Der kattländische Totalitarismus

Als sich der 35jährige Schweizer Lorenz Lotmar Ende Juni 1980 in München das Leben nahm, war er als Schriftsteller nicht einmal ein Insidertipp. Mehr als den Roman «Bisst» hatte er nicht veröffentlicht, und der kleine Steinhausen-Verlag, der ihn herausgebracht hatte, stand vor dem Konkurs. Aber Lotmar hinterliess um die 10000 Manuskript- und Typoskriptseiten: Romane, Theaterstücke und Hörspiele, Gedichte, Briefe, Notizen und Skizzen – darunter den umfangreichen Roman «Die Opferung» in vier Fassungen und fast 250 handschriftlichen Seiten einer stark veränderten, fünften Fassung. Nach Lotmars Tod hat sich der orte-Verlag um sein Werk verdient gemacht: 1983 brachte er «Die Wahrheit des K. Bisst» neu heraus, 1984 und 1987 folgten die Kurzromane «Der Handlinienmann» und «Irgendwie einen Sonntag hinter sich bringen», 1991 schliesslich eine Version der «Die Opferung», kompiliert vom orte-Herausgeber Werner Bucher und dem damaligen Germanistikstudenten Dimitris Depountis. Seit 1997 liegt der literarische Nachlass Lotmars im Schweizerischen Literaturarchiv in Bern.

Depountis ist Lotmars Werk in den neunziger Jahren treu geblieben, indem er den Entstehungsprozess der «Opferung» zum Thema seiner 1996 in Basel eingereichten philologischen Dissertation machte. Jetzt ist diese Arbeit unter dem Titel «Der Weg durch die ‚Opferung‘ – Lorenz Lotmar’s Hauptwerk. Rekonstruktion eines Schreibprozesses» als Buch erschienen. Der Doktorvater Wolfram Groddeck charakterisiert seinen Inhalt im Vorwort als «Nachvollzug einer Werkentstehungstragödie».

Nur flüstern und arbeiten

Lorenz Lotmar wuchs in Aarau auf, besuchte nach dem Umzug nach Wabern und einer abgebrochenen KV-Ausbildung zwischen 1965 und 1968 die Schauspielschule Bern und verdiente danach sein Geld jahrelang als Schlagzeuger in Tanzorchestern. Er lebte ab 1972 in Zürich und nach 1976 in verschiedenen Städten Deutschlands. Seit den späten sechziger Jahren verstand er sich als Schriftsteller, und seit damals entstanden mehrere Prosatexte, die ihm ab 1972 als Rohmaterialien für sein opus magnum, eben «Die Opferung», dienten. Darin wird die Geschichte von Harry Busner erzählt. Busner lebt in Kattland und ist ein opportunistischer Karrierist, Sympathisant der «Partei für Fortschritt» und Mitarbeiter eines grossen Konzerns. Er wird in den Bergkurort Gausen geschickt, um zwei verschiedene Luftdruckmesser auf allfällige Abweichungen zu überprüfen. Hier versucht er aus Langeweile, ein «dickes, geistig zurückgebliebenes, vierzehnjähriges Mädchen» zu verführen und vergewaltigt es schliesslich. Nach seiner Rückkehr in die Hauptstadt gewinnt die technokratisch-faschistoide «Partei für Fortschritt» die Wahlen und dekretiert, dass ab sofort nur noch Selbstbeherrschungsfähige gemeinschaftsfähig seien: Es darf nur noch gearbeitet und geflüstert werden. Als ruchbar wird, dass Busner ein Kind geschwängert habe, wird er vom Regime der Selbstbeherrschungsunfähigkeit angeklagt, in einem Schauprozess zum Tod verurteilt und schliesslich im Rahmen eines Opferungsfestes vor laufenden Fernsehkameras «elektrokutiert».

Wie Depountis in seiner archäologischen Rekonstruktion der verschiedenen Textstufen zeigt, ist Lotmar vorerst gut vorangekommen: Im November 1972 liegt der erste Teil, der in Gausen spielt, bereits in einer zweiter Fassung vor, zehn Monate später auch der zweite Teil. Aber damit ist der Roman nicht vollendet, im Gegenteil. Lotmar beginnt nun, das dargestellte Unerträgliche des Plots immer noch plausibler zu machen. In einem ersten Schritt bricht er die bis anhin chronologisch schematische Erzählstruktur auf. Aus der Passage: «Er rief, hallo! Niemand antwortete. So rief er nochmals, hallo! Er schloss die Türe.» wird zum Beispiel neu: «Nachdem er zweimal ‚hallo‘ gerufen hatte, schloss er die Türe.» Es entsteht, in den Worten Depountis‘ eine beschleunigte, «den ‚inneren Zusammenhang‘ des Geschilderten festigende Erzählweise».

