Weg-Spaltung in Davos

Nach dem Zweiten Weltkrieg hatte Davos ein Problem: Jetzt gab es Antibiotika. Von einem Tag auf den anderen waren die lukrativen Schwindsucht-Liegekuren für alle solventen Tuberkulosekranken Europas überflüssig geworden. Dank dem Massentourismus und seit 1971 dem World Economic Forum ist Davos aber schnell wieder zu einem Ort mit internationaler Ausstrahlung aufgesteigen.

Wolfram Frank, Regisseur und Leiter der Churer Theatergruppe «in situ», hat Davos deshalb in einem ambitiösen Essay zum Wegkreuz der Geistesgeschichte des 20. Jahrhunderts stilisiert. Zu diesem Zweck stellt er die beiden zeitgleich entstandenen Romane «Der Zauberberg» (Thomas Mann) und «Das Schloss» (Franz Kafka) gegeneinander. Den Schnittpunkt dieser beiden Texte verlängert er zu zwei sich kreuzenden antagonistischen Linien. Die eine führt von Kant und Goethe über den deutschen Idealismus und die ideologische Konstruktion des bürgerlichen «Humanismus» bis hin zum «Dialog»-Geschwafel des Wef. Die andere ist ein prekärer «Säumerpfad» der ideologiekritischen Dekonstruktion, dem Frank «in der Spur Walter Benjamins» folgt von Kleist, Kierkegaard und Kafka bis zu Pasolini und Emmanuel Lévinas.

In zwei dramatischen Höhepunkten prallen die beiden geistesgeschichtlichen Linien aufeinander: Einerseits in einem 1929 anlässlich  der «Internationalen Davoser Hochschulkurse» öffentlich geführten Disput zwischen den beiden Philosophen Ernst Cassirer und Martin Heidegger; andererseits in der Erschiessung von Wilhelm Gustloff, dem Gauleiter der Schweiz, durch den jüdischen Studenten David Frankfurter 1936, ebenfalls in Davos.

Eine Versöhnung der beiden Linien gibt es nicht. Aber schliesslich einen aus Talmud-Intepretationen abgeleiteten menschgemässen Begriff der «Globalisierung»: Diese müsste, so Franks utopische Umdeutung, für «universale Gastfreundschaft» stehen. Um eine Ebene erweitert wird der Essay schliesslich durch die Interpretation (und Reproduktion) mehrerer Davos-Gemälde Ernst Ludwig Kirchners.

Der Essay ist – trotz ärgerlicher Verstiegenheiten, bildungsbürgerlicher Manieren und allzuvielen typografischen, orthografischen und stilistischen Unsorgfältigkeiten – eine höchst anregende Lektüre: Wild und radikal in komplexen Netzstrukturen gedacht und geleitet von einem skrupulös sprachkritischen Bewusstsein, denn «die Wort-Strassen [werden] plattgewalzt, bevor die Panzer kommen».

Der Kanton Graubünden wäre gut beraten, wenn er diesem hochgelehrten Tiefsinnigen, der einer «Kultur der Armut» verpflichtet ist, ein Werkjahr zuerkennen würde – und der Desertina-Verlag, wenn er ihm einen kongenialen, aber möglichst pingeligen Lektor zur Seite stellte. Das Ergebnis eines nächsten Essays wäre absehbar genial.

Wolfram Frank: Davos. Ein Essay, Chur (Desertina Verlag) 2004.  

Der Satz über die Kirchner-Gemälde und der letzte Abschnitt sind im Zeitungsdruck weggestrichen und hier nach der damals abgelieferten elektronischen Datei wieder ergänzt worden. – Zu Wolfram Frank siehe auch «Frank und frei in Chur» sowie «Sippenhaft für In Situ». 

Aktuell

Zum Projekt

 

Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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