Der Jahrhundertmäzen

Verehrter Jubilar,

hochgeschätzter Ehrendoktor der philosophisch-historischen Fakultät der Universität Basel des Jahres 1951; Träger der Schönberg-Medaille 1953, der Mozart-Medaille 1956, der Hans-Georg-Naegeli-Medaille 1966 und der Gedenkmedaille für Béla Bartók 1981; Träger des Kunstpreises der Stadt Basel 1972 und der goldenen Ehrenmedaille für kulturelle Verdienste des Kantons Zürich 1981; Träger des österreichischen Ehrenkreuzes I. Klasse «Litteris et artibus» 1972; korrespondierendes Mitglied der Bayrischen Akademie der Schönen Künste seit 1977, 1983 «Officier de l’Ordre des Arts et des Lettres», 1984 «Commendatore dell’Ordine al Merito della Repubblica Italiana», 1985 «Officier de la Légion d’Honneur»; Träger des Titels eines Professors des österreichischen Bundesministeriums für Unterricht, Kunst und Sport und Ehrenmitglied der Hebräischen Universität Jerusalem 1987, Ehrendoktor für Musik der Universität Oxford (1988), Ehrendoktor der Eastman School of Music der Universität Rochester, USA (1990), 1991 Träger der Auszeichnung «Pro Cultura Hungarica» des ungarischen Ministeriums für Kultur und Erziehung, Ehrenmitglied der Royal Philharmonic Society London und der Magyar Kodály Tarsasag Budapest, 1992 Ehrendoktor in Medizin und Chirurgie der Universität Genua und Ehrendoktor der Franz Liszt-Hochschule für Musik in Budapest, 1993 Träger der Silbermedaille der Karls-Universität in Prag und des Grossen Verdienstkreuzes mit Stern des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland; 1994 Ehrendoktor der Jurisprudenz des Babson Colleges in Babson Park, Massachusetts und Ehrendoktor für die Verdienste um die Musik des 20. Jahrhunderts der McGill University in Montreal; Ehrenbürger von Frenkendorf (BL) seit einer Woche  und Verwaltungsrat des Pharmakonzerns Roche seit nunmehr 58 Jahren –, lieber Paul Sacher.

«Ich freue mich, Ihnen zu Ihrem Ehrentag die besten Grüsse und Wünsche des Bundesrates überbringen zu dürfen.» So begann die damalige Bundesrätin Elisabeth Kopp vor zehn Jahren die Ansprache zu Ihrem 80. Geburtstag im Musiksaal des Stadtcasinos Basel. So oder ähnlich wird an gleicher Stelle am 27. April 1996 zur Feier Ihres 90. Geburtstags Bundesrat Flavio Cotti seine offizielle Würdigung beginnen, um dann, wie zuvor Kopp, zu fragen, ob Ihnen als «prominentem Vertreter der Wirtschaft» oder als «bedeutender Mäzen» mehr Ehre gebühre.

Dabei ist Ihnen, lieber Paul Sacher, nichts weniger in die Wiege gelegt worden als die Doppelkarriere vom Bildungsplebejer zum Jahrhundertmäzen legitimer Kultur und vom Kleinbürgerbub zum Multimilliardär. Geboren wurden Sie am 28. April 1906 in Basel als Sohn des Spediteurs August Sacher und der Bauerntochter Anna, geborene Dürr, aus Pratteln. Vor zehn Jahren haben Sie in einem DRS 2-Gespräch gesagt: «In meiner Familie ist nicht musiziert worden. Mein Vater hat gesungen, meine Mutter hat gesungen, aber Musik ist nicht betrieben worden.» Ihre Eltern pflegten zwar das Singen, so verstehen wir das, nicht aber den geschulten Gesang in der Tradition der akademischen Musikgeschichte des Abendlandes. Immerhin haben Ihnen die Eltern auf Ihren Wunsch schon früh eine Geige geschenkt. Mit ihr machten Sie sich auf den Weg, richtige Musik zu suchen und gelangten so im Laufe Ihrer Jugend scheinbar zwangsläufig vom Milieu Ihrer Herkunft in die Gesellschaft des Basler Bürgertums. Heute scheinen Sie selbst als Verkörperung dieser exklusiven «Vornehmität» des Basler «Daiggs».

