«Wollen Sie die Vorlage Planung Buech annehmen?» Über diese Frage stimmt man am 13. April 1997 in der Stadt Bern ab. Das Ergebnis der Abstimmung wird voraussichtlich kaum eine überregionale Schlagzeile hergeben. Aber immerhin hat sich eine schweizerische Kommune der Sesshaften dazu aufgerafft, für einheimische Jenische einen definitiven Standplatz zur Abstimmung zu bringen, und eine Parlamentsmehrheit (41:22) empfiehlt das Geschäft gar zur Annahme. Das ist immerhin bemerkenswert. Anliegen von Jenischen waren in der Schweiz noch kaum je mehrheitsfähig.
Seit die Nationalsozialisten an ihrem Parteitag in Nürnberg im September 1935 ihr «Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der Deutschen Ehre» verabschiedet hatten, schützte nur noch ihr Schweizer Pass die JüdInnen und die Jenischen vor den Vernichtungslagern. Allerdings galt auch hierzulande das Leben der Angehörigen beider Minderheiten wenn nicht als «lebensunwert» so doch als tendenziell «minderwertig», und beide Minderheiten wurden aus rassistischen Gründen sozial gleichermassen diskriminiert.
Doch es gab in den Lebensverhältnissen von Schweizer JüdInnen und Jenischen durchaus Unterschiede: Die jenische Gemeinschaft wurde über die soziale Diskriminierung hinaus planmässig zerstört. Familien wurden auseinandergerissen, die Kinder wurden den Eltern vom Pro Juventute-«Hilfswerk für die Kinder der Landstrasse» wenn nötig mit Polizeigewalt weggenommen und unter falschem Namen in anderen Landesgegenden zu Sesshaften erzogen. Erwachsene Jenische galten grundsätzlich als in irgendeiner Weise verwahrlost, als kriminell, als psychisch oder geistig behindert. Sie wurden deshalb ohne Urteil in Gefängnisse interniert oder in Irrenanstalten zwangspsychiatrisiert und unfruchtbar gemacht. Diese «rassenhygienisch» begründeten Angriffe auf die persönliche Integrität der Jenischen wurden systematisch praktiziert: Dass zumindest die Haupttäter (zum Beispiel der Führer des PJ-«Hilfswerks» Alfred Siegfried) in der Perspektive handelten, unter den gegebenen politischen Verhältnissen längerfristig (und bei plötzlich veränderten entsprechend schneller) das «Übel der Vagantität vollständig auszumerzen» – davon ist auszugehen.
Trotz der nur für IgnorantInnen abwegigen These, die Zerstörung der Jenischen und ihrer Kultur sei der versuchte Genozid an einer Bevölkerungsminderheit unter formaldemokratischen Bedingungen gewesen, hat sich bisher keine Lobby zu Wort gemeldet, die für die Jenischen eine mit internationalen Kapazitäten besetzte Kommission Bergier gefordert hätte. Aber immerhin hat es – unter Mitwirkung von Sergius Golowin und Mariella Mehr – eine Studienkommission gegeben, die im Auftrag des EJPD am 27. Juni 1983 unter dem Titel «Fahrendes Volk in der Schweiz. Lage, Probleme, Empfehlungen» einen Bericht mit einem Katalog von Empfehlungen vorgelegt hat. Seither ist bekannt, was Not täte: Einerseits eine «vom Bund finanzierte interdisziplinäre Studie» zur «Aktion Kinder der Landstrasse», andererseits konkrete Massnahmen aller Kantone in den Bereichen Stand- und Durchgangsplätze, Patentwesen und Einschulung der jenischen Kinder. Eine Broschüre des Bundesamts für Kultur» (damals noch «Kulturpflege», BAK) bestätigte 1988 unter dem Titel «Fahrende unter Sesshaften» die von der Studienkommission benannten Problemfelder. Seither wartet man in den Kantonen auf die Ausgiessung des politischen Willens.
Ein Blick in den Jahresbericht 1996 der «Radgenossenschaft der Landstrasse» zeigt die Früchte dieses Wartens: Die Schulbehörden seien zwar im Einzelfall häufig «beweglich und tolerant», aber in Trimmis (GR) zum Beispiel ist die Eröffnung eines neuen Standplatzes gescheitert, weil sich die umliegenden Gemeinden geweigert haben, jenische Kinder in ihre Schulen aufzunehmen. Die kantonalen Gewerbepolizeien machen weiterhin, was sie können: «Die Auflagen und Patentgebühren werden in allen 26 Kantonen unterschiedlich gehandhabt. Dies führt für das fahrende Volk […] zu unhaltbaren Verhältnissen.» Und wenn’s um Standplätze, also um Grund und Boden geht, ist endgültig fertig lustig. Der «Radgenossenschaft»-Kommentar zum Kanton Schwyz: «Was sich dieser Kanton […] erlaubt, ist Rassismus und Verweigerung von Lebensraum»; zum Kanton Neuenburg: «Absagen und willkürliche Ausreden»; zum Kanton Aargau: «seit über zehn Jahren unverändert»; zum Kanton Tessin: «Die Sanierung des Platzes wird trotz Zusagen bis auf weiteres verschoben». Und so weiter.