So versucht Lotmar, das Zwanghafte von Busners Situation und Funktionsweise in die grammatikalischen Strukturen einzuarbeiten. Um zu zeigen, in welche Richtung Lotmar diese Beschleunigung und «Plausibilisierung» des Erzählten weiter radikalisiert, schiebt Depountis einen Exkurs ein über die Totalitarismustheorie von Hanna Arendt. In der Tat ist verblüffend, wie kongenial Lotmar eine der beunruhigendsten Thesen Arendts poetisch ausgestaltet: jene, wie die Einsicht der Opfer in die Notwendigkeit des Terrors hergestellt wird durch die behauptete Gesetzmässigkeit irgendwelcher unbeeinflussbarer, übermenschlicher Prozesse.

Für Lotmar geht es in der «Opferung» konkret darum, Busners Einsicht in seine eigene Hinrichtung lückenlos plausibel zu machen – im Sinne kattländischer «repressiver Toleranz» wird er nämlich nach dem Todesurteil nicht einmal inhaftiert. Zu diesem Zweck bedient sich Lotmar der Einsicht in die totalitäre Kehrseite der Rationalität. Er beginnt, dem bereits durch Beschleunigung verfestigten inneren Zusammenhang des Erzählten einen starren Panzer aus Logik zu verpassen. Mit Konjunktionen (so dass, denn, weil etc.), suggestiven Einschiebseln, apodiktischen Floskeln und Muss-Formulierungen spult er den Plot in immer absurderer und unausweichlicherer Konsequenzhaftigkeit ab.

Opfer der eigenen Fiktion

Depountis kommentiert: «An diesem Punkt wird die Unmöglichkeit, in die Lotmars Unterfangen allmählich hineingeriet, erkennbar – ein Unterfangen, welches nicht nur immer wieder die Gültigkeit des bisherigen Textes ausser Kraft setzte, sondern auch jene aller erdenklichen Folgetexte, die immer nur Provisorien, Zwischenschritte bleiben mussten angesichts eines unerschöpflichen Potentials von Unklarheiten, Inkonsequenzen und Widersprüchen, die in jeder Textversion geortet werden konnten.» Die «Werkentstehungstragödie» der «Opferung» besteht darin, dass ihr Autor einen Geist rief, den er nicht mehr los wurde: die totalitäre Logik, die als Schein seine Fiktion beherrschen sollte, begann den Autor zu beherrschen. Je mehr er sein Sprachkunstwerk zu realer logischer Eindeutigkeit zwingen wollte, desto mehr überforderte er das Material, mit dem er arbeitete und sich selbst. So gesehen ist Lotmar zum Opfer dessen geworden, was er ersann: des kattländischen Totalitarismus.

Dimitris Depountis arbeitet in seiner Studie mit der «critique génétique», einer von der französischen Literaturwissenschaft in den siebziger Jahren entwickelten Methode, die nicht publizierte Texte interpretiert, sondern sich theoretisch reflektierend mit den Vorstufen der gedruckten Fassung auseinander setzt. Im Zentrum des Erkenntnisinteresses steht die Rekonstruktion der Schreibdynamik und die Entstehungslogik der literarischen Arbeit.

Das ausserordentlich schön und typographisch aufwendig gemachte, grossformatige Buch bietet sehr viele Textbeispiele als Manuskript-Faksimiles mit akribischen Transkriptionen. Es erinnert an einen Autor und sein über 600seitiges, Fragment gebliebenes Hauptwerk, das auch deshalb nicht vergessen werden darf, weil es noch kaum zur Kenntnis genommen worden ist.

Dimitris Depountis: Der Weg durch die «Opferung‘»– Lorenz Lotmar’s Hauptwerk, Frankfurt/Basel (Stroemfeld/Roter Stern). 2001. 

Meine Auseinandersetzung mit Lotmars Roman «Die Opferung findet sichhier

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