«Ich bin kein speziell begabter Geiger gewesen und hätte nie Instrumentalist werden wollen, wie ich auch nie daran gedacht habe zu komponieren», sagten Sie im gleichen Radiogespräch. Dafür büffeln Sie, noch bevor Sie 1924 die mathematisch-naturwissenschaftliche Maturität erlangen, privat Musiktheorie, und dirigieren am Gymnasium zwei Schülerorchester. An der Universität studieren Sie Musikwissenschaft, hören daneben Vorlesungen an der juristischen und der nationalökonomischen Fakultät, dazu Deutsch und Geschichte. Am 4. November 1926, Sie sind gut zwanzigjährig, wird auf Ihre Initiative hin das «Basler Kammerorchester» gegründet, im Juni 1928 der «Basler Kammerchor», bereits das zweite öffentliche Konzert wird vom Radio übertragen. Am 24. Juni 1927 gründen Sie die Ortsgruppe Basel der Internationalen Gesellschaft für Neue Musik, ab 1929 dirigieren Sie zusätzlich den Basler Männerchor. Die Dissertation über Beethoven lassen Sie liegen, denn was Sie fast sechzig Jahre später an einem Managers’ Meeting den Roche-Direktoren zurufen werden, hat für Sie immer gegolten: «If you want to be successful, you must have a vision, and you must follow it!» Allerdings: Auch wenn selten einer seiner Vision konsequenter gefolgt sein mag als Sie, lieber Paul Sacher, aus eigener Kraft wären Sie nicht zu dem geworden, was Sie heute sind.

Am Abend des 2. Oktober 1932 übersieht ein Automobilist beim unbewachten Bahnübergang Leimeren an der Linie Aarberg-Lyss den herannahenden Spätzug. Das Auto wird von der Lokomotive erfasst, der Fahrer stirbt noch in der gleichen Nacht. Der Verunfallte, Sohn des Industriellen Fritz Hoffmann, der 1896 in Basel die pharmazeutisch-chemische Fabrik F. Hoffmann-La Roche & Co. gegründet hat, heisst Emanuel Hoffmann. Er hat im väterlichen Unternehmen unter dem derzeitigen Direktor Emil Christoph Barell als Vizedirektor gewirkt. Daneben war er innovativer Präsident des Basler Kunstvereins und galt, obschon erst 36jährig, bereits als bedeutender Sammler und Mäzen moderner Kunst. Hatte Hoffmann in seinem Bereich nicht das versucht, was Sie, lieber Paul Sacher, für die moderne Musik zu tun wünschten? Fast logischerweise, möchte man sagen, ehelichten Sie im Sommer 1934 die hinterbliebene, zehn Jahre ältere Architektin und Bildhauerin Maja Hoffmann-Stehlin und wurden so Stiefvater von Vera und Lukas, den Kindern aus erster Ehe. Noch 1933 hat Maja Hoffmann-Stehlin übrigens die Gründung der «Emanuel Hoffmann-Stiftung» ermöglicht und damit in den Fussstapfen des ersten Mannes ihre lebenslange Tätigkeit als Kunstmäzenin begonnen, die 1980 mit der weitgehenden Finanzierung des Museums für Gegenwartskunst ihren ersten Höhepunkt erreichen sollte. Als zweiter, wenn auch posthumer Höhepunkt wird das dem lieben Freund Ihrer Familie, Jeannot Tinguely, gewidmete Museum angesprochen werden dürfen, das die Roche am 1. Oktober dieses Jahres im Solitude-Park eröffnen wird.

Seit Ihrer Heirat haben Sie, lieber Paul Sacher, alles, was Sie brauchen: Die Vision, ihrer Musik zum Durchbruch zu verhelfen, das gebildete Bürgertum der alten Universitätsstadt als aufgeschlossenes Publikum und eine starke Aktienminderheit an den Roche-Unternehmungen, die jederzeit das nötige Geld garantiert. Im November 1933 gründen Sie das Lehr- und Forschungsinstitut Scola Cantorum Basiliensis, das den Blick, der sich in der damaligen Konzertpraxis weitgehend auf die Musik des 19. Jahrhunderts verengt hat, auf die alte Musik öffnen soll. Sie werden Direktor des Instituts und tragen dessen Defizit bis 1954, als die Scola mit dem Konservatorium zur Musikakademie fusioniert. 1935 gelingt es Ihnen, die grösste schweizerische Privatsammlung alter Musikinstrumente, jene von Otto Lobeck, als Depositum an die Scola zu bringen – nach Lobecks Tod 1956 haben Sie sie gekauft. Heute ist sie Teil jener grossen Sammlung, für deren endgültige Unterbringung zur Zeit die Pläne zum Umbau des ehemaligen Gefängnisses «Lohnhof» gezeichnet werden. Diese Planungsarbeit ist dank den 5,4 Millionen Franken eines nicht genannt sein wollenden Mäzens möglich geworden. Ob Sie, wie allgemein vermutet, dieser Mäzen sind, der deshalb anonym zu bleiben wünscht, weil es um den Verwendungszweck des «Lohnhofs» ein Seilziehen mit der angesehenen Merian-Stiftung abgesetzt hat, ist offen. Sicher ist jedoch, dass Sie sich von Veronika Gutmann, der Leiterin der Instrumentensammlung, über den Fortgang der Vorarbeiten zum «Lohnhof»-Umbau periodisch informieren lassen.

