Der fünfte Weg zum guten Schreiben

In einem Lager- und Ladengebäude hinter dem Bahnhof Bümpliz Nord befindet sich über einem Denner Top Superdiscount das Hauptsekretariat der Hochschule der Künste Bern (HKB). Hier arbeiten in einem gemeinsamen Büro die LiteraturwissenschaftlerInnen Marie Caffari und Daniel Rothenbühler. Ihr Auftrag: Als Koprojektleitung eine zweisprachige Ausbildungs- und Forschungsstätte für literarisches Schreiben und Übersetzen konzipieren, die vorläufig «Schweizerisches Literaturinstitut» heisst und in Biel im Oktober 2006 den regulären Betrieb aufnehmen soll.

Das Handwerk der Königsdisziplin

Der Initiant des Projekts, der Schriftsteller Guy Krneta (siehe Kasten), hat in einem ironischen Aufsatz die Vorurteile aufgelistet, die gegen eine solche Bildungsstätte sprechen: Literatur sei als «Königsdisziplin unter den Künsten» die «unmittelbare Folge der Lebenstragödie unserer Begabtesten»; die Sparte, in der «der freie Geist des Autodidaktischen (…) die üppigsten Querköpfe» hervorbringe. Ihre Verschulung fördere lediglich die Tendenz, «Talente zu vernichten» und «aus Originalen Kopien» zu machen («entwürfe», 36/03)

Wahrer ist sicher, dass die Idee von Literatur als dem unlernbar Genialischen eine Lebenslüge von frustrierten Erfolglosen ist. Marie Caffari ist eben aus Hildesheim zurückgekehrt, wo im Rahmen der Kulturwissenschaften literarisches Schreiben studiert wird. Dort habe sie eine Podiumsdiskussion zur Frage nach der Lernbarkeit von kreativem Schreiben besucht: Selbstverständlich gehe es heute nirgends um die Vermittlung reglementierter Schreibanleitungen, sondern überall um die kritische Unterstützung individueller Schreibweisen: «Es gibt dieses Hin und Her zwischen dem Lektorieren, Kritisieren, Fordern, Mehrverlangen und gleichzeitig dem Unterstützen und Respektieren dessen, was die Studierenden mit ihrem Schreiben möchten.»

In der Schweiz gab es für Autorinnen und Autoren bisher vier Wege der Sozialisation, die Daniel Rothenbühler so charakterisiert: Entweder man macht ein Universitätsstudium, um (auch) Zeit zum Schreiben zu haben. Oder man steigt sofort in den Kulturbetrieb ein und produziert von Anfang an unter dem Zwang der Marktgesetze. Oder man versucht, sich die Schreibarbeit in zermürbendem Einzelkampf von Stipendium zu Werkjahr zu Stipendium zu finanzieren. Oder man bildet, was man bei den Jüngeren immer häufiger sehe, Netze unter Gleichaltrigen, um das Schreiben im Austausch weiterzuentwickeln. «Der Nachteil hier: Man läuft Gefahr, sich zu überfordern. Ich beobachte, dass sich solche Prozesse schnell erschöpfen können.»

Netzwerke über die Sprachgrenze hinweg

Das Literaturinstitut soll die Nachteile dieser Sozialisationsformen minimieren: Geplant wird ein Literaturstudium als Fachhochschulstudium, eine so genannte tertiäre Erstausbildung mit einem Bachelor-Abschluss (dazu kommt ein Master-Abschluss für literarisches Übersetzen). Caffari: «Das Literaturstudium soll jährlich zwölf bis fünfzehn jungen Leuten anbieten, sich drei Jahre lang intensiv mit der Frage zu beschäftigen, was Autorschaft heisst.» In dieser Zeit sollen Bezüge zum Literatur- und Kulturbetrieb geschaffen werden, ohne dass die Studierenden sich sofort dem Marktdruck aussetzen müssen. Finanziell soll die grundsätzliche staatliche Zuständigkeit für Erstausbildungen den Studierenden ein Studentenleben mit den üblichen Prekaritäten, aber auch den nötigen Freiheiten ermöglichen. Und schliesslich, sagt Rothenbühler, «entstehen dadurch, dass die Leute am Institut gemeinsam studieren, Kontakte, und zwar auch mit den dozierenden Autorinnen und Autoren aus dem deutschen und dem französischen Kulturbereich und über die Landesgrenzen hinaus.»

