Der Weg des wahren Revolutionärs

«Sobald das Publikum Daltons Roman kennen wird, wird es verstehen, was die Mörder von Menschen wie ihm nicht verstehen wollen, weder in El Salvador noch sonstwo in der Welt. Es wird verstehen, dass der Weg des wahren Revolutionärs nicht mit Gewissheit, Überzeugung, simplifizierenden Schwarz-Weiss-Schemata gepflastert ist; auf diesen Weg gelangt man vielmehr über ein schmerzliches Gewirr von Zaudern, Zweifels, toten Punkten, schlaflosen Nächten voller Fragen und Warten, und geht man auch darauf weiter, bis man einen Punkt ohne Rückkehr erreicht, diesen wundervollen Berggrat, von wo aus man das hinter sich Zurückgelassene betrachtet, während sich den frischgewaschenen Augen das Panorama einer andern Wirklichkeit eröffnet, die des endlich wahrnehmbaren, in Reichweite liegenden Ziels.» So charakterisierte der argentinische Schriftsteller Julio Cortázar Roque Daltons grossen Roman «Armer kleiner Dichter, der ich war» nach Daltons Ermordung durch das «Ejército Revolutionario del Pueblo ERP» und noch bevor der Roman 1976 in Costa Rica zum ersten Mal publiziert wurde.

Riss zwischen Bohème und Widerstand

Daltons Roman spielt Anfang der sechziger Jahre. Der Staatsstreich gegen die Diktatur von General José Maria Lemus vom 26. Oktober 1960 und die anschliessenden Wirren spielen eine wichtige Rolle. Schauplatz ist Stadt und Region von San Salvador. Dort sorgt eine Gruppe von jungen Dichtern für Aufsehen: «Die ‘Engagierte Generation’, deren Mitglieder ich Ihnen hier vorstelle, wird wegen ihres Engagements für die noble Sache des Schönen, der Kunst und der Humanität so genannt […]. Sie ist der Kern der Hoffnung unserer salvadorianischen, um nicht zu sagen zentralamerikanischen Literatur.» (214) So werden die fünf Protagonisten des Romans, Arturo, Alvaro, Roberto, Mario und José, an einer Party vorgestellt.

Diese jungen Literaten sind zum grossen Teil angehende Juristen, «Bachillers» (was etwa der akademischen Stufe des «cand.» entspricht). Sie sind Juristen, obschon sie wissen: «Das Recht gibt es nicht, ihr Schwachköpfe, es ist nichts als eine entfremdete Fiktion, der Goldstaub der grossen Pille des Privatbesitzes, und keineswegs das, was sie in unseren Universitäten, diesen grossen Hühnerfabriken, behaupten.» (404) Gleichzeitig sind sie Poeten, obschon sie wissen: «Sich diesem ganzen Apparat mit ein paar Sonetten entgegenzustellen, hiesse, eine Lokomotive mit einem Kartenhaus zum Stehen bringen zu wollen.» Und obschon sie wissen, dass sie «in diesem Land mit 65 Prozent Analphabeten» schreiben, «wo 98 Prozent keine Bücher kaufen, weil sie keine Kohlen haben». (209)

Dieser Riss zwischen Poesie und Politik, zwischen Schöngeistigkeit und Stellungnahme, zwischen Bildungsprivileg und sozialer Verantwortung, zwischen Bohème und Widerstand geht durch jeden einzelnen, und bei jedem verläuft der Riss anders. Die Zerrissenheit des Intellektuellen angesichts von Diktatur und Elend ist Daltons eigentliches Thema: «Hier liegt das wahre Heldentum eines Revolutionärs wie Roque Dalton: in der Fähigkeit, die dialektischen Reflexe am Leben zu erhalten, welche dem Menschen seine wertvollste Dimension verleihen.» (Cortázar)

Fünf Romane in einem

Um diese «dialektischen Reflexe» in den Biografien der fünf Protagonisten am Leben erhalten zu können, musste Dalton eine adäquate Form für die Darstellung dieser Literaturszene finden. Niemand wird deshalb einen sozialkritischen Dutzendroman von der Stange erwarten. Daltons Roman ist nicht Konfektion, er ist ein Steinbruch von Sprache und Bildern, ein Dschungel von Materialien und Montageebenen, ein verwirrendes Kaleidoskop von Fragmenten innerer und äusserer Wirklichkeiten, voller ironischer Brechungen und Verfremdungen, selbstbewusst undidaktisch. Der Roman setzt sich aus fünf Teilromanen zusammen, die sich in der Machart völlig unterscheiden, aber durch eine Vielzahl von Vor- und Rückverweisen miteinander verknüpft sind.

