Jagd auf saubere Spritzen

Nach dem politischen Willen der Berner Stadtregierung sollen sich die Gassenjunkies jetzt endlich in Luft auflösen. Daneben tun alle nur ihre Pflicht.

21. November 1989: Der Grosse Rat des Kantons Bern spricht einen Zweimillionen-Kredit für zwei neue Anlaufstellen für Drogensüchtige in der Stadt Bern. Dass «jeder Versuch, das Drogenproblem mit prohibitiven Massnahmen zu bekämpfen, fehlgeschlagen» ist, wissen in Fraktionserklärungen folgende Parteien: SP, EVP/LdU, die FL/JB und die FDP. Besonders vehement kämpft der SVP-Grossrat Hermann Weyeneth für die Anlaufstellen: «Süchtige brauchen etwas Besseres als das billigste Pissoir der Stadt.» («Berner Zeitung», 22.11.1989) Heute, ein Jahr später, vertreibt die Stadtpolizei obdachlose Junkies morgens um drei aus den WC-Anlagen des Hauptbahnhofs.

«Repressiver denn je» schätzt Hans Peter Wermuth, Projektleiter der Anlaufstelle Nägeligasse, den Umgang der Stadt Bern mit den Junkies der offenen Drogenszene ein. Vor allem bei schlechtem Wetter, wenn wenig ZeugInnen auf der Gasse sind, geht die polizeiliche Vertreibung weiter (siehe WoZ Nr. 49/1990). Während die Stadt zur Zeit vollgepflastert ist mit AIDS-Aufklärungsplakaten, beschlagnahmen einzelne Polizisten bei den Personenüberprüfungen neuerdings nicht nur Drogen, sondern auch gleich die sauberen Spritzen. Offiziell lautet ihr Auftrag: Spritzen für den Eigenbedarf dulden, grössere Mengen, die verkauft werden könnten, sicherstellen und bei der Drogenfachstelle Contact abliefern (wo man sich bemüht, sie so schnell wie möglich wieder auf der Gasse in Umlauf zu bringen).

In der Anlaufstelle Nägeligasse, wo eigentlich mit den Auflagen Dealverbot, Fixen nur unter Aufsicht und Wegweisung der Minderjährigen gearbeitet werden müsste, ist die Lage weiterhin prekär. Zivilpolizisten überwachen den Eingang, Ausgeschriebene werden gleich mitgenommen. Das völlig überlastete Team hat von den Verantwortlichen der Drogenfachstelle Contact die Kompetenz erhalten, die Anlaufstelle zu schliessen, wenn es gar nicht mehr geht. Wermuths Hoffnung ist es, dass kirchliche Kreise über Weihnachten einen geheizten Raum als zweite Anlaufstelle anbieten werden. Dort ist jedoch in dieser Richtung «nichts in Diskussion», so Ueli Stucker vom Kirchlichen Amt für Drogenfragen. Die von diesem Amt unterstützte Gassenküche hat seit der Schänzli-Räumung am 30. November ihre Kundschaft verloren.

Der in der Regierung in die Minderheit versetzte Gesundheitsdirektor Klaus Baumgartner (SP) ist zur Zeit derart hilflos, dass seine Beteuerung gegenüber der WoZ glaubwürdig klingt, die Drogenabhängigen täten ihm «schampar leid», und er leide darunter, dass er ihnen nicht helfen könne. Wunder könne er jedoch keine vollbringen. Er sei der Meinung, dass zumindest kleine Treffpunkte der offenen Drogenszene geduldet werden müssten. Aber zur Zeit geht gar nichts: Die letzte Woche vom Gemeinderat zur Beruhigung der Öffentlichkeit auf «raschmöglichst» angekündigte zweite Anlaufstelle Murtenstrasse 26 besteht aus zur Zeit noch bewohnten städtischen Sozialwohnungen, für deren BewohnerInnen Ersatzwohnungen gefunden werden müssen (wogegen sich diese bei Baumgartner bereits schriftlich gewehrt haben). Danach muss umgebaut werden und das «Contact» muss ein Betriebsteam zusammenstellen. Die Anlaufstelle Murtenstrasse öffnet nicht vor dem Frühling 1991.

Der Stadtpolizei gelingt es nicht, die offene Drogenszene zu zerschlagen, der Gesundheitsdirektion gelingt es nicht, die offene Drogenszene zu unterstützen. Die Situation ist absolut verfahren und perspektivenlos. Selbsthilfe tut not.

In der WoZ erschien der Artikel unter dem Titel «Vertreibung aus dem Pissoir». Der hier gesetzte entspricht dem von mir damals vorgeschlagenen. 

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