Seit Ende der zwanziger Jahre erbringen Sie mit der Vergabe von Werkaufträgen an zeitgenössische Musikschaffende unbestrittenermassen «die mit Abstand bedeutendste Leistung eines privaten Förderers zeitgenössischer Musik des zwanzigsten Jahrhunderts», wie Ihnen einmal attestiert worden ist. Bis Ende 1990 ist die Sammlung Ihrer Aufträge, Widmungswerke und Uraufführungen auf 223 Kompositionen angewachsen, die von exakt 82 Komponisten und zwei Komponistinnen, Patricia Jünger und Ina Lohr, ausgeführt worden sind. 128 Arbeiten sind in Ihrem Auftrag geschrieben worden, 144 wurden Ihnen gewidmet, von 213 haben Sie die Uraufführung dirigiert. Für Sie komponiert haben zum Beispiel Béla Bartók, Luciano Berio, Benjamin Britten, Hans Werner Henze, Paul Hindemith, Heinz Holliger, Arthur Honegger, Jacques Ibert, Ernst Krenek, Witold Lutoslawski, Frank Martin, Bohuslav Martinu oder Richard Strauss. In regelmässigstem Auftragsverhältnis standen die drei Schweizer Conrad Beck mit neunzehn Kompositionen, Willy Burkhart mit fünfzehn und Rudolf Kelterborn mit elf. Vor zehn Jahren hat der Chefredaktor der Musikzeitschrift «Dissonanz», Christoph Keller, erstmals öffentlich eine ansonsten bis heute kaum erfolgte kritische Einschätzung Ihrer Förderungspraxis versucht. Ihr Engagement habe nicht zuletzt darauf abgezielt, «traditionelles Publikum, grosse Namen und neue Musik auf einen Nenner zu bringen, was dann zu ebenso bekömmlichen wie belanglosen Kompositionen» geführt habe. In der Tat haben Sie sich erst spät um die spröde Atonalität der Neuen Wiener Schule um Arnold Schönberg, nie um den konventionensprengenden Avantgardismus eines John Cage oder die weltanschaulich gebundene Arbeit eines Hanns Eisler bemüht, der es bekanntlich gewagt hat, von der «Dummheit in der Musik» zu sprechen. Ihr Interesse galt lebenslang der «klassizistischen Moderne», jener Musik seit dem Ersten Weltkrieg, in der sich eine zeitgenössische Tonsprache mit Rückgriffen auf musikalische Formmodelle und satztechnische Konventionen aus der Zeit vor 1800 verbindet. Sie hätten diese Vorliebe, hat Keller vermutet, «als Exponent des Grosskapitals» gepflegt. Ich vermute: als Exponent einer kleinbürgerlichen Herkunft. Sie haben immer jene Musik ausführen lassen und gefördert, die einerseits durch Komplexität und Modernität die Musik Ihrer Herkunft als Nichtmusik verleugnet hat, andererseits aber nie den Schein solider Fortschrittlichkeit des bürgerlichen Musikbetriebs beschädigte, der Sie gross und immer grösser machte. Dass Sie vor allem die «klassizistischen Moderne» gefördert haben, zeugt deshalb auch von einem noch zu wenig gewürdigten Charakterzug: Ihrem untrüglichen Machtinstinkt.

