Das probate Thermometer

Auf der Bühne stellt sich eine bunte Schauspieltruppe, zum Teil als Menschenaffen verkleidet, vor Bundesrat Samuel Schmid (SVP), ein anderthalbtausend köpfiges Publikum und die live zugeschaltete Schweizer Fernsehgemeinde und hebt die Arme zum Rütlischwur. Doch statt in schillerschen Jamben aus dem «Wilhelm Tell» zu deklamieren, schwören sie, angeleitet von der TV-Moderatorin Wanda (Vyslouzilowá): «Das Schweizersein resultiert aus dem Schweizerwerden. Und das ist ein reiner Verwaltungsakt, vergleichbar mit der Erhebung der Hundesteuer.» Und was passiert? Ein halbe Minute lang kräftiger Applaus. Kurz darauf: Fabian (Krüger), Wandas Kokain schnupfender Moderationspartner, wendet sich an das Publikum, fordert mit magistraler Dirigentengeste dazu auf, sich zu erheben und stimmt die Nationalhymne an. Und was passiert? Das Publikum (inklusive Schmid) erhebt sich und beginnt, gemeinsam mit den «Affen» auf der Bühne, ungeschönt a capella von «Gott im hehren Vaterland» zu singen.

Dieses Absingen des Schweizer Psalms bildete am Abend des 1. August auf der Arteplage Biel den Abschluss des offiziellen Expo.02-Festspiels zur Bundesfeier – einer formal höchst komplizierten Inszenierung, die sechzig Minuten dauern, in allen Landesteilen verständlich sein, sowie gleichzeitig als Theaterpremière, Fernsehliveübertragung und als Teil eines grösseren Ganzen funktionieren musste. Inhaltlich fand eine Reality-TV-Show statt: Der Moderator Fabian will beweisen, dass Schweizersein auf einer metaphysisch verbindenden Gemeinsamkeit beruhe, indem er experimentell in einer Gruppe von SchweizerInnen, die in Bonoboaffen verwandelt worden sind, den eingeschmuggelten Sans-Papiers findet. Sein Scheitern ist das zentrale Motiv dieses vielfach verfremdeten Lehrtheaters.

Am Tag nach der Aufführung gaben die Inlandredaktionen der Medien Entwarnung: «Weniger subversiv als vermutet» («Tages-Anzeiger»); «Provoziert hat nur die Affenliebe» («Berner Zeitung»); es sei ein «lahmer moralisierender Schwank» («Neue Luzerner Zeitung») mit zu viel «didaktischem Eifer» («Bund»). Am Samstag doppelten die Feuilletonredaktionen nach: «Leertheater» auf dem «Niveau eines Pennälerscherzes» (NZZ), «holzschnittartiger Klamauk, der auf einer starren Sketch-Anordnung beruhte und ganz ohne Zwischentöne auskam» («BaslerZeitung»). Am Sonntag war wieder Ebner und Locarno angesagt, und der Expo-Chef Franz Steinegger hatte bereits das letzte Wort: «Das ist Theater von vorgestern» («SonntagsZeitung»).

Bruchlinie am rechten Rand

Der erste Grund, warum das Stück so und nicht anders aufgenommen worden ist, hat mit der Vorgeschichte der Aufführung zu tun:

Das Projekt, das Lukas Bärfuss und Samuel Schwarz – Autor und Regisseur der Theatergruppe «400asa»–  entworfen haben, war ehrgeizig. Die beiden wollten nicht nur Theater machen, sie wollten mit einer Debatte um die nationale Identität gesellschaftspolitisch intervenieren. Deshalb verkündeten sie schon Mitte Juni öffentlich, ihr Stück sei «antinationalistisch, antirassistisch und antisexistisch» und man werde bei der Aufführung «keine Schweizer Fahnen dulden». Darüber hinaus veröffentlichten sie den «Codex.02», der unter anderem zum Verbrennen der Schweizer Pässe aufforderte (siehe WoZ 28/2002).

Schnell zeigte sich, wer sich heute mit bürgerschreckender Polemik noch aus dem Busch klopfen lässt: Der freisinnige Nationalrat Kurt Wasserfallen forderte den Bundesrat auf, «dieses Festspiel schlicht und einfach abzusetzen». Der SVP-Nationalrat Simon Schenk empörte sich: «Fahnentheater, Füdleblüttlerfoto und jetzt noch Affentheater!», und seine Partei überreichte dem Festredner Schmid einen «1.-August-Notfall-Koffer» mit Schweizer Fahne. Die Schweizer Demokraten forderten eine superprovisorische Verfügung gegen das Stück, weil, wie sie fälschlicherweise behaupteten, «dem Vernehmen nach bei dieser Gelegenheit eine Schweizer Fahne verbrannt werden» solle. Und schliesslich lancierte «Le matin» mit einer Titelgeschichte den im Mai zu drei Monaten Gefängnis verurteilten Holocaust-Leugner Philippe Brennenstuhl und seine Strafklage gegen Regisseur Schwarz wegen «Tätlicher Angriffe auf schweizerische Hoheitszeichen» (Artikel 270 StGB).

