Lorenz Lotmar als Vorwand

Unter dem Titel: «Der Mensch ist ein Fragment des Affen» verspricht das Zürcher Neumarkt-Theater seit letzter Woche einen «Theaterabend mit Fragmenten von Lorenz Lotmar» (Programmheft). Das Dargebotene ist unterhaltend. Ob’s viel mit Lotmar zu tun hat, bleibt Glaubenssache. Zu sehen ist eine dramaturgisch sparsam verbundene Aneinanderreihung von zwanzig Szenen. Zu sehen sind «Bruchstücke, Entwürfe, Skizzen, von denen wir ausgingen und die wir zu einem Spielgerüst montiert haben, das in seiner offenen Form das Fragmentarische, das Unabgeschlossene, Unabschliessbare der Texte widerspiegelt», so Dimitris Depountis, der zusammen mit Martin Rengel dieses Spielgerüst gebaut hat. Im genauen Wortsinn «irgendwie» ist an diesem Theaterabend der Schriftsteller Lorenz Lotmar (1945-1980) und sein Grundthema – die notwendige Zerstörung der menschlichen Identität in einer totalitär verwalteten Welt – gegenwärtig. Variiert wird dieses Thema in einer kurzweiligen Revue mit verschiedenen Highlights der SchauspielerInnen und TänzerInnen, destilliert wird’s aus der tragischen Befindlichkeit des Selbstmörders Lotmar, transponiert zu kafkaeskem Fast food, serviert als Bilderreigen menschlicher Zerstörtheit, den man als metaphorisches Ringen um den aufrechten Gang freundlich beklatscht. Die Bilder sind durchwegs schauderhaft nett, nirgends wird das Grauen freigesetzt, das diesen Bildern zugrunde liegt.

Unklar bleibt leider, was die Darbietungen im einzelnen mit Lotmar zu tun haben, der ein einziges, bisher unveröffentlichtes Theaterstück geschrieben hat («Die Unsterblichen»). Aber das ist nicht Thema dieses Theaterabends. Deshalb geht es im Neumarkt nicht um eine Arbeit von Lotmar, sondern um eine seiner Exegeten Rengel und Depountis.

Soviel wird klar: Zur Montage der zwanzig Nummern sind Lotmars Werk und Biografie lustvoll zerschnippselt worden und aufgrund von Interessen, die nicht jene Lotmars sind, neu zusammengesetzt worden. Teile der Fragmentansammlung sind wiedererkennbar. Zum Beispiel trägt ein Schauspieler eindrücklich das Prosastück «Der Peripherist» vor (nachzulesen im orte-Heft 52/1985). Oder eine Braut mit weissem Schleier reitet auf dem Rücken des kriechenden Bräutigams über die Bühne: ein wichtiges Motiv aus dem ersten Teil des Romans «Die Opferung». Oder auf erhöhtem Podest sitzt gelangweilt ein Musiker mit kurz geschnittenen Haaren am Schlagzeug: eine Anspielung auf die Biografie Lotmars, der sein Geld jahrelang widerwillig als Schlagzeuger in Unterhaltungsformationen verdient hat (und auf allen bekannten Fotografien kurzgeschnittene Haare trägt). Auf einem gegenüberliegenden Podest steht ein zweites Schlagzeug, das ganz für sich zu spielen beginnt: eine Anspielung auf den Musiker Beppo, der im ersten Teil der «Opferung» versucht, eine Musikmaschine zu konstruieren, die ihn als Musiker ersetzt. In einer Nummer ist von einem Humanexperiment in Wohnwaben die Rede, ihr liegt vermutlich das unveröffentlichte Fragment «Die Wabe» zugrunde, das im Programmheft erwähnt wird. Den dramaturgischen roten Faden bildet ein in sieben Teile zerlegter Dialog zwischen Henker und Opfer, ein zentrales Motiv aus dem zweiten Teil der «Opferung» et cetera.

Wieviel Dargebotenes in irgendeiner Weise auf Lotmar zurückgeht, bleibt Glaubenssache. Einerseits ist Lotmars Werk bis heute nur teilweise publiziert (die vier Romane im orte-Verlag, einige kurze Stücke verstreut in Zeitschriften). Andererseits belieben jene, die Lotmar kannten (zum Beispiel Nachlassverwalter Hartmut Gürtler), den Schriftsteller zum biografielosen tragischen Genie zu stilisieren (sieheWoZ 26/1991). Spätestens aber bei jenen Nummern, die ganz ohne Sprache auskommen, verschwindet Lotmar endgültig hinter der Einbildungskraft von Rengel und Depountis: Sie erfinden sich einen Autor, für den Lotmar als Vorwand dient. Rengel sieht Lotmar denn auch «als jemand, der sehr viel Raum gibt für das, was ein Schauspieler an Unaussprechlichem - aber eben doch Kommunizierbarem – einbringen kann und soll.» Dummerweise ist Lotmar tot und gibt gar keinen Raum. Raum gibt höchstens der von Rengel erfundene Lotmar, also Rengel sich selbst. Das einzige, was sich mit Sicherheit sagen lässt, ist, dass Lotmar den grössten Teil der verwendeten Textfragmente nicht für die Bühne geschrieben hat. Woher wissen die Monteure dieses Theaterabends, ob Lotmar dieses multimediale Schnipselwerk in seiner Zufälligkeit und Beliebigkeit nicht als vollkommenen Mist abgetan hätte? Das Programmheft erwähnt, Lotmar habe «ein Werk von über 10000 Seiten» hinterlassen. Daraus liessen sich zweifellos Dutzende von unterhaltenden Theaterabenden gestalten – alles irgendwie Lotmar.

Trotzdem: Hingehen, anschauen! Denn Exegeten haben auch ihr Gutes: Sie verweisen auf den gedeuteten Text trotz der Selbstinszenierung, mit dem sie ihn überdecken. 

In der WoZ, wo der Text unter dem Titel «Lotmar als Vorwand» erschienen ist, wurden aus Platzgründen einige Sätze weggestrichen. Sie sind hier wieder eingefügt. 

Aktuell

Zum Projekt

 

Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


v11.5