Das Büro der Regierungsstatthalterin Regula Mader liegt im Hochparterre des Berner Amtshauses. Bis zu zwei Arbeitstagen pro Woche verwendet sie darauf, dem Artikel 397 des Zivilgesetzbuches Genüge zu tun, wonach Personen «wegen Geisteskrankheit, Geistesschwäche, Trunksucht, anderen Suchterkrankungen oder schwerer Verwahrlosung in einer geeigneten Anstalt untergebracht oder zurückbehalten» werden können, wenn ihnen «die nötige Fürsorge nicht anders erwiesen werden kann». Über Maders Schreibtisch geht mehr als ein Drittel der ordentlichen Fürsorgerischen Freiheitsentziehungen FFE, die im Kanton Bern ausgesprochen werden.
Gegen die einseitige Betonung des Zwangscharakters dieser Massnahme wehrt sie sich: «Es kommt vor, dass ich jemanden gegen seinen Willen nicht einweise, der eingewiesen werden will. Letzthin sagte ich zu einem Alkoholiker: Fertig, ich habe den Glauben an Sie verloren. Ich mache nichts mehr. Seit diesem Moment hat er nicht mehr gesoffen, ist integriert und arbeitet wieder. Das gibt’s.» Was es auch gibt: dass eine von Mader verfügte FFE statt als Klinikeinweisung als ambulante Massnahme vollzogen wird. Der Normalfall freilich ist das nicht.
Die bernische FFE-Statistik
In Maders Büro steht ein dicker Bundesordner: sämtliche kantonalen Gesetze zur Umsetzung von Artikel 397 ZGB. «Diese Gesetze sind völlig unterschiedlich, in jedem Kanton sind die Zuständigkeiten anders», sagt sie. Im Kanton Bern zum Beispiel ist es so: Es gibt ordentliche regierungsstatthalterliche FFE-Einweisungen, und es gibt vorsorgliche, die von ÄrztInnen in Akutsituationen ausgesprochen werden können. Die neuste FFE-Statistik – sie wird von der kantonalen Gesundheits- und Fürsorgedirektion (GEF) seit 1998 geführt – besagt für das Jahr 2001 Folgendes:
• Die Zahl der FFE-Einweisungen nimmt sowohl in absoluten als auch in relativen Zahlen – im Vergleich zur Gesamtzahl der jährlichen Klinikeinweisungen – zu: Seit 1998 haben sich sowohl Verfahren als auch Eintritte praktisch verdoppelt.
• 2001 meldeten die Kliniken insgesamt 1646 FFE-Zuweisungen, 620 von Regierungsstatthaltereien. Die restlichen, also die Mehrzahl, waren vorsorgliche Zuweisungen durch ÄrztInnen.
• Bei den Einweisungsgründen haben insbesondere «Geistesschwäche» und «schwere Verwahrlosung» überproportional zugenommen.
• Ein Drittel der Personen, gegen die ein FFE-Verfahren eingeleitet worden ist, gelten als «gefährlich», 3 Prozent als «gemeingefährlich» (davon 19 Männer und 6 Frauen).
Die sozialen Netze reissen
Über die Gründe, die zur Zunahme der FFE-Verfahren führen, können auch die Fachleute nur Vermutungen anstellen. Johann Binder, Leiter der Dienststelle Psychiatrie der GEF, beobachtet, dass nicht nur die FFE-Einweisungen, sondern auch die Klinikeintritte, und die IV-Renten wegen psychischer Erkrankungen zunehmen: «Teilweise dürfte es sich um eine tatsächliche Zunahme handeln, teilweise aber auch um eine Tendenz, vermehrt schwierige soziale Situationen mit Hilfe der Psychiatrie zu lösen.»
Dass die Tragfähigkeit der sozialen Netze abnimmt, ist unbestritten. Jean-Daniel Sauvant, Präsident der Bernischen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, vermutet, dass sich eine Schere öffne: Einerseits verfügen die sozialen Netze wegen des wirtschaftlichen Drucks über weniger Ressourcen, andererseits werden auf dem Arbeitsmarkt die Nischen weggespart: «Hier trifft es die Schwächsten.» Mehr Fälle und weniger Ressourcen konstatiert auch Jean-Pierre Pauchard, der Direktor des Psychiatriezentrums Münsingen: «Die Leute, die durch die Netze fallen, laufen Gefahr, in den Teufelskreis von Isolierung, Vereinsamung und Verwahrlosung zu geraten.» Und Regula Mader resümiert: «Irgendeinmal haben die Sparmassnahmen Auswirkungen. Seit Jahren baut man ab: im Bereich der sozialen Infrastrukturen, bei der Ausbildung des Personals und in den Kliniken.»