Und die historische Aufarbeitung? Es passierte bei Leibe nicht nichts seit 1983. Im Bundeshaus tat man das Mögliche, die Studie so lange wie möglich zu verhindern. Bereits am 19. September 1984 fragte die Nationalrätin Angeline Fankhauser (SP) den Bundesrat in einer «Einfachen Anfrage» nach dem Stand der Studie. Weil nichts geschah, beauftragte sie am 4. Juni 1986 den Bundesrat mit einem Postulat, die Studie «unverzüglich in Auftrag zu geben». Eine vom BAK in Auftrag gegebene Vorstudie des Zürcher Historikers Thomas Huonker wurde dann 1987, weil zu kritisch, schubladisiert. Huonkers Bemühungen um ein Nationalfondsprojekt scheiterten, weil sein Engagement für die Jenischen als unwissenschaftlich galt. Trotzdem publizierte Huonker 1987 das bis heute wichtigste Buch zum Thema: «Fahrendes Volk – verfolgt und verfemt», in dem elf Jenische in grossen Interviews ihre eigene Lebensgeschichte erzählen.
Der Staat hat die Jenischen Ende der achtziger Jahre dann mit einem Trinkgeld von elf Millionen Franken und einer Entschuldigung des Bundespräsidenten Alphons Egli (3.6.1986) abgefunden und die historische Studie so lange hinausgezögert, bis sie (gegen den Willen der «Radgenossenschaft») gefahrlos als Alibiübung hat in Angriff genommen werden können: Der Zürcher Professor Roger Sablonier ist seit dem 21. Februar mit zwei Helfern daran, auf Rechnung seiner privaten «Beratungsstelle für Landesgeschichte» für 50’000 Franken die 36,4 Laufmeter Akten des Pro Juventute-«Hilfswerks» im Bundesarchiv durchzusehen. Danach wird er, so sein Auftrag, zur Tätigkeit des Bundes und der Pro Juventute einige mahnende Worte zu verlieren haben (zu mehr wird’s schon aus finanziellen Gründen nicht reichen). Bis Ende Jahr will Sablonier abschliessen. Ob sein Bericht, der nach dem Willen des BAK als abschliessend anzusehen ist, jemals publiziert wird, hängt, wie man sich denken kann, von den Ergebnissen ab. So hat das der Bund mit den Jenischen gedeichselt, und so wird er’s weiterhin zu deichseln versuchen: Ein wenig bezahlen, die historische Aufarbeitung gross ankünden und sie dann so lange verhindern, bis das öffentliche Interesse vollständig weg ist. Danach findet sich immer ein Sablonier.
Aber erst wenn die Geschichte der Jenischen in diesem Jahrhundert umfassend aufgearbeitet sein wird und erst wenn ein «Bonjour-Bericht der schweizerischen Psychiatriegeschichte» (Urs Ruckstuhl) vorliegen wird, wird es möglich sein, den vorauseilenden Anschluss der institutionellen Sozialpolitik an die Lehren der nationalsozialistischen Rassenhygiene zu überblicken. Und erst wenn der Blick auf diese historischen Tatsachen einmal frei sein werden, wird man in diesem Land vielleicht begreifen können, warum das PJ-«Hilfswerk» eben nicht bis 1945, sondern bis 1973 anstandslos funktioniert hat, und warum für den versuchten Genozid an den Jenischen bis zum heutigen Tag niemand, absolut niemand zur Rechenschaft gezogen worden ist.
Vor diesem Hintergrund ist das Ergebnis der Abstimmung über die «Planung Buech» allerdings ein Signal von nationaler Bedeutung. So oder so.
Mit Abstimmung vom 13. April 1997 haben die Stadtberner Stimmberechtigten der Schaffung eines definitiven Standplatzes für Fahrende in Buech klar zugestimmt. Die Studie von Roger Sabonier et al. zum Hilfswerk für die Kinder der Landstrasse erschien dann im Jahr später, und ich habe sie als Publikation, die Interessierte gelesen haben müssen, gewürdigt. – Der vorliegende Kommentar erschien in einer teilweise stark redigierten Form, die einiges an Polemik und bitterer, aus heutiger Sicht zum Teil ungerechter Schärfe verloren hat. Ob ich an der weiteren Redaktion des Texts mitgearbeitet habe und in meinem elektronischen Textarchiv demnach eine Vorfassung stehengeblieben ist, kann ich nicht mehr rekonstruieren. Ich dokumentiere die ursprüngliche Fassung, die Druckfassung ist bei Bedarf ja in der WoZ greifbar. (10.06.2018)