Der Durchbruch von Lyss

24. September, 03.00 Uhr: Plötzlich reger Verkehr am Industriering von Lyss. Autos fahren vor ein 150 Meter langes niederes Lagerhaus hinter der Bahnlinie Bern-Biel und blockieren die Eingänge und die Andockstellen für die Lastwagen. Danach warten die knapp dreissig in dicke Jacken gehüllten Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter  auf diejenigen, die ab vier Uhr zur Arbeit eintreffen werden. Alle wissen: Heute Morgen beginnt wenn nötig der Warnstreik gegen das Logistikzentrum der Usego AG.

Das ignorierte Ultimatum

Drei Stunden zuvor, um Mitternacht, ist das Ultimatum der GBI-Unia ohne Reaktion der Usego abgelaufen. In diesem Fall hat die Gewerkschaft «unverzügliche Kampfmassnahmen» angekündigt. Bereits sind es drei Monate, dass die Usego die Schliessung ihres Logistikzentrums in Lyss auf Ende Oktober bekannt gegeben und den 77 Angestellten «50 vergleichbare» Stellen in den Zentren Bussigny (VD), Egerkingen (SO) und Winterthur (ZH) angeboten hat. Für jene, die leer ausgehen würden, gebe es einen «Massnahmenplan».

Dieses Fait accomplis akzeptierte man auf dem GBI-Unia-Regionalsekretariat Biel Seeland nicht und forderte ultimativ:

• Erstens sollte der Härtefall des arbeitsunfähigen «L.» aus dem Jahr 2000 geregelt werden. Damals hatte die Usego in Lyss bereits 150 Arbeitsplätze abgebaut und einen Fonds für Härtefälle eingerichtet, aber nie etwas bezahlt.

• Zweitens sollte die Usego ihre Probleme mit den extrem hohen Arbeitszeiten regeln – Chauffeure waren in letzter Zeit an Spitzentagen bis zu 14 Stunden ohne Pause unterwegs gewesen.

• Drittens sollte für jene, die die Stelle verlieren würden, ein Sozialplan ausgearbeitet werden, der diesen Namen verdient.

• Und viertens sollte sich die Usego bereit erklären, Verhandlungen über die Einführung eines (GAV) beitsvertrags aufzunehmen.

Trotz einer – ergebnislos abgebrochenen – Verhandlungsrunde, trotz Flugblattaktionen und einer Pressekonferenz waren die Gewerkschafter Corrado Pardini, Jesus Fernandez und Alain Zahler in den letzten Wochen keinen Schritt weitergekommen. Usego-Direktor Wolfgang Winter hatte verlauten lassen, der «Massnahmenplan» sei nicht verhandelbar. Deshalb gebe es «keinen Verhandlungsgegenstand» («Bieler Tagblatt», 13.8.2003).

Das lange Warten

Jorge Carneiro Dos Santos sitzt im Versammlungsraum des Gewerkschaftshauses von Lyss und erzählt, er sei am 24. September um vier Uhr beim Usego-Verteilzentrum eingetroffen: «Alle Leute blieben draussen und machten beim Streik mit – nur der Chef nicht.» Die Spannung steigt gegen sieben Uhr, als die temporär Angestellten zur Arbeit kommen. Sie sind zwar über die Aktion vorinformiert, aber nicht gewerkschaftlich organisiert und würden vom Streik, wenn er gelingt, nicht profitieren. «Weil für uns klar ist, dass wir nie gegen die Belegschaft streiken», sagt Corrado Pardini, habe man mit den eintreffenden Temporären sofort das Gespräch gesucht und sie vom Mitmachen zu überzeugen versucht. Es gelingt. Ausser zweien machen alle mit. «Um halb acht wusste ich: Der Warnstreik ist gelungen.»

Die Chauffeure der ankommenden Lastwagen, die Lebensmittel anliefern oder mitnehmen sollen, werden mit Kaffee und Sandwitches verpflegt und unverrichteter Dinge weggeschickt. Ansonsten beginnt das Warten. Wie würde die Usego reagieren? Ismeta Mühlemann erinnert sich: «Wir mussten uns gedulden. Es war sehr kalt, und ich hab mir schon überlegt: Was passiert jetzt? Lohnt sich das? Werden wir bestraft von der Usego? Die Spannung war gross, es war nicht einfach.»

