Walter Gekle ist Oberarzt und Leiter des Kriseninterventionszentrums, einer Abteilung der Universitären Psychiatrischen Dienste Berns. «Während der Weihnachtstage», sagt er, «sind, was die privaten Arztpraxen und viele Ambulatorien betrifft, in der Stadt die Bürgersteige hochgeklappt: Rollladen runter, wir sind in den Ferien.» Deshalb schickt man auf seiner Station die Patienten und Patientinnen vor den Weihnachtstagen wenn immer möglich nach Hause, «wenns vertretbar ist». Bei einer durchschnittlichen Belegung von 99 Prozent kriegt man nur so einige Betten frei. Und die brauchts. Denn wenn in diesen Tagen etwas passiert, dann, sagt Gekle, sei das «um einen Tick dramatischer» als in anderen Zeiten. Wer an Weihnachten in eine Krise gerät, macht zu allem Unglück auch noch das eigene «Fest der Familie» kaputt.
«Tante Milla war in der ganzen Familie von jeher wegen ihrer Vorliebe für die Ausschmückung des Weihnachtsbaumes bekannt.»[1]
Manchmal könne man das «Fest der Familie» und das «Drama der Familie» nicht so genau auseinanderhalten, sagt Familientherapeut Gekle: «Weihnachten eignet sich als Krisenmoment besonders, weil es eine psychologisch hochbesetzte Zeit ist.» Selten mehr als in diesen Wochen ist in den Familien Hochbetrieb: Die Gutzlifabrik in der Küche, die Hetze nach den Geschenken, der Jahresabschluss-Stress bei der Arbeit und in den Schulen. Dazu die hochgeschraubten Erwartungen allenthalben.
«Die Zähigkeit, mit der sie darauf bestand, dass alles ‘so sein sollte wie früher’, entlockte uns nur ein Lächeln.»
Während Jugendliche, die eine Lehre machen, bereits mit neunzehn oder zwanzig vom Elternhaus finanziell unabhängig werden, öffnet sich bei Studierenden eine Schere zwischen psychischer und ökonomischer Entwicklung. Diese Ungleichzeitigkeit führt zur anhaltenden Abhängigkeit von einer Familiensituation, die man eigentlich hinter sich gelassen hat. So bauen sich die Spannungen auf, sagt Gekle: «Die Krisen kommen, wenn die Kinder adoleszent oder junge Erwachsene sind und aus der Struktur der Familie herauswachsen. Sitzen sie dann unterm Weihnachtsbaum, so stimmt das einfach nicht mehr und kann so nicht mehr hingenommen werden.» Dann passierts.
«Als mein Vetter Johannes am Abend des Lichtmesstages begann, den Schmuck vom Baum zu lösen, fing meine bis dahin so milde Tante jämmerlich zu schreien an.»
«Die Küche ist schon aufgeräumt!»
«Ich hatte einen Patienten, einen vierundzwanzigjährigen Mann, der kam seit dem September jenes Jahres in ambulante Behandlung. Beim Weihnachtsessen zu Hause ist er dann zusammengebrochen und war davon überzeugt, einen Herzinfarkt zu erleiden. Man hat ihn sofort ins Spital gebracht, wo man einen normalen Herzbefund feststellte. Die Psyche dieses Mannes hat sich also am Körper ihren Ausdruck verschafft: die Aufregung über die unerträgliche Situation, Herzrasen, Angst. Wir haben diese Episode später zusammen angeschaut und gesehen, dass es in der Familie unter der Oberfläche viele Konflikte gab, über die nicht geredet werden durfte, und dass am Weihnachtsessen selber ein uralter Konflikt reaktualisiert worden ist: Der junge Mann wünschte einen zweiten Teller des Weihnachtsessens. Die Mutter erwiderte, es sei bereits zehn, die Küche aufgeräumt, es gebe nichts mehr zu essen.» Gekles Kommentar: «Alte Familienstrukturen mit Leuten, denen ihre Rollen nicht mehr passen, das ist, wie wenn man Kleider anzieht, aus denen man herausgewachsen ist. Irgendwann reissen sie.»
«Tante Milla schrie so lange, bis mein Onkel Franz auf die Idee kam, einen neuen Tannenbaum aufzustellen. Während die Tante schlief, wurde der Schmuck vom alten Baum ab- und auf den neuen montiert, und ihr Zustand blieb erfreulich.»
«Jahrestagsreaktion» ist ein Begriff aus der Systemtheorie und besagt Folgendes: Biografisch wichtige Daten sind emotional besetzt. Jähren sie sich, so können psychische Rektionen auftreten. Wegen einer Depression wird zum Beispiel eine Frau am ersten Jahrestag des Todes ihres Ex-Freundes, von dem sie sich kurz vor dessen Suizid getrennt hatte, hospitalisiert. Manchmal funktionieren und arbeiten Leute jahrelang ohne Krisensymptome mit einem abgespaltenen unverarbeiteten Trauma. Irgend ein zufälliger Auslöser – «ein Trigger-Reiz», sagt Gekle – führt zur Krise: die Ähnlichkeit von Personen, ein alter Brief oder eben ein Jahrestag. In diesem Land gibt es kaum Leute, für die die Weihnacht nicht ein emotional besetzter Jahrestag und das, was sie mit sich bringt, nicht voller Details wäre, die als Trigger- oder Auslöser-Reiz wirken können.
