Gutgemeinte Welterklärung

Das neue Buch von Peter Fahr ist da, ein Band mit Aphorismen und Aufsätzen aus gut zehn Jahren. Das Vorwort hat Jean Ziegler geschrieben, auf der Buchbinde erweisen Hans A. Pestalozzi («ein starkes Buch»), Alfred A. Häsler («ein Glücksfall») und Luise Rinser (ein «wichtiges Zeitdokument») ihre Referenz. Das vom Verlag zugeschickte Pressefoto zeigt den Autor, mit erhobenem Zeigfinger auf Michail Gorbatschow einredend. Wenn Fahr spricht, merkt die Welt auf.

Sein Buch gliedert sich in fünf grosse Abschnitte. Sie heissen «Krieg und Frieden», «Kultur und Barbarei», «Zorn und Zärtlichkeit», «Schöpfung und Zerstörung», «Knechtschaft und Freiheit». Darin sind teils in verschiedenen Medien erstveröffentlichte, teils bisher ungedruckte Aufsätze thematisch geordnet. Dazwischengeschoben sind kurze, auflockernde Sequenzen mit Aphorismen. Erschienen ist das Buch im Selbstverlag, finanziert wurde es von ungefähr hundertzehn GönnerInnen.

Für Fahr ist klar: Die «Suizidgesellschaft» kann nur durch das verantwortlich handelnde Individuum gerettet werden, und wer sich zur Fahr-Lesegemeinde zählt, fühlt tief im Innern: Eines dieser Individuen muss der Autor sein. «Ich bin Schweizer, Europäer und Weltbürger», sagt er von sich selber, «ich glaube an eine Welt der Partnerschaft mit allen Völkern und Nationen, Pflanzen und Tieren. Ich wünsche mir einen globalen Bund souveräner, demokratischer, armeefreier und ökologisch orientierter Staaten.» Dagegen ist nichts einzuwenden: edel gedacht, in grosse Worte gefasst und gelassen ausgesprochen. Wer wäre nicht auch dieser Meinung, irgendwie? Damit ist allerdings auch die Crux von Fahrs gesellschaftskritischen Versuchen umschrieben. Die grossen Wörter, die sich in Fahrs Texten in jedem Abschnitt ereignen, sind Abgründe der Hohlheit («Nach der Auflösung der Sowjetunion und den politischen Umwälzungen in Mitteleuropa herrscht ein Klima der Verunsicherung auf dem Kontinent»), die Sätze torkeln auf der Grenze zwischen dem Ungefähren und dem Banalen («Erkenntnis ist ein sozialer Prozess») und gehen ab und zu im endgültig Läppischen unter («Für den Faschisten heiligt der Zweck die Mittel»). Apodiktisch und mit dem weltmännischen Gestus eines altgedienten Starkolumnisten (Zwischentitel: «Ratschläge für angehende Schriftsteller») lässt er seine Traktätchenweisheiten in den literarischen Tiefgängen widerhallen. Dauernd tut er so, als ob er (fast) alles wisse. Aber allzuhäufig merkt man: Fast nichts weiss er genau. Deshalb sind seine Argumente zwar immer gut gemeint, doch selten gut.

Trotz all meiner Vorbehalte habe ich vor Fahrs kontinuierlicher schriftstellerischer Arbeit Respekt. Der in Bern lebende Autor ist einer der wenigen seiner Generation (Jahrgang 1958), der das Risiko des freien schriftstellerischen Schreibens überhaupt noch auf sich nimmt: Seit 1980 bietet er Zeitungen und Zeitschriften kontinuierlich seine Aufsätze und Gedichte an. Daneben hat er in den achtziger Jahren drei beachtete und diskutierte Plakataktionen gemacht («Aphorismen», 1982; «Autod», 1983; «Dialog mit der schweigenden Mehrheit», 1988) und mehrere Bücher publiziert («Berner Kälte», 1983; «TagTraumLiebe», 1985; «Nächte, licht wie Tage», 1990).

Um einen wie Fahr muss man froh sein, weil er mit dem, was er macht und wie er es macht, immer wieder die Frage stellt: Welche Möglichkeiten hat heute einer, der – ohne eine Lobby im Rücken zu haben – darauf beharrt, das, was er halt für seine eigene, für das Fortkommen der Menschheit unabdingbare Erkenntnis hält, mit literarischem Anspruch öffentlich zu machen? Fahrs intellektuelle Holprigkeiten provozieren doch immer wieder zur Überprüfung von eigenen Positionen.

Peter Fahr: Ego und Gomorrha. Texte wider die Suizidgesellschaft, Bern (Nemesis Verlag), 1993.

Aktuell

Zum Projekt

 

Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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