Hofnarren an der Front

Auch das Bundeshaus wird 1991 von der flächendeckenden Jublerei nicht verschont bleiben. Dafür ist vor allen andern der freisinnige Solothurner Ständerat Max Affolter besorgt. Kein Wunder; als vorprogrammierter Ständeratspräsident des Jahres 1991 wird er die Selbstbeweihräucherung des Parlaments in den vorteilhaftesten Kameraeinstellungen miterleben.

Affolter hat eine parlamentarische Arbeitsgruppe ins Leben gerufen, der die Ständeräte Alois Dobler (CVP) und Hubert Reymond (Lib.); die Nationalräte Fritz Hösli (SVP), Roland Wiederkehr (LdU) und Arthur Züger (SP) sowie als einzige Frau die Nationalrätin Monika Stocker (Grüne) angehören. Die Gruppe hat ein Jahr lang nachgedacht und dann beschlossen, das Gesamtbudget von gut 400000 Franken auf drei Veranstaltungen zu verteilen: Auf eine «Frauensession» (am 7./8.2.1991), eine «Jugendsession» (am 26.9.1991) und eine «Festsitzung» der vereinigten Bundesversammlung (am 2./3.5.1991).

An dieser Festsitzung - so Affolters Idee - soll es vaterländisch feierlich werden wie früher, als der Feind noch im Visier war: Nach einem warmen Empfang der Potentaten von nah und fern im Berner Rathaus sollen sich diese in einem heftig bejubelten Festumzug ins Bundeshaus verschieben, allwo tirilierende Jugendchöre aus allen vier Sprachregionen mit Musik und anderen Darbietungen die Festgemeinde empfangen werden. Gegenseitig abgrundtief in die Augen blicken sich in dieser ernsten Stunde sodann die in der Bundesversammlung Vereinigten (unten im Saal), sowie der Gesamtbundesrat, die Delegierten kantonaler Exekutiven und die ebensolchen des Bundesgerichts (oben auf der Tribüne). Kurz nachdem die Fernsehkommentatorenstimme vor Ehrfurcht zu stottern beginnt, öffnet sich der Vorhang und an der wohlbekannten Stätte profanen Parlamentierens geht jetzt ein richtiges «Sinnspiel» in Szene. O Überhöhung der alltäglichen Realsatire! O summa dignitatis et gloriae! Diesmal ist das Theater professionell! – Verantwortlich dafür zeichnen Hansjörg Schneider (Text) und Lukas Leuenberger (Regie). Der Verkauf der Textbücher und des Videomitschnitts als Erinnerungsstücke fürs gemeine Volk ist vorgesehen. Wie wir uns da aber freuen.

Als Regisseur ist Leuenberger Affolters Wunschkandidat. An ihn habe er von Anfang an gedacht: «Der hat einiges aufgeführt, das man hat anschauen  können.» Zum Beispiel 1988/89 das Ringier-gesponserte, monumentale Freilichtspektakel «Die schwarze Spinne» in Trachselwald (die dramatische Bearbeitung der Gotthelf-Novelle hatte Hansjörg Schneider besorgt). Damals konstatierte Isabell Teuwsen im «Tages-Anzeiger» nach der Premiere Leuenbergers «abwesende Regie» und fragte sich: «Ist die Krankheit Elefantiasis unheilbar?» Für die «Berner Zeitung» hielt Urs Dürmüller fest: «Die Phantasie aber hat er mit den Gags seiner hyperrealistischen Show erschlagen.» Die NZZ ihrerseits sprach vom «Mythos als Kasperleade» und von einem «massgeschneiderten ‘Schickimicki-Heimatschutztheater’».

Das waren für Affolter der Referenzen genug. Als das Duo Schneider/Leuenberger nach längerer Bedenkzeit signalisierte, dass es den Auftrag übernehmen werde, wurde das Projekt letzte Woche publik gemacht. Gegenüber der WoZ hält Affolter fest, von ihm her gebe es für das Stück keine inhaltlichen Vorgaben. Ausser, dass es sich um ein Sinnspiel handeln müsse, das in künstlerischer Art und Weise auf das 700-Jahr-Jubiläum eingehe. Und ausser dass er sich als Präsident der Arbeitsgruppe vorbehalte, die Arbeit zu begleiten: «Ich werde mich schon noch einschalten im Laufe der Arbeit. Einfach weil's mich interessiert.»