Von ihren Recherchereisen in Berlin, Hildesheim und Leipzig wissen Caffari und Rothenbühler, dass das Alter der Studierenden dort um die 25 liegt. Sie gehen auch beim geplanten Institut von diesem Durchschnittsalter aus, wollen aber keine Alterslimite für die Aufnahme festlegen. Aufnahmekriterien wird es aber sehr wohl geben. Verlangt wird voraussichtlich neben einer Matur und einem Dossier mit Textproben «der klare Wille zur Autorschaft»; die Bereitschaft, sich kritisch und selbstkritisch mit literarischen Texten auseinanderzusetzen und – im Sinn des interkulturellen Austauschs – in beiden Institutssprachen, also Deutsch und Französisch, zu arbeiten. Rothenbühler: «Es wird sicher keine Sprachprüfungen geben. Aber erwartet wird, dass theoretische Vorlesungen auch in der Fremdsprache gehört werden.» Caffari erwähnt junge Schreibende in Lausanne, die heute nichts mitbekämen von ihren gleichaltrigen KollegInnen in Bern – und umgekehrt: «Bloss eine Stunde Bahnfahrt und trotzdem eine andere Welt. Das Institut wird dieses Problem nicht sofort lösen können, aber es wird, so hoffen wir, eine Dynamik der Kulturvermittlung entstehen: Ich bin überzeugt, dass dank des Instituts bis in einigen Jahren Netzwerke entstehen über die Sprachgrenze hinweg.»

Schwerpunkte der Ausbildung

Am Programm des Literaturstudiums arbeiten Caffari und Rothenbühler zur Zeit intensiv. Der Entwurf wird anschliessend mit der siebenköpfigen Steuerungsgruppe des Projekts diskutiert, in der André Vladimir Heiz, Theres Roth-Hunkeler, Guy Krneta und Jérôme Meizoz die AutorInnen vertreten. Im November wird das Konzept dem Bundesamt für Berufsbildung und Technologie (BBT) vorgelegt.

Bisher klar ist, dass das Studium einerseits der «Kontextualisierung des Schreibens durch Theorieangebote über Sprache, Literatur und Kultur» gewidmet sein soll, andererseits der Auseinandersetzung mit dem Literaturbetrieb – also mit der Literaturproduktion, -distribution und -rezeption. Parallel dazu sollen die Studierenden während der Ausbildung ein eigenes Textprojekt realisieren und sich auch um dessen Veröffentlichung bemühen.

Ein zentrales Anliegen der HKB, der das Schweizerische Literaturinstitut angegliedert wird, soll auch im Konzept von Caffari und Rothenbühler einen wichtigen Stellenwert erhalten: die «Transdisziplinarität». Rothenbühler: «Die Literaturstudenten und -studentinnen werden in bestimmte Veranstaltungen anderer Disziplinen gehen können und müssen, um ein Bewusstsein für den Zusammenhang der Künste und für die Kultur insgesamt zu erhalten.» Caffari weist darauf hin, dass es etwa in den Bereichen Musik und Literatur eine traditionelle Zusammenarbeit gibt (Liedtexte, Opernlibretti), dass aber an der HKB zum Beispiel auch Experimente im Grenzgebiet zwischen visueller Kunst und Literatur möglich sein werden.

Der Pilotkurs, dessen Ausschreibung seit einigen Tagen läuft, ist so aufgebaut, dass «wesentliche Elemente des späteren Betriebs getestet werden können», sagt Rothenbühler. Es gehe, so Marie Caffari, um die Fragen: « Wo sind die Leute, die an solchen Lehrangeboten interessiert sind? Über welche Kanäle kommen wir an sie heran? Wer sind sie? Mit welchem schriftstellerischen Niveau können wir rechnen? Wo müssen wir ansetzen?»

[Kasten]

Krnetas Initiative

 

Guy Krneta (* 1964) darf als erfolgreicher Schriftsteller gelten, immerhin hat er bereits weit über ein Dutzend Theaterstücke (etwa «Das Leben ist zu kurz, um offene Weine zu trinken», sieheWOZ 3/2004) und mehrere Bücher veröffentlicht (zum Beispiel «Zmittst im Gjätt uss», 2003). Mit abgebrochenen Studien in Medizin und Theaterwissenschaften ist er als Familienvater trotzdem nicht auf Rosen gebettet. Als er deshalb das Nachdiplomstudium Kulturmanagement an der Zürcher Hochschule Winterthur machte und nach einem Thema für seine Diplomarbeit suchte, begann er über die Frage nach schweizerischen Ausbildungsmöglichkeiten im Bereich des Schreibens nachzudenken. Seine Antwort: «Während es in den Bereichen der Musik, des Theaters und der bildenden Künste seit Jahrzehnten Akademien und Weiterbildungsangebote gibt, bleibt der Literatur in der Schweiz als einziger Weg das learning by doing.» So fasste er den Ist-Zustand später in seiner Diplomarbeit zusammen, die er unter dem Titel «Das Robert-Walser-Institut. Nationale Ausbildungsstätte für literarische AutorInnen in der Schweiz» im Januar 2003 abschloss.