Aber zurück nach Pratteln, wo nicht nur der elterliche Bauernhof Ihrer Mutter, sondern seit 1936 nun auch Ihr von Ihrer Frau konzipierte Herrschaftssitz Schönenberg stand. Mehr und mehr haben Sie sich damals mit den geschäftlichen Angelegenheiten der Familie zu befassen begonnen, insbesondere mit dem Roche-Konzern, dessen Verwaltungsrat Sie seit 1938 waren. Nachdem Sie 1945 für Ihre Familie die Aktienmehrheit der Roche, die nach dem Tod des Firmengründers 1920 verlorengegangen war, zurückgekauft hatten, wurden Sie 1946 in den Ausschuss des Verwaltungsrats gewählt. Seither scheinen Sie der einflussreichste Königsmacher des Konzerns gewesen zu sein. Noch 1946 beantragten Sie eine Generaldirektion, die den zur Belastung gewordenen, übersiebzigjährigen alleinherrschenden Autokraten Barell entmachten sollte. Ebenfalls auf Ihren Antrag wurde der Finanzfachmann Albert Caflisch in den Verwaltungsrat berufen und zum Vizepräsidenten gemacht. Nach Barells Tod 1953 war Caflisch der gegebene Nachfolger, Sie selber der neue Roche-Vizepräsident. Nun holte Ihr Mann Caflisch seinen engsten Mitarbeiter während seiner Zeit bei der Schweizerischen Bankiersvereinigung, Adolf Walter Jann, in den Verwaltungsrat, ihm übergaben Sie das Vizepräsidium, 1965 wurde er Nachfolger Caflischs. Daneben verstärkten Sie die Position der Gründerfamilie, indem Sie 1953 Ihren Stiefsohn Lukas, 1966 Jakob Oeri-Hoffmann, den Mann Ihrer Stieftochter Vera, zu Roche-Verwaltungsräten machten.

Daneben sind Sie seit den dreissiger Jahren führender Kulturpolitiker dieses Landes und haben während der Zeit des Zweiten Weltkriegs Ihren Beitrag zur Geistigen Landesverteidigung wahrlich geleistet: 1931 kamen Sie als jüngstes je gewähltes Mitglied in den Vorstand des Schweizerischen Tonkünstlerverbands, seit 1942 waren Sie dessen Vizepräsident, zwischen 1946 und 1955 dessen Präsident, seither dessen Ehrenpräsident. Sie wirkten als Vorstandsmitglied der Ortsgruppe Basel der Schweizerischen Musikforschenden Gesellschaft und als Mitglied des Stiftungsrates des Schweizerischen Stipendienfonds für Musikstudien, als musikalischer Berater der Generaldirektion von Radio Beromünster, als als Experte für Musik in der Pro Helvetia und – vom Bundesrat ernannt – als Mitglied der Schweizerischen Filmkammer. Hauptberuflich jedoch sind Sie seit 1954 Kodirektor der Musik-Akademie der Stadt Basel, zwischen 1964 und 1969 dann ihr Direktor. 1941 haben Sie die Intendanz für das Basler Theater abgelehnt, 1944 die Direktion des Konservatoriums Zürich, 1957 die Leitung des Radioorchesters Beromünster, 1958 die Musikdozentur an der ETH Zürich und 1963 die Direktion der Hochschule für Musik in Berlin. 1952 sind Sie Vater der Tochter Katharina geworden, 1961 der Tochter Cornelia und 1981 des Sohns Georg Sebastian Balthasar; die Namen der Mütter sind nicht bekannt.

Ende der fünfziger Jahre stiess der Chemiker Lowell Randall im US-amerikanischen Roche-Werk von Nutley bei der Suche nach Tranquilizern auf eine Benzodiazepinverbindung, die sich in der klinischen Prüfung bewährte: 1960 wurde sie als Schlaf- und Beruhigungsmittel unter dem Produktenamen «Librium» lanciert; 1963 folgte die Weiterentwicklung «Valium Roche», 1965 «Mogadon», 1975 «Rohypnol», 1977 «Dalmadorm» und 1982 «Dormicum». Diese Produktereihe brachte dem Roche-Konzern, wie der Historiker Hans Conrad Peyer in seiner Firmengeschichte «Roche 1896-1996» einschätzt, «vollends den Durchbruch». War der Konzernumsatz, der 1945 noch bei 200 Millionen Franken gelegen hatte, bis 1960 auf 833 Millionen bei weltweit 12000 Angestellten gewachsen, stieg er bis 1964 auf gut zwei Milliarden bei 19000 Angestellten, bis 1970 auf 4 Milliarden bei über 30000 Angestellten. Das Vermögen Ihrer Familie muss spätestens in diesen Jahren zwangsläufig in den Milliardenbereich geklettert sein. Dass Benzodiazepine wirkungsvolle Medikamente sind ist so unbestritten wie die Tatsache, dass sie bei täglicher Einnahme nach drei bis vier Wochen abhängig zu machen beginnen. Das Geschäft mit ihnen wurde deshalb nicht nur wegen medizinischen Indikationen und ärztlichen Verordnungen, sondern schnell auch wegen der Bedürftigkeit von Süchtiggewordenen zu einem der grössten der ersten hundert Roche-Jahre – auch wenn nicht jedes Benzodiazepin auf dem Schwarzmarkt so fleissig gedealt wird wie das flashartig einfahrende «Rohypnol». Sie haben, lieber Paul Sacher, der Öffentlichkeit zweifach gedient: mit Valium fürs Volk und mit exklusiver Kultur für Ihr Publikum.