Der Geschäftsmann Leuenberger, der seit einigen Jahren publikumswirksam wohlfeiles «Theater am Tatort» verdealt, möchte das «Sinnspiel» als «Theateraufführung» verstanden wissen, die sich in irgendeiner Weise mit dem Nationalratssaal beschäftigen soll: Theater am Tatort, vor dem exklusiven Publikum der versammelten TäterInnenschaft. Damit geht für Leuenberger ein Traum in Erfüllung: «Es ist wirklich schön, an diesem Ort, zu diesem Zeitpunkt und vor diesem Publikum die Hofnarrenfreiheit zurückerobern zu können. Am Hof mit den Mitteln des Theaters Stellung nehmen zu können, das ist eine wichtige Chance. Das löst mehr aus, als wenn ich ins Offside eines Kellertheaters gehen würde. An die Front gehen, das ist das Entscheidende.» Ein Boykott dieses Ancien-régime-Spektakels käme für ihn einer «Selbstentmannung» gleich.

Hansjörg Schneider, der sich seit den frühen siebziger Jahren als Dramatiker einen nicht unbedeutenden Namen gemacht hat («Sennentuntschi», 1972; «Der Erfinder», 1973; «Der Brand von Uster», 1975 etc.), ist zur Zeit erschrocken über seinen eigenen Mut. Einen ersten Interviewtermin mit der WoZ verschiebt er, den zweiten sagt er kurzfristig ab. Tags darauf trifft immerhin eine schriftliche Stellungnahme zum Kulturboykott-Aufruf ein: «Ich habe die Erklärung deshalb nicht unterschrieben, weil ich immer noch davon ausgehe, es sei besser, etwas zu machen als nichts zu machen. Für diesen Entscheid bin ich mir gegenüber verantwortlich und vielleicht noch einigen Kolleginnen und Kollegen, aber sicher nicht der WoZ. Ich kann doch nicht etwas, was ich gern tun würde, nur deshalb nicht tun, weil die WoZ möchte, dass ich es nicht tue.» (In diesem Punkt sind wir uns vollkommen einig.)

Dres Balmer, Präsident der Schweizer Autorinnen und Autoren Gruppe Olten, der auch Schneider angehört, kommentiert: «Ich finde den Boykottaufruf nach wie vor richtig, aber ich will nicht, dass es zu einer Spaltung der Gruppe Olten kommt. Wir können unseren Mitgliedern keine Vorschriften machen. Andererseits ist es nicht zu vermeiden, dass jene Mitglieder, die ihr CH-700-Projekt weiterverfolgen wollen, in ein Dilemma kommen.»

Die vorliegende Textfassung entspricht jener in: Fredi Lerch, Andreas Simmen [Hrsg.]: Der leergeglaubte Staat. Kulturboykott: Gegen die 700-Jahr-Feier der Schweiz, Zürich (WoZ im Rotpunktverlag) 1991, 49-51.

Wie stark ich den Streit mit dem prominenten Gruppe Olten-Autor Hansjörg Schneider, der mir ein «Streikbrecher» zu sein schien, gesucht habe, zeigt mein durch einen Märchenton-Lead halbwegs motivierten Titelvorschlag: «Das tapfere Schneiderlein». Wie stark der Artikel umgekehrt Schneider verletzt haben muss, zeigt einerseits seine Replik in der «Weltwoche» vom 3.5.1990, in der er sich über die «Schnüffelmethoden» der WoZ «am Telefon» beklagte, für die ich verantwortlich war[1]; andererseits die Tatsache, dass der titelgebende «Flattermann», der in Schneiders zweitem Hunkeler-Kriminalroman Selbstmord begeht, «Freddy Lerch» heisst.[2] 

[1] Fredi Lerch, Andreas Simmen [Hrsg.] a.a.O, S. 77 f. – Auf Schneiders Angriff antwortete die WoZ damals in der «hausmitteilung» von Nr. 19/1990 – sie findet sich hier unter Anmerkung [1].

[2] Hansjörg Schneider: Flattermann. Roman, Zürich (Ammann Verlag) 1995, S. 17 (und danach öfter). 

Aktuell

Zum Projekt

 

Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


v11.5