Zürich – Basel – Brig – Zürich

Als der Zug 835, ein Intercity nach Romanshorn, in Brig anfährt, ist es exakt 15.59 Uhr. Marcel Bürgi schiebt seine Railbar in den ersten Zweitklasswagen. Arbeitsbeginn der «Railbar-Tour 817» war heute morgen um 8.32 Uhr im Magazin an der Limmatstrasse in Zürich. Via Basel führte sie nach Brig, um 18.56 Uhr wird Bürgi wieder in Zürich eintreffen und abrechnen. Ein Elfeinhalb-Stunden-Tag. Die schlimmste Tour ist 805: Unter fünfzehn Stunden ist sie nicht zu schaffen.

Bürgi zwischen den ersten Coupés: «Es Sändwitsch? Es Cola? Es Gaffee?» Kopfschütteln dankt er mit einem Lachen, begrüsst bereits die nächsten Reisenden. «Es grosses Bier? Nöd? Es chlyses?» Schlagfertig pariert er ironische Antworten, blitzschnell im Kopf und sicher in den Hantierungen, auch wenn der Zug die Südrampe hinauf von Kurve zu Kurve schwingt. Zwei Coupés weiter öffnet er ein grosses Carlsberg-Bier, kassiert. «En guete Gschäftsma!», tönt es ihm nach. «Settig bruuchts!» – «Vraiment très aimable!» – «Het dä es Tämperamänt!» Bürgi wuchtet sein Gefährt durch die Schleuse in den nächsten Wagen, neigt sich einnehmend ins nächste Coupé: «Es richtigs Gaffee? Oder lieber es Hagigs?»

Noch im Lötschbergtunnel, kurz vor Kandersteg, erreicht er den Postwagen zuhinderst im Zug: «Wenn es gut läuft und nette Leute reisen», sagt er, «dann komm ich aus mir heraus, das entschädigt für vieles, das ist wirklich schön. An anderen Tagen, wenn ich ständig nur auf Mauern treffe, hängts mir fast aus.»

Zur Sicherheit Panettone

Flink füllt er Chips, Biere und Kafferahmportionen nach, öffnet ein neues Pack Servietten, ersetzt einen leeren Heisswasser-Thermoskrug. Seit fünfzehn Jahre macht er diesen Job, aber fest anstellen lässt er sich nicht mehr: «Festangestellte arbeiten bis zu sechs oder sieben Tagen hintereinander. Das schaff ich gar nicht mehr. Als Aushilfe kann ich sagen, wann und wie viel ich arbeiten will.» Nach zwei Arbeitstagen brauche er einen freien Tag.

Letzthin hat er sich für eine Petition an die Direktion der Passaggio Rail AG und dessen Mehrheitsaktionärin, die SBB, eingesetzt: «Die neuen Diensttouren sind hinsichtlich Arbeitszeit, Einkommensmöglichkeiten, sowie organisatorischen und gesundheitlichen Aspekten absolut untragbar und unmenschlich.» Von den 1000 Kolleginnen und Kollegen, die sich in 850 Stellen teilen, haben rund hundert aus den Sektionen Chur, Bern, Basel und Zürich unterschrieben.

Kaum hat Bürgi den Rest der Banane, die er sich aus seiner privaten Umhängetasche geangelt hat, geschluckt, sagt er: «Gehen wir.» In den Erstklasswagen, die er erst vor einigen Minuten passiert hat, ruft er sich mit gemurmeltem Angebot bloss in Erinnerung. Während der Zug den Viadukt vor Frutigen passiert, füllt Bürgi einen Pappbecher mit heissem Kaffee: «Es Gutzli drzue? Oder en Panettone zur Sicherhäit?» Lachen. Die Reisenden freuen sich an Bürgis kabarettistischem Charme. Die Kunden der letzten Passage begrüsst er wie alte Bekannte, räumt leere Bierdosen weg, wünscht hier «En Guete!» und dort «En Schöne!» und ist schon einen Wagen weiter.

Die SBB muss handeln

Der SP-Nationalrat Roberto Zanetti ist beim Schweizerischen Eisenbahn- und Verkehrspersonal-Verband (SEV) zuständig für die Sektion Bahnrestauration. Er weiss, dass sich Marcel Bürgi gern auf den Artikel 6 des Arbeitsgesetzes beruft, dessen zweiter Absatz lautet: « Der Arbeitgeber hat insbesondere die betrieblichen Einrichtungen und den Arbeitsablauf so zu gestalten, dass Gesundheitsgefährdungen und Überbeanspruchungen der Arbeitnehmer nach Möglichkeit vermieden werden.» Aber Zanetti kennt auch die andere Seite: Der Railbar-Betrieb gehöre zu einer «sehr prekären Niedriglohnbranche», sagt er. Die Passaggio Rail AG mache schlicht zu wenig Umsatz, um die Arbeitsbedingungen verbessern zu können. Das Problem müsse von der Mehrheitsaktionärin SBB gelöst werden: «Die Bahngastronomie ist ein Stück Service public, die zu einem abgerundeten Bahnangebot gehört. Sie kann aber nicht selbsttragend sein, wenn die Arbeitsbedingungen stimmen sollen. Deshalb müssen die SBB sie quersubventionieren.»

Weiter vorne bietet Bürgi einem Biertrinker Nachschub an. Der grinst hämisch und klaubt aus der eigenen Reisetasche eine weitere Dose. Bürgi lacht und wünscht aufs Verbindlichste eine gute Reise. Rechts jetzt ein Zipfel Thunersee. «Meine Damen und Herren, wir treffen in Spiez ein.» Noch knapp zwei Stunden bis Zürich.

 

[Kasten]

Vom Beamten zum Anti-Beamten

Aufgewachsen ist der heute 36-jährige Marcel Bürgi im Glarnerland. Sein Vater war Bahnhofvorstand in Linthtal und Näfels. Auf der Gemeindeverwaltung in Mollis machte er eine KV-Lehre. Im Betreibungsamt Kreis 11 in Zürich Oerlikon hatte er danach hauptsächlich Zahlungsbefehle zu schreiben. Lange hielt es ihn dort nicht: «Die Beamtenmentalität liegt mir nicht, heute bin ich ein absoluter Anti-Beamter.»

1988 begann er bei der Schweizerischen Speisewagengesellschaft, SSG, als Steward. Später hiess sein Arbeitgeber Passaggio Rail AG und gehörte dem italienischen Autogrill-Konzern. Unterdessen gehört die Firma zu 60 Prozent der SBB und wird ab 3. April 2003 «elvetino AG» heissen.

«Ein gewisses Chaos gabs überall», sagt er, aber finanziell sei es eindeutig härter geworden. Mitte der neunziger Jahre habe er an einem schlechten Tag noch mit 200 bis 250 Franken netto rechnen können, heute liege der Verdienst deutlich darunter. Der 100-Prozent-Monatslohn bewegt sich zwischen 3000 und 4000 Franken.

Mein Titelvorschlag hatte gelautet: «Tour 817, Brig ab 15.59 Uhr», erschienen ist der Text unter dem Titel: «Zürich – Basel – Brig – Zürich».

Aktuell

Zum Projekt

 

Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


v11.5