Die Gewerkschafter setzen den Usego-Verantwortlichen in Egerkingen für Verhandlungen eine Frist bis zwölf Uhr. Sonst werde am nächsten Morgen das Logistikzentrum von Egerkingen blockiert. Um halb zehn kommt die Antwort: Man sei bereit, nach Lyss zu kommen und zu verhandeln. Während die Streikenden gemeinsam ins Dorf zum Mittagessen gehen, setzen sich Pardini, Fernandez und Zahler mit Direktor Winter an einen Tisch.

Rückkehr zur Sechstagewoche

Jorge Carneiro Dos Santos hat mehr als sieben Jahre in Zermatt als Koch gearbeitet, bevor er nach Biel kam. Seit vier Jahren arbeitet er jetzt bei der Usego, ist verheiratet und hat einen zweieinhalbmonatigen Sohn. Im Logistikzentrum hat er schon in der Warenannahme, als Staplerfahrer und als «Rüster» gearbeitet. Rüsten heisst, von Hand die Waren der vorliegenden Kundenbestellungen auf einem Palett zusammentragen: «Hier zwanzig Kartons Wein, dort dreissig Harrassen Coca-Cola und so weiter.» Eine schwere Arbeit: «Viele Leute haben Probleme mit dem Rücken. Auch ich war schon zweimal beim Arzt deswegen.»

Anhand der erledigten Bestellungen haben die Vorgesetzten in den letzten Jahren zeitweise Listen erstellt, wie viel die einzelnen gearbeitet haben: «Schaffte man weniger als 130 bis 140 Kartons pro Stunde, gab es Schwierigkeiten.» Seit anderthalb Jahren habe er zudem nun sogar sechs Tage pro Woche gearbeitet, fünfzig bis sechzig Stunden, montags bis freitags zehn, samstags in der Regel neun Stunden. Unterdessen hat er rund 390 Überstunden, die noch nicht bezahlt worden sind. Er verdient 4200 Franken brutto.

Ismeta Mühlemann ist ursprünglich als Saisonnière in die Schweiz gekommen, konnte als Bosnierin wegen des Kriegs nicht mehr nach Hause zurückkehren, hat geheiratet und zwei Söhne im Alter von zwei und dreizehn Jahren; der ältere besucht hier die Schule. Bereits 2000 wurde ihr im Rahmen des Stellenabbaus von Usego Lyss gekündigt: «Drei, vier Monate später haben sie per Inserat wieder Leute gesucht.» So ist sie, wie andere, zu Usego zurückgekehrt.

Zuerst arbeitete sie Allrounderin, dann beim «Retourposten», sie fakturierte für das Transportbüro, sie putzte, und in letzter Zeit wurde sie als einzige Frau Rüsterin. Im Gegensatz zu Dos Santos ist sie nur im Stundenlohn angestellt.

Ein Erfolg mit Perspektiven

Nach drei Stunden sind an diesem 24. September die Verhandlungen beendet. Pardini, Fernandez und Zahler sind zufrieden: Als erstes sichert die Usego zu, «auf Retorsionsmassnahmen gegen die am Streik beteiligten Mitarbeitenden» zu verzichten, den Streiktag als normalen Arbeitstag zu entschädigen und den Temporären eine «Goodwill-Entschädigung» von 200 Franken auszuzahlen. In den vier Punkten des Ultimatums haben sie sich durchgesetzt:

• Der Härtefall «L.» wird geregelt: Der Mann, dessen Antrag auf IV-Rente nach wie vor hängig ist, erhält einen grosszügigen Geldbetrag zur Überbrückung.

• Die Probleme mit den Überzeiten werden im Einzelfall bereinigt.

• Ein nachgebesserter Sozialplan wird unterschrieben, in dem unter anderem die Grundprämie der Abfindung verdoppelt wird.