Die Klinik wird’s schon richten
In den kantonalbernischen psychiatrischen Kliniken gilt eine Aufnahmepflicht. Sie sind überfüllt, die Arbeitsbedingungen sehr schwierig. «Wenn die psychischen und sozialen Konflikte einer Person eine Intensität erreichen, die die bisher betreuende Institution – etwa Heime – überfordern, so bleibt als letzter Ausweg zur Entlastung die Einweisung in eine psychiatrische Klinik», sagt Binder und fügt bei: «Hätten diese Institutionen eine grössere Tragfähigkeit, so müssten weniger Klinikeinweisungen stattfinden.»
Die Tragfähigkeit nehme aber auch bei den Verantwortlichen ab, sagt Pauchard, und zwar aus «Angst vor den möglichen Folgen»: «Heute ist bereits eine Drohung im Affekt ein Einweisungsgrund, auch wenn es dabei nicht um eine psychische Krankheit, sondern um ein soziales Problem geht.» Solche sozial Auffälligen hätten weder einen Leidensdruck noch ein Bedürfnis nach Behandlung. Sie machten in der Klinik disziplinarische Schwierigkeiten, und das Pflegepersonal reibe sich auf mit «Verhaltensgestörten», die sich häuslich einrichteten und sich «mit Drohungen und Erpressungen» durchzusetzen versuchten.
Der frei praktizierende Psychiater Sauvant dagegen fragt sich, ob die Personalknappheit in den Kliniken bei steigenden Zuweisungen nicht zu «verfrühten Entlassungen» führe. Auch Mader sieht das Problem, «dass die Leute zu schnell wieder herauskommen, bevor sie adäquat behandelt sind und der ambulante Rahmen stimmt.» Sie versucht deshalb, die FFE erst aufzuheben, «wenn die Arbeitssituation, die Wohnsituation und die gesundheitliche Situation» geklärt sind. Dieses Abwarten fördert einerseits die Nachhaltigkeit der Massnahme, führt aber auf der anderen Seite zu neuen Problemen. Pauchard sagt, es gebe in der Klinik nicht nur ein «Zuflussproblem» wegen der Aufnahmepflicht, sondern auch ein «Abflussproblem», wenn die Austritte aus nicht medizinischen Gründen verzögert würden: «Es ist nicht das medizinische System, das nicht funktioniert – bei der Reintegration in die Gesellschaft hapert es.»
Tendenz: Weiterhin steigend
Im Alltag verlieren derweil die mikrosozialen Netze in Familien und Nachbarschaften immer mehr an Tragfähigkeit. Mader erklärt es so: «Wenn der Druck im Job zunimmt und du einen Nachbarn hast, der jede zweite Nacht in der Wohnung herumschreit, dann hättest du früher vielleicht eher noch nach ihm geschaut; heute rufst du die Polizei oder telefonierst hierher und sagst: Der Nachbar stört, kommt. Wenn ich dann sage: Habt ihr dieses oder jenes schon versucht?, sagen sie: Das ist nicht unsere Aufgabe. Dafür seid ihr da.» Pauchard sagt: «Psychiatrische Kliniken können nicht gesellschaftliche Probleme lösen.» Und auf die Feststellung, wenn man die Gründe für die steigende Zahl der FFE überblicke, dann müsse man davon ausgehen, dass diese Zahl noch weitere steige, antwortet Regula Mader: «Davon bin ich überzeugt.»
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Die dreifache Grauzone
Jährlich werden in der Schweiz mehr als 10’000 Menschen per FFE versorgt. Oder sind es 20’000? So genau will man das lieber nicht wissen. Eine nationale FFE-Statristik gibt es nicht.
Welcher Mädchenvorname wurde in der Romandie im Jahr 2001 am häufigsten verwendet? Léa. Welcher am zweithäufigsten in der Svizra rumantscha? Larissa und Lena, ex aequo. Der vierthäufigste Bubenname in der Svizzera italiana? Luca. Der 28st-häufigste in der Deutschschweiz? Lars. Das Bundesamt für Statistik (BfS) weiss bis hinunter zum letzten Vornamen über alles Bescheid, was geht im Land.
Über fast alles. Zum Beispiel weiss es so wenig wie sonst jemand im Land, wie vielen Personen mittels FFE für Tage, Wochen oder gar Monate die persönliche Freiheit entzogen wird, um ihnen je nach Blickrichtung Hilfe zur Gesundung und zur Reintegration zukommen zu lassen oder aber sie zuzurichten für das Funktionieren in der herrschenden Normalität.
