Krieg auf den Tellern


Der nachfolgende Text ist zum grossen Teil im «Aufbruch», der «unabhängigen Zeitschrift für Religion und Gesellschaft», Nr. 173 / 2010, veröffentlicht worden – allerdings nicht unter meinem Namen. Der Auftrag der Redaktion hatte gelautet, als Reporter den Ostermarsch, der in Bern stattfand, zu begleiten und einen Bericht zu verfassen. Abgeliefert habe ich den Text, der hier dokumentiert wird.

Was dann passierte, belegt meine E-Mail vom 13. April 2010 an die Redaktion der Zeitschrift: «Lieber Wolf / Nachdem Du mir erklärt hast, dass eine mir nicht bekannte Kollegin einen Teil meines Artikel ersetzt mit Material, das ich nicht kenne, bestätige ich Dir meinen Entscheid wie folgt: / 1. Ich verbiete dem ‘Aufbruch’ in aller Form, im Zusammenhang mit dem, was schliesslich gedruckt werden wird, meinen Namen zu erwähnen. / 2. Falls die Redaktion Teile meines Textes im Sinn eines Presserohstoffes verwenden will, bin ich damit einverstanden. / 3. In Bezug auf das Honorar habe ich Verständnis dafür, dass mir nicht 800 Franken, sondern ein angemessenes Ausfallhonorar von mindestens 400 Franken überwiesen wird. /Mit freundlichen Grüssen.»

Der Vergleich des Nachfolgenden mit der Druckversion zeigt, dass der Text bis vor den  letzten Abschnitt des Lauftexts abgedruckt worden ist (samt meinem Titelvorschlag, der sich aus meiner Sicht allerdings auf den weggestrichenen Kommentar bezog). Der letzte Abschnitt und der Kommentar wurden weggeschnitten und durch Fremdtext ersetzt. Der Artikel erschien mit der Autorenzeile «Redaktion: Sabine Schüpbach, Wolf Südbeck-Baur». Die Zeitschrift überwies 800 Franken Honorar.

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5. April 2010, Eichholz bei Bern, Besammlung zum diesjährigen Ostermarsch: Ein Grossaufmarsch sieht anders aus. Wenige hundert Leute sind es, ein bunter Haufen mit regenbogenfarbenen Friedensfahnen: Jugendliche, Familien mit Kinderschar, skeptisch blickende Mittelalterliche und nicht wenige Weisshaarige mit offenen Gesichtern. Mag sein, die ältesten waren schon in den sechziger Jahren dabei, als es gegen die atomare Aufrüstung des eigenen Lands ging.

Dann tritt die argentinische Biologin Javiera Rulli ans Mikrofon und sagt: «Heute leben mehr als Tausend Millionen Hungernde auf dieser Erde, Tausend Millionen Hungernde, die uns als Menschheit beschämen. Tausend Millionen Menschen mit ihrem Hunger, der jede Möglichkeit von Frieden und von konstruktiven Dialogen auf diesem Planeten in Frage stellt, weil er eine Beleidigung ist für die Vernunft und die Würde der menschlichen Spezies.»

Das Desinteresse der Öffentlichkeit

Aber ist dieser Ostermarsch denn mehr als das jährliche Ritual einiger Gutmenschen? Zu Beginn des Irakkriegs, im Frühling 2003, war die Friedensbewegung letztmals wirklich präsent. Ihr Aufschwung dauerte weniger lang als jener Krieg. Wird die Friedensbewegung seither nicht Jahr für Jahr kleiner?

30. März 2010, Bundesplatz in Bern, Medienorientierung der Trägerschaft des bevorstehenden Ostermarsches 2010. Es soll um die Ernährungssouveränität gehen, Motto: «Frieden auf den Feldern – Frieden auf dem Teller!» Auskunft geben Vertreter und Vertreterinnen der Fachstelle Oekumene Mission Entwicklung (OeME), der GSoA, der Bauerngewerkschaft Uniterre und der entwicklungspolitischen Organisation «Brot für alle».

Dieses Gremium begrüsst schliesslich die Journalistin eines Berner Lokalradios und den Berichterstatter des «Aufbruchs». Sonst niemanden. Die Friedensbewegung ist auch deshalb so klein, weil das mediale Desinteresse so gross ist. Immerhin hat der diesjährige Ostermarsch, der seit 2003 in Bern durchgeführt wird, nie eine grössere und breitere Trägerschaft gehabt als diesmal. Über vierzig Organisationen unterstützen: ernährungs-, friedens- und entwicklungspolitische, dazu kirchliche jeder Couleur: katholische, reformierte, evangelisch-methodistische, mennonitische.

Was Essen mit Frieden zu tun hat

Aber was soll das Thema «Ernährungssouveränität»? Landwirtschaftspolitik, weil friedenspolitisch nichts läuft? Wer so fragt, hat noch die Friedensbewegung zurzeit des Kalten Kriegs im Kopf. Damals wehrte man sich mit gutem Grund in erster Linie für die Verhinderung einer unabsehbaren, militärisch herbeigeführten Menschheitskatastrophe.

Aber gewusst hat man schon immer: Jede Art von Gewalt verhindert Frieden, auch strukturelle. Darum rückt der Berner Friedensmarsch alljährlich einen anderen Aspekt der Friedensarbeit ins Zentrum: internationale Solidarität, Gewaltprävention, Gewalt gegen Frauen, Aspekte der Globalisierung, internationalen Waffenhandel, privaten Waffenbesitz, Fremdenhass und Rassismus. Und in diesem Jahr eben die Ernährungssouveränität.