Der Baum kommt zurück
«Einige vage Versuche, die Feier abzubrechen oder ausfallen zu lassen, wurden mit solchem Geschrei von seiten meiner Tante quittiert, dass man von derlei Sakrilegien endgültig Abstand nehmen musste.»
Freilich ist die Konfliktlinie zwischen den Generationen in diesen Tagen nicht die einzige. Auch zwischen den Eltern der Familie können die Spannungen eskalieren: «Eine schwer depressive Frau ist vor Weihnachten hierher gekommen. Sie wollte sich von ihrem Mann trennen, war aber Zeugin Jehovas. In jener Gemeinschaft bedeutet Auflösung der Ehe gleichzeitig den Ausschluss aus der Gemeinschaft – und nicht nur das: Die Kinder einer solchen Frau werden angehalten, die Strassenseite zu wechseln, wenn sie ihrer Mutter begegnen. Unter dieser Vorstellung und unter den Gewissensbissen, die Familie verlassen zu wollen – und erst noch vor Weihnachten –, ist sie zusammengebrochen.» Sie sei später noch einmal nach Hause, habe es mit einer Art inneren Emigration versucht, immer in der Ambivalenz, gehen und wegen der Kinder doch bleiben zu wollen. Schliesslich, nach fast einem Jahr, sei sie dann gegangen.
«Inzwischen haben die abendlichen Feiern im Hause meines Onkels eine fast professionelle Starre angenommen.»
Insofern die Weihnacht «etwas Stabilisierendes und Strukturierendes im Chaos der völligen Freiheit» hat, sei sie ein Ritual, sagt Gekle, und habe gerade deshalb eine eminente gesellschaftliche Bedeutung: Sich von Ritualen als privaten Inszenierungen zu emanzipieren, ist ein Akt der Befreiung gegen den Familienzwang. Gerade die jungen Erwachsenen durchschauen ihn, leiden unter ihm und verweigern deshalb das Ritual. Trotzdem sitzen sie gewöhnlich einige Jahre später wieder unter einem Weihnachtsbaum. Gekle: «Kaum hat man eigene Kinder, bewirkt der soziale Druck, dass man doch wieder einen Baum in der Wohnung stehen hat. So kommt etwas zurück, von dem man dachte, man hätte es hinter sich gelassen.» Umso mehr, als nun auch die Grosseltern einbezogen werden wollen – und zwar die Grosseltern A und die Grosseltern B. Und zwar am liebsten an zwei verschiedenen Veranstaltungen.
«Onkel Franz war der erste, der die Idee hatte, sich von einem Schauspieler bei der abendlichen Feier vertreten zu lassen.»
Wer über die Weihnachtstage in Berns Kriseninterventionszentrum bleibt, kann mitbestimmen, ob die Station dekoriert werden soll oder nicht, ein Weihnachtsbaum und Dekorationsmaterial stehen zur Verfügung, wenn sie gewünscht werden. Aber manche haben kein Interesse, seis, weil sie intensiv mit ihrem Innenleben beschäftigt sind, seis, weil sie einen anderen kulturell-religiösen Hintergrund haben.
«Inzwischen ist es mir gelungen, durchzusetzen, dass die Kinder durch Wachspuppen ersetzt werden.»
Walter Gekle rechnet über Weihnachten und Neujahr nicht mit grösseren Problemen, weil die Feiertage diesmal auf die Wochenenden fallen. Schwieriger sei es jeweils, wenn Heiligabend auf Dienstag oder Mittwoch falle und für fast eine Woche nur noch ein Notfalldienst betrieben werde. Aber sonst? «Man soll Weihnachten nicht zu etwas Speziellem machen. Es ist übertrieben zu sagen, eine psychische Krise an Weihnachten sei besonders schlimm. Zwar besteht die Gefahr, dass eine Krise durch die individuelle und gesellschaftliche Bedeutung der Feiertage und dadurch verschärft wird, dass lediglich eine Notfallversorgung garantiert werden kann. Aber psychisches Leid ist immer besonders schlimm. Für die Betroffenen und die Angehörigen bleibt eine Krise sowieso schmerzhaft – egal, wann sie passiert.»
«Jedenfalls: Die Feier wird fortgesetzt.»
[1] Die Zitate stammen aus Heinrich Böll: Nicht nur zur Weihnachtszeit, München (dtv). 1966, S. 7-34. Sie sind zum Teil gestrafft und leicht adaptiert.