Über die Anzahl der FFE-Fälle pro Jahr gibt es nur Schätzungen. Zum Beispiel jene des Zentralsekretärs der Pro Mente Sana, Jürg Gassmann: «Aufgrund der zugänglichen Zahlen einzelner Versorgungsregionen kann davon ausgegangen werden, dass die Zahl deutlich über 10’000 liegt.» («PMS aktuell» 4/2002). Oder jene des Journalisten Urs Zanoni: «50’000 bis 60’000 Menschen werden im Lauf eines Jahres stationär behandelt. Gut ein Drittel sind allerdings gegen ihren Willen dort.» («Beobachter» 3/2003).
Schätzen kann man zum Beispiel so: Im Jahr 2000 betrug die EinwohnerInnenzahl der Kantone Zürich und Bern zusammen 2,16 Millionen. Das waren rund 30 Prozent der Schweizer Bevölkerung von 7,21 Millionen. Im gleichen Jahr betrugen die FFE-Einweisungen in den beiden gleichen Kantonen zusammen 4480. Angenommen, diese Zahl entspräche auch 30 Prozent der in der Schweiz verfügten FFE, dann ergäbe das für die gesamte Schweiz rund 14’930 Einweisungen.
Der Grund, dass es hier nur Schätzungen gibt, ist folgender: Zwar erhebt das BfS von den Kantonen im Rahmen der «Medizinischen Statistik» «Psychiatrische Zusatzdaten», verlangt sie aber nur fakultativ. Deshalb haben 1998 lediglich 13 Kantone diese Zusatzdaten geliefert, 1999 deren 15 und 2000 deren 17 (die Zahlen für 2001 liegen noch nicht vor). Die ausgewiesenen FFE-Verfügungen stiegen in diesen drei Jahren von 3859 über 6315 auf 6834. Was diese Zahlen bedeuten, ist aus zwei Gründen offen:
• Unterschiedliche Praxis: Während im Kanton Tessin im Jahr 2000 gemessen an der Gesamtzahl der Einweisungen in stationäre Betriebe des Gesundheitswesens deren 2,4 Prozent per FFE erfolgten, waren es im Kanton Zürich 31,8 Prozent (in den psychiatrischen Kliniken Rheinau, Hard und Schlössli gar zwischen 40,4 und 47,2 Prozent).
• Verlässlichkeit der Zahlen: Die FFE-Gesamtzahl entwickelte sich im Kanton Luzern von 82 über 282 auf 64, der Kanton Genf meldete für alle drei Jahre keinen einzigen FFE.
Aber ist dieses Statistikrudiment des BfS überhaupt ein Unglück? Es wird schon alles seine Richtigkeit haben, immerhin ist FFE eine Art Ultima Ratio, die niemand leichtfertig verfügen wird. Jedoch: Sogar wenn das stimmen würde, liegt die FFE-Praxis in einer dreifachen Grauzone:
• Der Rechtsprofessor Marco Borghi hat 1991 in einer Studie nachgewiesen, dass 38 Prozent der formell «freiwillig» Hospitalisierten der Einweisung in eine Klinik nur unter Druck zustimmen oder gar nicht einschätzen können, was mit ihnen geschieht. Die Frage lautet: Wie stark dürfen solche «Pseudo-Freiwilligen» erpresst werden, bis man von FFE sprechen muss? Statt einheitlicher Standards gibt es hier bis heute in den Kantonen nur eine Grauzone.
• Der Psychiater Thomas Maier hat in einer Untersuchung zur «Praxis der Fürsorgerischen Freiheitsentziehung» festgestellt, dass nur gerade 21 Prozent der ausgewerteten ärztlichen Zeugnisse «alle formalen und inhaltlichen Anforderungen» erfüllen, wobei die PsychiaterInnen besser abschnitten als ÄrztInnen ohne psychiatrische Zusatzausbildung («Praxis» 2001, 1575 ff). Das ist die Grauzone der ärztlichen Überforderung und Hilflosigkeit.
• Geht es um FFE, können ÄrztInnen, Vormundschaftsbehörden und RegierungsstatthalterInnen involviert sein. Der Dschungel von kantonal unterschiedlichen Verfahrensweisen und Kompetenzabgrenzungen schafft eine Grauzone für den Missbrauch der FFE als ordnungspolitischer Massnahme.
Jährlich werden vermutlich rund 2 Promille der Bevölkerung versorgt. Tendenz steigend. Gäbe es einen politischen Willen im Land, dann wüsste das Bundesamt für Statistik auch in diesem Bereich Bescheid bis zum letzten Vornamen.