse einer staatlichen Verwahrungsinstitution könne er sich, hat er herausgefunden, nicht einmal durch eine schriftliche Verfügung dagegen schützen, dass er nach dem Tod zur Bestimmung der Todesursache obduziert und der Körper danach zu anatomischen Studienzwecken verwendet werde. «Wo endet eigentlich das Recht – oder das, was man Recht nennt – des Staates, der Behörden, gegenüber dem Einzelnen?», fragt er, als er das Gerät ausschaltet. und gibt die Antwort selber: «Staatsraison kommt vor dem Recht des Einzelnen, da nützt keine Bundesverfassung etwas. Ich habe nicht im Sinn, hier zu sterben und mich im Dienst von Staat und Behörden auch noch sezieren zu lassen. Der Staat bekommt meine Nieren nicht. Nicht einmal meinen Stuhlgang.» Bruno Koller hat bereits zwei Herzinfarkte hinter sich. Darum ist er auf der Hut: «Ich werde fliehen, sobald ich merke, dass mit meiner Pumpe wieder etwas nicht mehr stimmt. Ich darf einfach keine Papiere auf mir tragen, damit sie mich innert nützlicher Frist nicht identifizieren können. Diese letzte Flucht in den Tod hinein wird der Lebensabschluss sein und das Ganze abrunden.»

[1] Gegen dieses Urteil hat «Bruno Koller» vor dem Kassationshof des Kantons Bern Nichtigkeitsgeschwerde geführt. Die Begründung von deren Abweisung ist heute öffentlich zugänglich. 

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