Form erzeugt Spannung

Zwei Künstler: Max Haufler, Regisseur und Schauspieler und Schang Hutter, Bildhauer. Zwei Künstler, die auf je eigene Art scheitern in und an diesem Land. Zwei Künstler, die es nicht mehr aushalten, dort, wo sie sind. Der eine wählt den Freitod, der andere geht freiwillig ins ausländische Exil. Zwei filmische Portraits, grundsätzlich verschieden in Bezug auf die ökonomischen Möglichkeiten und den inhaltlichen Anspruch, vergleichbar aber in der klaren formalen Gestaltung, in der bewussten Auseinandersetzung mit dem filmischen Material. Zwei Filme, die in der selbstgewählten Logik stimmen. Die Folgerichtigkeit des Ablaufs ist Bild für Bild, Sequenz für Sequenz, nachvollziehbar. Die Form erzeugt die Spannung.

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Max Haufler, arriviert zwar als Charakterdarsteller im Schweizer Film der Nachkriegszeit, scheitert als Regisseur obschon er vor und während des Kriegs drei erfolgreiche Filme gedreht hat: Er kann Otto F. Walters Roman «Der Stumme» nicht mehr verfilmen, sucht zwischen 1960 und 1965 fünf Jahre lang vergeblich Geld, macht Selbstmord.

In seinem Film «MAX HAUFLER ‘Der Stumme’» spannt Richard Dindo den Bogen zwischen der Ebene von Hauflers Leben und der fiktiven Ebene des Romans «Der Stumme». Zusammengehalten werden die beiden Ebenen durch die Schauspielerin Janet Haufler, die Tochter des Portraitierten, die einerseits in Gesprächen mit Leuten, die Haufler persönlich kannten, sich ihrem Vater anzunähern versucht, und andererseits im fragmentarisch skizzierten Roman die Rolle des Stummen spielt. Die letzte Einstellung des Films: Janet Haufler in der Rolle des Stummen lehnt in einem Steilhang an einem Fels, schwer atmend, sagt leise und rauh: «Vatter». Dieses Wort bildet den Schnittpunkt der inhaltlichen Ebenen: Der Stumme, der eben eine Sprengung durchgeführt hat, bei der weiter unten ein Arbeiter, sein eigener Vater, ums Leben kommt, kann wieder sprechen, weil er seinen Vater getötet hat. Kongruent überlagert durch die zweite Ebene: Janet Haufler selbst sagt «Vatter». Haufler aber bleibt tot. Die Fragen der Tochter bleiben unbeantwortet.

Die Frage, ob er in musikalischen Kategorien denke, bejaht Dindo im Gespräch. Schon sein Frisch-Film [«Max Frisch, Journal I-III», 1981, fl.] sei vom Dokumentarfilmer Joris Ivens als Fuge bezeichnet worden. In der Tat ist in der abgeschlossenen, «polyphonen» Logik, die Dindo selber als «kohärente Struktur, die auf ihr eigenes Ende zugeht», bezeichnet, das Schlussbild eine Engführung des Hauptthemas mit seiner eigenen Umkehrung. Dass aber die «Kunst der Fuge» im Film, konsequent durchgeführt, den Inhalt zum Material macht, das der blossen Exemplifizierung der kompositorischen Idee dient, ist keine Frage der kontrapunktischen Fähigkeiten des Autors, sondern eine Frage der Grenzen des jeweiligen Mediums. An diese Grenze stösst Dindo.

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Schang Hutter, der Bildhauer, arbeitet seit Jahren in einer dem Abbruch geweihten Kapelle in Solothurn. Nachdem diese 1977 unter Heimatschutz gestellt wird, beginnen die Schikanen. Obwohl er drei Kündigungen, zum Teil vor Gericht, rückgängig machen kann und obwohl ihm, kurz vor der Abreise, ein Fünfjahrsvertrag angeboten wird, verlässt er die Heimatstadt. Er geht mit seiner Familie nach Hamburg: Fortfahren.

Langsam fährt die Kamera auf dem Bieler Bahnhofplatz um die grosse Plastik Schang Hutters herum, die aus mehreren seiner verwehten, verkrümmten, dünngliedrigen Figuren besteht. In Gegenbewegung zur Kamera ein Strassenwischer bei der Arbeit. Im Off-Ton die Stimme des Strassenwischers, er wünschte sich natürlich etwas auf dem Bahnhofplatz, das mehr aufstellen würde. So beginnt der Film. Danach läuft der Film auf drei ineinandermontierten Zeitebenen ab. 1. Die Autoren sind im Zügelwagen mit Schang Hutter nach Hamburg gefahren. Mit Video und Tonband haben sie die ganze Reise, elf Stunden, aufgezeichnet. 2. Um Hutter nicht bei der Arbeit zu stören und weil zu jenem Zeitpunkt noch überhaupt kein Geld für den Film vorhanden war, beobachteten sie den Bildhauer zwei Wochen lang mit dem Fotoapparat beim Verpacken des Ateliers in der Solothurner Kapelle. 3. Einen Monat nach Hutters Abfahrt nehmen Grössen der lokalen Kultur und Politik in Statements Stellung zur Tatsache, dass Hutter gegangen ist.  Der Rest ist Montage: Es hätte hundert Möglichkeiten gegeben, aus diesem Berg von Material einen langweiligen, langfädigen Film zusammenzubasteln. Aber der Film hält.

Zweimal bleibt der Zügelwagen auf der Fahrt stehen: An einer Kreuzung in Solothurn und an einer Kreuzung in Hamburg. Zweimal wartet man mit Hutter auf grün. Zweimal erscheint der Titel des Films, einmal als Vorspann, einmal als Nachspann. Hutter ist nach Hamburg gegangen, um wieder arbeiten zu können: Fortfahren.

Aktuell

Zum Projekt

 

Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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