• Die Parteien vereinbaren, «ab dem 1. Januar bis zum 31. Dezember 2004 gemeinsam mindestens einen ganztägigen Workshop sowie drei Gesprächsrunden (je rund ein halber Tag) durchzuführen. Das Ziel ist, einen von den Mitarbeitenden der Usego AG und den Parteien akzeptierten Gesamtarbeitsvertrag zu erarbeiten. Dieser könnte ab dem 1. Januar 2005 in Kraft treten.»

Aus gewerkschaftlich-strategischer Sicht ist dieser letzte Punkt der spannendste. Corrado Pardini: «Wenn es uns hier nach diesem ersten Streik im Detailhandelsbereich auch noch gelingt, einen Gesamtarbeitsvertrag für die 1500 Usego-Angestellten zu erreichen, dann ist das ein Durchbruch von schweizweiter Bedeutung.» In einer ersten Phase werde es darum gehen, «in einem gemeinsamen Prozess» auf der Arbeitgeberseite das Bewusstsein zu stärken, dass ein GAV die beste Lösung sei: «In einer zweiten Phase, wenn es dann um das Materielle geht, soll ein für alle Seiten akzeptabler Kompromiss ausgehandelt werden», sagt Pardini.

Was passiert Ende Oktober?

Das Restaurant «Zur Brauerei» liegt in Lyss etwas abseits. An diesem Abend essen an zwei Tischen ein Dutzend mittelalterliche Männer Pizzas und reden über schöne Wanderrouten. Ismeta Mühlemann balanciert ein Tablett voller Stangen durch die Gaststube. Jorge Carneiro Dos Santos, der uns hierher begleitet hat, erzählt das Neuste aus dem Migros-Verteilzentrum in Schönbühl: Dort habe man jetzt einen Roboter einzuarbeiten begonnen, der – wenn er erst voll funktioniere – vierzig Angestellte ersetzen solle.

Seine portugiesischen Kollegen, die dort bisher die gleiche Arbeit machten wie er für die Usego, befürchten jetzt auch, arbeitslos zu werden. Er selber hat heute zwischendurch Fenster geputzt, weil die Arbeit zur Neige geht. Ende Oktober ist fertig. Die Usego hat ihm zwar ein Stellenangebot in Bern vermittelt, und er hat sich dort vorgestellt. Bescheid hat er aber noch keinen.

Gegen halb zehn leert sich die Gaststube, Ismeta Mühlemann kann eine Pause machen. Sie arbeitet hier jeweils abends nach der Usego-Arbeit auf Abruf im Service, um etwas dazuzuverdienen. In Sarajewo leben ihre Mutter und ihre kranke Schwester mit zwei Kindern, ihr Vater und ihr Bruder sind im Krieg umgekommen. «Ich kämpfe, ich muss. Ich habe keine andere Wahl», sagt sie. Auch sie hat noch keine neue Stelle. Sie kennt die Situation in den anderen Betrieben am Lysser Industriering: «Bei Zyliss Haushaltgeräte oder den Maschinenbaufirmen Osterwalder und Feintool gibt es Kurzarbeit und Kündigungen. Hier eine neue Arbeit zu finden, ist schwierig.»

 

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Geht auch Zyliss?

Lyss soll weitere 80 Arbeitsplätze verlieren, wenn es nach dem Willen von Hardy Steinmann geht, dem Geschäftsführer der Haushaltgerätefirma Zyliss in der Nachbarschaft des Usego-Logistikzentrums. Nachdem Zyliss schon im Januar 25 Stellen gestrichen hatte, gab Steinmann letzte Woche die Stillegung des Produktionsbetriebs bis 2005 bekannt – erste Entlassungen sollen ab Ende Monat erfolgen. Der Standort Lyss sei nicht weiter tragbar, weil die Konkurrenzfähigkeit nicht mehr gegeben sei.

Am Montag ist es nun Corrado Pardini als zuständigem SMUV/GBI-Sekretär gelungen, mit Steinmann eine Vereinbarung abzuschliessen, wonach bis Ende 2003 keine Kündigungen ausgesprochen werden. Weiter hat sich Zyliss bereit erklärt, den Entscheid der Schliessung und das Schliessungsdatum noch einmal zu überprüfen und die Gewerkschaften Smuv und GBI als Sozialpartner für die Aushandlung eines allfälligen Sozialplans anzuerkennen.

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Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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