In dieser Arbeit skizziert er nicht nur den Ist-Zustand, sondern auch Möglichkeiten der Trägerschaft, des Betriebs und der Lehrinhalte eines Literaturinstituts. Den Anhang bilden fünfzehn Interviews mit  AutorInnen und LiteraturwissenschaftlerInnen zur Frage, ob und allenfalls wie ein solches Institut wünschbar wäre. Krneta: «Uns wurde immer klarer, was das eigentlich Zentrale und Schweizerische an einem solchen Projekt sein müsste: die Auseinandersetzung mit den Sprachgrenzen und das Sich-Bewegen zwischen den Sprachen respektive zwischen Mundart und der Hochsprache. Dass das literarische Übersetzen ein zentraler Bestandteil des Ganzen sein muss, war deshalb von Anfang an gesetzt.»

Bald ging es Krneta nicht mehr nur um die Diplomarbeit. Lange bevor er sie einreichte, hatte er als Vorstandsmitglied des AdS, des Verbands der Autorinnen und Autoren der Schweiz, seine VorstandskollegInnen von der Idee eines Literaturinstituts überzeugt. Für den 28. November 2002 lud der AdS dann die Direktoren der Hochschulen für Musik und Theater und den Hochschulen für Gestaltung und Kunst aus Bern/Biel und aus Zürich zu einem Meinungsaustausch.

Krneta erinnert sich: «Das Gespräch entwickelte eine Riesendynamik, weil alle Anwesenden gesagt haben: Doch, so etwas muss es geben. Und wenn man etwas macht, muss man es zusammen machen, national und mehrsprachig.» Man war sich einig, dass die Hochschulen nicht einzelne Studiengänge oder Lehrangebote in Bereich des Schreibens anbieten würden, sondern ein gemeinsames Zentrum für literarisches Schreiben und Übersetzen geschaffen werden sollte. Die Projektleitung wurde dem AdS – und damit de facto Krneta – übergeben.

Im Frühjahr 2004 lag, nun auch in Zusammenarbeit mit der Universität Lausanne und dem dortigen Centre de Traduction Littéraire, ein detailliertes «Konzept einer nationalen Ausbildungsstätte für literarisches Schreiben» vor. Darin findet sich unter anderem ein Argumentarium, das das Literaturinstitut wie folgt begründet:

• Das Schreiben für bestimmte Medien verlangt besondere Kenntnisse, auch der spezifischen Produktionsprozesse. Hinzu kommen die neuen Möglichkeiten der literarischen Produktion und Verwertung im Bereich der digitalen Literatur und der performativen Künste.

• Von heutigen AutorInnen wird verlangt, dass sie mehr können als «bloss gut schreiben». Sie haben als öffentliche Personen eine Haltung im Umgang mit den Medien zu entwickeln.

• In Zeiten, da das Feuilleton zunehmend schrumpft, sich die Literaturkritik als reine Promotionsmassnahme begreift und Verlage ihre Lektoratstätigkeit massiv einschränken, sind dringend neue Orte zu schaffen, wo die Frage nach der literarischen Qualität von Texten gestellt und diskutiert wird.

Mitte November 2004 hat die «Gebert Rüf Stiftung» mit einer Initialfinanzierung von 250000 Franken den Aufbau des Instituts ermöglicht. Geplant wird es als eigenständiger Fachbereich der Hochschule der Künste Bern, die unterdessen vom AdS die Projektleitung übernommen hat. Anfang Jahr sind Marie Caffari und Daniel Rothenbühler zur Koprojektleitung gewählt worden. Die beiden haben ihre Arbeit Anfang April aufgenommen.

Offen ist zur Zeit die kantonalbernische Zustimmung zum Projekt und seine erfolgreiche Akkreditierung beim zuständigen Bundesamt für Berufsbildung und Technologie. Es gibt aber positive politische Signale, dass das Institut im Oktober 2006 seinen regulären Betrieb aufnehmen kann. Tatsächlich: Die Überzeugungs- und Vernetzungsarbeit, die der Kulturmanager Krneta für das Zustandekommen eines Schweizerischen Literaturinstituts geleistet hat, ist nichts weniger als ein Geniestreich.

Aktuell

Zum Projekt

 

Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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