Aber eigentlich sind Sie trotz aller anderen Verpflichtungen ein Leben lang unbeirrt Ihrer Vision treu geblieben: Nachdem Sie seit 1926 mit dem «Basler Kammerorchester» Jahr für Jahr Konzerte gegeben, Tourneeen unternommen, Auftragswerke uraufgeführt, selten gespielte Werke alter Meister wiederentdeckt und stillschweigend jährlich das auflaufende Defizit beglichen haben, gründeten Sie 1941 das «Collegium musicum» in Zürich, übernahmen auch dort ehrenamtlich die künstlerische Leitung und erarbeiteten von nun an mit beiden Orchestern je eigene Programme. Allein mit dem «Collegium musicum» haben Sie in den folgenden gut fünfzig Jahren vierhundert Werke alter Meister und dreihundert von zeitgenössischen Musikschaffenden aufgeführt, wie die Journalistin Sybille Ehrismann ausgezählt hat. Am 8. Mai 1987 haben Sie nach einem letzten Konzert das «Basler Kammerorchester» und den «Kammerchor», am 13. Juni 1992 das «Collegium musicum» aufgelöst, denn auf der ganzen Welt wäre kein zweiter Mensch zu finden gewesen, der gleichzeitig über die ökonomische und künstlerische Potenz verfügt hätte, Ihre Nachfolge anzutreten. Wie Ihre Förderungspraxis ist auch Ihr dirigentisches Wirken kritisch noch kaum gewürdigt worden – ausser vom erwähnten Christoph Keller, der seine Auseinandersetzung 1986 für Radio DRS 2 verfasste und, als sie daselbst als zu respektlos abgelehnt worden war, im kurzlebigen Zeitgeistmagazin «Magma» hat erscheinen lassen. Es falle, schrieb er damals, «die Geradlinigkeit auf», mit der Sie den Takt markierten: «Keine Spur von Show, aber auch wenig Übereinstimmung mit der erklingenden Musik. Die Musiker geben sich alle Mühe, trotz Sachers mässigen Dirigaten einigermassen gute Aufführungen hinzukriegen.» Sicher ist, dass Sie Ihre Arbeit als Dirigent nicht als Privatvergnügen eines reichen Bourgeois verstanden haben; ihr Ethos hat immer gelautet, es sei die Pflicht eines reichen Menschen, «das Geld nicht als den ihm zustehenden eigenen Besitz anzuschauen, sondern zu denken, er habe mit dem Geld auch Funktionen zu erfüllen, die der Öffentlichkeit und der Allgemeinheit dienen», wie Sie am Radio zu bedenken gegeben haben. Sie haben öffentlich gewirkt und Sie haben darüber öffentlich Rechenschaft abgelegt: Mit einer an unfreiwillige Komik grenzenden Akribie haben Sie über Ihre Tätigkeiten in periodischen Buchpublikationen berichten lassen: «10 Jahre Basler Kammerorchester», «20 Jahre Collegium musicum» et cetera. Jedes Konzertprogramm ist dokumentiert, jedem uraufgeführten Werk ein einführender Text gewidmet, mit jedem Komponisten haben Sie sich fotografieren lassen: Sacher mit Strawinsky, Sacher mit Honegger, Sacher mit Strauss. Und auf den Bildern tragen Sie Ihre strengste, verschlossenste Miene zur Schau und den trotzigen Blick eines Bergsteigers auf dem Gipfelbild: Seht her, auch den habe ich geschafft. Nicht verwunderlich, dass Ihre private Sammlung an Partituren und Dokumenten einen Umfang annahm, dass sie 1973 zu ihrer Betreuung die Paul Sacher Stiftung errichten mussten. Im Jahr darauf haben Sie mit dem Haus «Auf Burg» am Münsterplatz eines der schönsten Häuser der Stadt Basel gekauft und zum Stiftungssitz bestimmt. Schon als Sie 1986 die Sammlung der Stiftung nach umfangreichen Umbauarbeiten öffentlich zugänglich gemacht haben, galt sie nach den Nachlassankäufen von Igor Strawinsky und Anton von Webern (1983) als eine der bedeutenden von Partiturmanuskripten und Dokumenten zur Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts; heute umfasste sie bereits über fünfzig musikalische Nachlässe, laufend kommen weitere dazu.