Im ersten Hauptstück montiert Dalton chronologisch eine Tag der Protagonisten Alvaro, Leiter des Telejournals beim Fernsehen, und des Bachillers Arturo ineinander. Die beiden haben sich weitgehend mit dem herrschenden System arrangiert. Beim gemeinsamen Mittagessen klagt Arturo über seine Schwierigkeiten, Literatur zu machen: «Das Problem eines Erzählers in El Salvador besteht im Nichtvorhandensein von Themen. Und die Essenz einer Erzählung liegt doch gerade in der Präsenz eines einzigartigen Themas. Denk an Quiroga, Borges, Kafka. Bei uns geschieht einfach nie was Besonderes. Und geschieht dann einmal pro Jahr doch etwas, dann ist es normalerweise zu geschmacklos, als dass man es zu Literatur verarbeiten könnte.» (91)

Als Motto zum zweiten Teil, der Roberto während einer Pressekonferenz über lateinamerikanische Lyrik zeigt, könnte Marios Ausspruch stehen: «In unseren Breitengraden müsste jedermann Joyce lesen.» (245) In einem breiten Bewusstseinsstrom, der keine Abschnitte zulässt und in den ab und zu in Kursivschrift Statements der Pressekonferenz als äussere Wirklichkeit einbrechen, ergiesst sich Robertos sprunghaftes Denken, schwatzt, kalauert, philosophiert, hält schnell mal «die wichtigste Wahrheit» fest – «Die Welt ist, leider, wirklich» (122) – und bereits einige Zeilen weiter seinen «goldenen Traum»: «In einem Rezital von Bertha Singerman laut und vernehmlich zu furzen.»

Im nächsten Abschnitt treten alle Protagonisten zusammen an einer Party auf. Dalton notiert Statements und Stimmengewirr getreulich, als ob er den ganzen Abend auf Band aufgezeichnet hätte und nun abtippte. Wer was sagt, wird selten klar; festgehalten wird nur, was tönt: Der ernsthafte Diskurs wird andauernd gebrochen durch Geblödel, durch Grosssprecherisches über Alkohol und Frauen, durch Auftritte und Abgänge. zwischenhinein debattiert man über das Verhältnis zur klandestinen KP des Landes (199), über die soziale Rolle des intellektuellen Revolutionärs (205), und am späteren Abend bricht zwischen einem besoffenen Oberst und der ebenfalls zunehmend alkoholisierten «Engagierten Generation» ein Streit über die Funktion der Dichtung in El Salvador aus (224 ff.).

Nach diesen drei Teilen voller Small talk, zynischer Vernunft und Suche nach der eigenen Position treten Protagonisten auf, die Stellung bezogen haben. Der grosse Skeptiker Mario dokumentiert zwischen seinen Abstürzen im Alkohol mit seinem Tagebuch die Zeit um den Staatstreich vom Oktober 1960, die er zum Teil als Mitarbeiter von Alvaros Telejournal miterlebt. Das Tagebuch endet zwei Tage, bevor Mario in irgendeiner Spelunke erstochen wird.

Im fünften Teil erzählt José, der eben erst aus Kuba nach El Salvador zurückgekehrt ist, von seiner Verschleppung, den Verhören mit dem whiskysaufenden CIA-Mann, seinem Entschluss, eher zu sterben, als sich zum Agenten der Konterrevolution machen zu lassen, von seiner abenteuerlichen Flucht und den Drohungen für den Fall, dass er nicht kollaboriere: «Nicht als Held, als Verräter wirst du in der Geschichte dastehen. Und nicht nur als Verräter, sondern ausserdem als Feigling und als Dummkopf, denn trotz des Verrats wird es dir nicht einmal gelungen sein, dein Leben zu retten.» (452) Der Mörder will den Ermordeten posthum zum Verräter machen: Damit hat Dalton sein eigenes Schicksal vorausgesagt.

Daltons Lächeln: Niemals spöttisch, immer boshaft

Was mir beim Lesen dieses Buches immer wieder durch den Kopf gegangen ist: Da sogar Daltons Mörder nachträglich zugegeben haben, die Ermordung sei ein «Irrtum» gewesen, womit hat der Revolutionär Dalton denn das Misstrauen seiner Genossen geweckt, da sich soweit steigerte, dass sie aus ihm einen feindlichen Agenten konstruierten? Daltons hervorragendste Wesenszüge scheinen sein Pessimismus und seine Ironie gewesen zu sein. Schon deshalb musste er für die gnadenlosen Erkenntnispositivisten, die wohl in jeder kämpfenden Bewegung die Mehrzahl ausmachen, von vorneherein eine suspekte Erscheinung bleiben.

Im Roman ist es Mario, der über Pessimismus nachdenkt: «Ich verstehe ja, dass ich ein komplizierter Mensch bin, und meine Kriterien, logischerweise ebenfalls kompliziert, nicht gerade die beste Tagesordnung beispielsweise für eine Versammlung junger Kommunisten darstellen würden, die so unerbittlich rein und unschuldig sind.» (351) Aber auch dieses Komplizierte hat eben eine Dialektik: «Vielleicht meinen gewisse Leute, mein Pessimismus sei etwas, was nicht mehr zu ändern ist, etwas völlig Negatives, doch ich weigere mich, das so zu sehen. Genau diejenigen, die wie wir ein bestimmtes soziales System, eine bestimmte Umwelt, eine bestimmte menschliche Realität oder, um an ein Ende zu kommen, die Totalität der Existenz kritisieren, werden diejenigen sein, welche die Hoffnung an das nähren, was verdummende Verallgemeinerung als (nicht allzu ferne?) Zukunft bezeichnet hat.» (348) Das ist wohl das eine, was die Mörder von Menschen wie Dalton nie verstehen werden: Dass ein Revolutionär nicht nur die Totalität der herrschenden Wirklichkeit, sondern die «Totalität der Existenz» kritisieren kann/muss.

