Sommerloch mit Schlägern

Wer hätte da nicht Mitleid? In der Medienmitteilung vom 5. August muss sich die Stadtpolizei Bern auf knapp vierzehn Zeilen wegen Angriffen aus dem Umfeld des Kulturzentrums Reitschule sage und schreibe dreimal zurückziehen. Bürgerkriegsähnliche Zustände? Polizeisprecher Franz Märki präzisiert: Im Monat April habe es einen Angriff gegeben; im Mai vier; im Juni sechs, im Juli drei und im August bisher zwei – vor allem im Zusammenhang mit Kontrollen in der Drogenszene, die die Stadt Bern direkt neben dem Zentrum hat entstehen lassen. In die Scharmützel verwickelt waren Jugendliche aus dem Umfeld der Reitschule, die sich zunehmend als Schläger gebärden. Zum Höhepunkt der Gewalttätigkeiten kam es in der Nacht vom 12. auf den 13. Juli, als die Polizei morgens um vier mit Gummischrot und Tränengas eine Strassensperre räumen musste und ein Polizist durch einen Pflasterstein am Knie leicht verletzt wurde.

Nach diesem Polizeicommuniqué wurde die Reitschule in den Berner Medien zur Chefsache: Andreas Z’Graggen, Chefredaktor der «Berner Zeitung» BZ, behauptete, die Situation sei «unsäglich, nicht akzeptierbar» und verlange «jetzt endlich nach harten Massnahmen». Der Polizeikommandant Daniel Blumer sprach von einer kleinen, agilen Gruppe Militanter, die «mit offensiver Gewalt gegen verfassungsmässige Organe des Rechtsstaats eine Art No-go-area» erzwingen würden: «Damit hat sich in Bern ganz klar ein rechtsfreier Raum etabliert.» Und der «Bund» titelte: «Jetzt muss die Reitschule handeln» – womit er auf die Vollversammlung vom letzten Sonntag abspielte.

Als Ergebnis dieser VV präsentierte die Interessengemeinschaft Kulturraum Reitschule (IKuR) tags darauf folgende Erklärung: «Unter den Anwesenden wurde klar festgehalten, dass die naive und sinnlose Gewalt rund um die Reitschule zu verurteilen ist und in keiner Weise toleriert wird. Diese Aktionen gefährden das Kultur- und Begegnungszentrum und seine Gäste und BetreiberInnen massiv.» An der Pressekonferenz der IKuR waren die AktivistInnen jedoch nicht bereit, der Distanzierung von der Gewalt eine Distanzierung von den Gewaltausübenden folgen zu lassen. Die BZ bezeichnete das VV-Ergebnis denn auch als «enttäuschend».

Die von mehr als hundert Leuten besuchte Vollversammlung brachte «einen Konsens», der, so Silvie von Känel, nicht möglich gewesen wäre, «wenn gewisse Leute nicht ihre Einstellung verändert hätten». David Böhler ist froh, dass es «keine unüberbrückbaren Gräben zwischen den Fraktionen» gebe: «Die Dynamik, die entsteht, wenn sich die Leute entscheiden müssen: ‘Stehe ich auf dieser oder jener Seite?’ macht jeweils sehr viel kaputt.» Für Agnes Hofmann wichtig ist der VV-Entscheid, in den kommenden Monaten das «Manifest» von 1993 neu formulieren zu wollen: «Die interne kulturpolitische Diskussion, die früher die Reitschule zusammenhielt, ist in den letzten Jahren wegen der Professionalisierung und der Etablierung der Räume weitgehend eingeschlafen. Aus dem Diskussionsprozess um ein neues Manifest kann auch eine neue gemeinsame Basis entstehen.»

Friede, Freude, Eierkuchen also? War die Aufregung nichts als «sommerlöcherige Hetze» gegen die Reitschule, wie die IKuR schreibt? Nein. Richtig ist zwar, dass mit den Scharmützeln bei der Reitschule unterdessen Stadtpolitik gemacht wird:

• Polizeikommandant Blumer klagt aus durchsichtigen Gründen darüber, bei der Reitschule könne der «Auftrag nicht mehr mit den ordentlichen Einsatzkräften» geleistet werden, wenn er beifügt: «Will die Stadt den Sicherheitsstandard halten, muss sie Geld in die Hand nehmen und Leute anstellen.» («Bund», 7.8.2003)

• Die Neulancierung des Totschläger-Begriffs vom «rechtsfreien Raum» hat einen ebenso durchsichtigen Zweck: In den nächsten Wochen diskutiert die Stadtregierung den Leistungsvertrag zwischen der Reitschule und der Stadt (die VV hat ihn bereits gutgeheissen). In einem durch willfährige Indiskretion öffentlich gewordenen E-Mail kritisiert die SVP-Polizeidirektorin Ursula Begert den Entwurf im Voraus und hält fest, es sei «ein substantielles Anliegen» in diesem Vertrag festzuschreiben, dass die Polizei bei ihrer Arbeit nicht behindert werden dürfe. («SonntagsZeitung», 10.8.2003)

• Durchsichtig ist schliesslich auch, warum die regierende Rot-Grün-Mitte-Koalition vor der VV opportunistisch laut einen klaren Entscheid gefordert hat und sich nun nach dem unverbindlichen Lippenbekenntnis verdächtig schnell zufrieden gibt: Würde man die IKuR-Probleme genauer anschauen, müsste man schnell auch über die zurzeit inexistente Drogenpolitik der RGM-Regierung sprechen: Wem dient eigentlich die Tatsache, dass die Polizei Junkies und Dealer immer und immer wieder in die Reitschule hineintreibt?

Trotz all dem hat die IKuR ein ungelöstes Gewaltproblem. Was Leute während des Ablassrituals der VV unter Gruppendruck sagen und zu versprechen bereit sind, ist das eine; das andere ist, was sie tun. In Böhners Worten: «Einerseits gab es diese Angriffe auf die Polizei. Aber andererseits haben wir zum Teil mit den gleichen Leuten – häufig betrunken und spät in der Nacht – auch im Haus selber Probleme, Schlägereien, bei denen Besucher und Besucherinnen willkürlich angegriffen werden. Dieser Gewaltfetischismus, der mit Militanz gleichgesetzt wird, muss zum Thema werden.»

Vor zehn Jahren erschoss ein Mann, der damals auf dem Reitschule-Vorplatz in einem Wohnwagen lebte, eine Frau. Auch damals gab es ein IKuR-Communiqué: «Wir sind nicht länger bereit, Leute zu tolerieren, die unter dem Deckmantel der ‘Autonomie’ Herrschaft ausüben […] und andere mit ihrem gewalttätigen Verhalten aus der Reitschule fernhalten.» (WoZ 4/1993) Bis heute stellt die IKuR gegen das staatliche Gewaltmonopol die basisdemokratische Maxime, zu reden bis zum Konsens; und statt verbindliche Abmachungen durchzusetzen, nimmt sie wiederkehrende Krisen in Kauf mit unberechenbarem politischem Rollback, Schlägereien und AktivistInnen, die sich frustriert zurückziehen. Einer von ihnen kommentiert das neuste IkuR-Communiqué auf der Indymedia-Homepage: Der Konflikt sei nicht gelöst, sondern bloss übertüncht, weil «es letzten endes keine sanktionsmöglichkeiten» gebe: «diejenigen, die sich hinstellen würden/könnten, haben keinen bock, sich zum x-ten mal von (post?)pubertären machos die fresse polieren zu lassen. und so geht die geschichte weiter wie bisher.»

Die WoZ veröffentlichte den Beitrag unter dem Titel «Durchsichtige Scharmützel».

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