Denn das Fehlen des Essens, also der Hunger, ist nicht Schicksal, sondern Gewalt. Darum verhindert umgekehrt der gesicherte Zugang zu Ressourcen wie Land, Wasser und Saatgut Konflikte. Dabei meint «Ernährungssouveränität» mehr und anderes als blosse Selbstversorgung: Sie ist ein politisches Konzept, das besagt, dass Volksgruppen und Staaten ihre Landwirtschafts- und Ernährungspolitik selber bestimmen sollen. Gemeint ist also vorab die demokratische Selbstbestimmung von Produzierenden und Konsumierenden: Zu welchem Preis wird was wo und wann anbaut?

Dieses Konzept steht diametral im Widerspruch mit den Interessen des Agrobusiness: Transnationale Konzerne treiben heute die weltweite Industrialisierung der Nahrungsproduktion voran, indem sie mit dem Rendite- und Effizienzdenken des Industriekapitalismus wachsende Landstriche in Südamerika, Afrika und Asien kolonialisieren. Die lokalen landwirtschaftlichen Strukturen werden zerstört, die Kleinbauern von ihrem Boden vertrieben und zu Landlosen macht, die vom Kauf von – nicht selten importierten – Nahrungsmitteln abhängig werden. Wer kein Geld hat, hungert.

Seit einigen Jahren spricht man von «Land grabbing»: Mittels Käufen oder Pachtverträgen übernehmen Konzerne und Staaten riesige Agrarflächen, auf denen in Monokultur Getreide angebaut wird. Verkauft wird es als Tierfutter und als Rohstoff zur Herstellung von Agrotreibstoff. «Land Grabbing» heisst konkret, dass seit 2004 zum Beispiel in den afrikanischen Staaten Äthiopien, Ghana, Madagaskar, Mali und Sudan bis zu 2,5 Millionen Hektar Land an Investmentfonds, transnationale Konzerne und ausländische Regierungen verpachtet oder verkauft worden sind – meist ohne Wissen der betroffenen Bevölkerung.

An der Medienkonferenz hat unter anderen Reto Sonderegger (Uniterre) informiert. Er ist letztes Jahr aus Paraguay zurückgekehrt. Dort gehören 75 Prozent des Bodens einem Prozent der Bevölkerung. Mit Soya-Monokulturen wird der Gewinn maximiert, Mangel- und Unterernährung bei den vertriebenen Kleinbauern nehmen zu. Auf die Frage, ob er wirklichen Hunger gesehen habe, antwortet er: «Ich habe einmal ein zweijähriges Kind gesehen, das fünf Kilo gewogen hat.» Miges Baumann («Brot für alle») zieht die politische Schlussfolgerung: «Es gibt ein Menschenrecht auf Nahrung. Dieses Menschenrecht muss über dem Handelsrecht stehen.»

Wieviel Globalisierung wollen wir?

Unterdessen ist der Ostermarsch der Aare entlang in die Berner Altstadt gezogen. Auf dem Münsterplatz finden sich schliesslich gut 800 Leute ein. Jetzt spricht Angeline Munzara (Food for Life Campain) aus Zimbabwe. Sie sagt, dass Konzerne wie Syngenta und Monsanto unterdessen mehr als 67 Prozent der weltweiten Saatgutproduktion kontrollieren und das von Kleinbäuerinnen hergestellte, lokal angepasste Saatgut bedrohen. Sie fordert: «Iss was du anbaust und baue an, was du isst.»

Weil diese Forderung staatlichen Protektionismus zum Schutz der kleinbäuerlichen Tradition einschliesst, verweist Munzara damit auf einen zentralen weltpolitischen Konflikt: Ernährungssouveränität ist mit der globalisierten Weltwirtschaft nicht vereinbar.

Eine grenzenlose Ernährungsindustrie mag gut sein fürs Geschäft der Konzerne, für den Frieden ist sie es nicht. Das vergisst man gern zwischen den Food-Regalen der Selbstbedienungsläden, aber bestreiten kann man es nicht: Wer möglichst billig möglichst Vieles vor sich hinmampft, unterstützt mit grosser Wahrscheinlichkeit jenen Krieg, der anderswo mit der Waffe des Hungers geführt wird. Daran hat der diesjährige Ostermarsch erinnert. Es sind nicht nur Grossaufmärsche wichtig.

 

[Kommentar]

[TITEL]

Zu Ende gegangen ist der diesjährige Ostermarsch mit einer Schlusskundgebung auf dem Münsterplatz in der Berner Altstadt. Gut 800 Leute sind schliesslich dort zusammengekommen: definitiv kein Grossaufmarsch der Friedensbewegten.

Am Thema Ernährungssouveränität kann es nicht gelegen haben: Die Frage, wer die eigene Nahrung wie produziert und ob man sie zu einem gerechten Preis auf den Teller bekommt, müsste ja alle Menschen beschäftigen. Rahel Ruch, als GSoA-Sekretärin Mitorganisatorin des Marsches, sagt, wegen dieses Themas gebe es «zum Glück keinen Leidendruck», auf die Strasse zu gehen. «Aber den Organisatorinnen und Organisatoren des Ostermarsches ist es gerade wichtig, Themen abseits der politischen Konjunktur aufs Tapet zu bringen.»

Für Frieden oder Brot geht man wohl immer erst auf die Strasse, wenn sie fehlen. Wie könnte man in Konkurrenz zu den Osterfestessen landauf landab breitenwirksam darauf aufmerksam machen, dass unser Brot gerade deshalb so reichhaltig ist, weil eine Milliarde Menschen auf dieser Welt permanent Krieg haben auf ihren Tellern?

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