Das andere: die Ironie. Cortázar erinnert sich an ein Zusammentreffen von Dalton mit Fidel Castro in Havanna: «Scherze wechselnd und gleichzeitig verbissen ihre Standpunkte verteidigend, versuchte jeder der beiden, den andern durch Demonstrationen mit einer unsichtbaren Maschinenpistole zu überzeugen, mit welcher sie auf die eine oder andere Weise herumfuchtelten, dazu massenhaft Überlegungen anstellend, die mir völlig schleierhaft blieben. Der Unterschied zwischen dem mächtigen Körper Fidels und der ausgemergelten und geschmeidigen Gestalt Roques bereitete unendliches Vergnügen.» Auch Régis Debray erinnert sich: «Roque brachte immer alle ins Schwimmen, wenn er eine Spur Verrücktheit noch in die strengsten ideologischen Diskussionen unterbrachte oder im Zentrum der frivolsten Unterhaltungen Lenin, Fidel und Kim Il Sung thematisierte. Das Stereotype, das Dunkle im Pompöse entfesselten in ihm den Witz, und wenn er sich langweilte, machte er sich einen Spass. Der Tod und die Schakale der Konterrevolution konnten Daltons Lebenskraft auslöschen, aber sie können uns nicht sein beispielhaftes Lächeln rauben, niemals spöttisch, immer boshaft.»

Für manche Revolutionäre gibt es wahrscheinlich nie auch nur den geringsten Zweifel an Weg und Ziel. Dalton, der vom bewaffneten revolutionären Kampf nicht weniger überzeugt war, konnte wohl über solche ausdauernd zur Schau getragene Zweifeillosigkeit und Widerspruchslosigkeit immer nur lächeln. Denn – und von dieser Seite lernen wir ihn durch sein Buch kennen – er wusste, dass Wirklichkeit im poetischen Sinn niemals praktikabel sein wird. Der politische Kampf wird mit der Wahrheit des Schmerzes nie zu versöhnen sein.

Dieser Riss zwischen Revolutionär und Dichter muss durch Roque Dalton hindurchgegangen sein und ihn zu einer schillernden Figur gemacht haben, deren «dialektische Reflexe» seine Genossen auf die Dauer nicht ertragen haben. Durch Roques Art haben sie sich verarscht und über Gebühr verunsichert gefühlt. Da haben sie halt der Tatsache Nachdruck verschafft, dass Revolution eine todernste und in jedem Augenblick eindeutige Sache sein muss.

Roque Dalton: Armer kleiner Dichter, der ich war. Roman (Übersetzung: Silvia Pappe), Zürich (rotpunktverlag) 1986.

 

Der vollständige Titel in der WoZ lautete: «Der Weg des wahren Revolutionärs ist nicht mit Gewissheit gepflastert». – Die zwei letzten Abschnitte sind von einer WoZ-Redaktorin umgeschrieben worden. Meine Version hatte gelautet:

«Es gibt offenbar Revolutionäre, die tragen ihre scharfgeladene Flinte wie ein revolutionär erigiertes Schnäbi vor sich her und zweifeln keinen Augenblick an Weg und Ziel – und es gibt Dichter, die über diese Zweifellosigkeit immer nur lächeln werden, obschon auch sie vom Kampf überzeugt sind: Weil sie wissen, dass Wirklichkeit im poetischen Sinn niemals praktikabel sein wird. Der politische Kampf wird mit der Wahrheit des Schmerzes nie zu versöhnen sein.

Dieser Riss zwischen Revolutionär und Dichter muss durch Roque Dalton hindurchgegangen sein und ihn zu einer schillernden Figur gemacht haben, deren ‘dialektische Reflexe’ (Cortázar) seine Genossen auf die Dauer nicht ertragen haben. Durch Roques Art haben sie sich verarscht und über Gebühr verunsichert gefühlt. Da haben sie halt der Tatsache Nachdruck verschafft, dass das revolutionär erigierte Schnäbi eine todernste Sache sein muss.»

Bis heute eine gute Frage: Sind die beiden ursprünglichen Abschnitte sexistisch oder denunzieren sie einen Sexismus männlicher Revolutionäre?

Seither sind von Roque Dalton im Rotpunktverlag weitere Bücher auf Deutsch und auf der Homepage des Verlags Hintergrundinformationen zum Autor erschienen. Eine Rezension von «Däumlings verbotene Geschichten»findet sich hier

Aktuell

Zum Projekt

 

Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


v11.5