Trotz des rasanten Aufstiegs der Roche zum Weltkonzern – zwischen 1967 und 1977 galt er als Folge des Benzodiazepin-Booms als weltgrösste Pharmafirma – mussten Sie als Königsmacher noch einmal intervenieren, als Jann Mitte der siebziger Jahre in wachsende Schwierigkeiten geriet: Seine unkontrollierte Diversifikationsstrategie drückte die Gewinne, sein arroganter Umgang mit der Öffentlichkeit begann das Image des Konzerns zu schädigen, etwa während der Affäre um die vertraulichen Roche-Akten, die illegale Geschäftspraktiken dokumentierten und vom ehemaligen Angestellten Stanley Adams 1973 der EG in Brüssel zugespielt worden waren. Oder 1976, als nach einem Unfall bei der Roche-Tochter Icmesa in Seveso bei Mailand hochgiftiges Dioxin freigesetzt wurde. Von 1977 auf 1978 sackte der Roche-Umsatz von 5,5 auf 4,8 Millarden, die Rendite auf 4,2 Prozent ab. In dieser Situation haben Sie, lieber Paul Sacher, gehandelt. Sie liessen den seinerzeit portierten Jann fallen und holten den Artillerieoberst Fritz Gerber, vormals Präsident der Zürich Versicherungs-Gesellschaft. Unter Gerber sind, so berichtet Peyer, seit 1978 die «Sparten» des Konzerns zu «Divisionen» geworden, er schmiedet «strategische Allianzen» mit «verbündeten Firmen», fällt «möglichst front- und marktnahe Entscheidungen» und für alle Fälle gibt es die milliardenschwere «Kriegskasse». Das Geschäft floriert, der Gewinn ist von 3,7 Prozent 1981, über 7,3 Prozent 1989 auf 17,4 Prozent 1994 gestiegen. Im gleichen Jahr hat Roche bei weltweit 61381 Angestellten 14,748 Milliarden Franken umgesetzt. Mit 2,6 Prozent Anteil am Weltmarkt ist Roche zur Zeit der neuntgrösste Pharmakonzern, «vor allem durch inneres Wachstum» wolle man diesen Anteil mittelfristig auf drei bis fünf Prozent aufstocken, wie der NZZ letzthin zu entnehmen war. Nach dem Tod Ihrer Frau 1989, lieber Paul Sacher, haben Sie die Verantwortung über die Roche-Aktienmehrheit weitergegeben und sind in der Rangliste der reichsten Schweizer, die die Wirtschaftszeitung «Bilanz» jährlich veröffentlicht, vom ersten Platz verschwunden. Dort figurieren jetzt Ihre beiden Stiefkinder Lukas und Vera, deren aktuelles Vermögen auf 10000 Millionen Franken geschätzt wird.

Kein speziell begabter Geiger seien Sie gewesen und ans Komponieren hätten Sie nie gedacht, lieber Paul Sacher. An dieser Feststellung ist etwas Merkwürdiges. Zur gleichen Zeit, als Sie nach Mitte der zwanziger Jahre als Musiker sozial aufstiegen, war Ihnen klar, dass Sie weder Begabung hatten, spielend Musik durch eigenen Ausdruck lebendig zu machen, noch das Bedürfnis, eigene Musik zu erfinden. Hatten Sie selber musikalisch wirklich nichts zu sagen? Oder hatten Sie Angst, dass das, was Sie, der Spediteurssohn, zu sagen gehabt hätten, beim Basler Bürgertum nichts gegolten hätte? Warum haben Sie ein Leben lang Musik zusammengekauft, die andere erfunden haben? Und warum haben Sie, der nicht begabt sei, Musik zu interpretieren, ein Leben lang mit dem Taktstock Musik interpretieren lassen? Ihre helvetische Tellerwäscherkarriere hat Sie nicht nur zu Macht und Reichtum geführt, sie hat Sie auch stumm gemacht – so wie Ihre Eltern zunehmend verstummt sein werden, seit der halbwüchsige Paul, der so gelehrte Etüden zu geigen verstand, immer mehr die Nase rümpfte, wenn sie ein Lied anstimmen wollten.

Happy birthday to you, verehrter Jubilar.

Aktuell

Zum Projekt

 

Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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