Diese Bruchlinie zeigte, dass «400asa» nur den rechten Rand des politischen Spektrums zu skandalisieren vermochte. Gleichzeitig wurde die Skandalisierung als Rezeptionsstrategie für die Medien in dem Mass tabu, in dem sie von rechts aussen besetzt wurde. Als Ersatz bot sich die Ridikülisierungsstrategie an – umso mehr, als sie von Bundesrat Schmid unmittelbar nach der Aufführung vorgegeben wurde («Zu einfach, um die Komplexität des Themas zu behandeln», «Bund» 2.8.2002). Die Rezeption des «400asa»-Lehrstücks wurde auch zum Lehrstück über antiautoritären Obrigkeitsjournalismus.

Bruchlinie an der Sprachgrenze

Der zweite Grund, warum das Stück so und nicht anders aufgenommen worden ist, ist ein freundeidgenössischer:

Die Absicht von «400asa» war es, den Plot – und insbesondere den Auftritt der Bonoboaffen – geheim zu halten, um den grösstmöglichen Schockeffekt zu erreichen. Das misslang wegen einer Indiskretion der Télévision Suisse Romande (TSR). Diese hatte Mitte Juli per Communiqué eine Inhaltsangabe veröffentlicht. An der Medienkonferenz nach der Generalprobe des Stücks am 31. Juli hatte dann der TSR-Programmdirektor Raymond Vouillamoz einen bemerkenswerten Auftritt. Aggressiv attackierte er Bärfuss und Schwarz, ob sie sich eigentlich überlegt hätten, dass die Schweiz aus vier Teilen bestehe, und dass es in der Welschschweiz Leute gebe, die nicht Deutsch redeten. Da nach der Hauptprobe die Schwierigkeiten eines viersprachigen Theaterstücks ebenso offensichtlich geworden waren, wie das Bemühen der Theatergruppe, das Problem mit verschiedensten Massnahmen zu entschärfen, drängte sich die Vermutung auf, dass Vouillamoz mit einem vorgeschobenen Argument focht.

Man darf sich fragen, ob die Indiskretion des TSR, die die Rezeption durch die Aufhebung des Schockeffekts massgeblich steuerte, im Zusammenhang steht mit dem privaten Ärger eines Programmdirektors darüber, eine missliebige Sendung nicht verhindern zu können.

Das Ende des «Kritischen Patriotismus»

Das Projekt von «400asa» – mit der versuchten Provokation einer Debatte und dem Theaterstück  – hat sowohl eine traditionsbewusste als auch eine avantgardistische Seite: Es markiert einerseits einen Schlusspunkt des «Kritischen Patriotismus» in diesem Land, und es steht andererseits für eine Literatur- und Theaterkultur, deren Konturen und Perspektiven noch kaum erkennbar sind.

Für den Literaturwissenschaftler Peter von Matt meint «Kritischer Patriotismus» den «Patriotismus als Patriotismuskritik»: Max Frisch sei seine «Durchbruchs- und Leitfigur» gewesen, der Roman «Stiller» (1954) seine Ouvertüre. Sein ästhetisches Programm habe gelautet, den «Begriff des Mythos kurzerhand auf die Vorstellung von blauem Dunst» zu reduzieren, was ihn «eindimensional und undialektisch» gemacht habe, weil Mythos nicht Lüge, sondern «eine Wahrheit in Lügengestalt» sei.[1] Schulbuchmässiger «Kritischer Patriotismus» ist Fabians Antwort auf die Frage, was Winkelried gesagt habe, bevor er den Eidgenossen bei Sempach eine Gasse durch die habsburgischen Spiesse gebahnt habe: «Wele Seckel hät mi gschupft?»

Für von Matt wird der «Kritische Patriotismus» seit den achtziger Jahren von neuen Tendenzen überlagert. Öffentlich vertreten wird er aber bis heute – etwa von Peter Bichsel: «Ich halte Patriotismus für ein Verbrechen.» («Bund», 3.8.02) Dass das Projekt von «400asa» in dieser Tradition steht, ergibt sich nicht nur aus der Tatsache, dass sich Schwarz und Bärfuss in den letzten Wochen mit Vorliebe auf Bertolt Brecht bezogen haben (der 1947/48 in Zürich ein wichtiger Gesprächspartner der «Durchbruchs- und Leitfigur» Frisch gewesen ist) – es ergibt sich zusätzlich aus der intervenierenden Ambition des Projekts.

«Kritischer Patriotismus» heisst auch, dass die Intellektuellen auf dem gesellschaftspolitischem Parkett nicht nur mitreden wollten, sondern auch gehört wurden. Man denke an die Nationalräte Max Bill und Alfred Rasser, an den Ständeratskandidat Adolf Muschg, an Peter Bichsel, Otto F. Walter und Arnold Künzli als Verfasser eines (nicht verabschiedeten) SP-Parteiprogramms, an Max Frisch und Kurt Marti als politische Redner. Sie und viele andere haben ein Fenster aufgestossen, das sich spätestens in der Zeit des «Kulturboykotts» gegen die 700-Jahr-Feier (1990/91) schloss. Während Bundesrat Kurt Furgler mit Max Frisch noch öffentlich disputierte, sass Bundesrat Schmid in Biel wohl wirklich einen Abend lang ratlos vor der Trennscheibe eines Affenkäfigs.

Der Versuch von «400asa», dieses Fenster wieder aufzustossen, ist fehlgeschlagen: Jene Schweizer Fahne, die sich Schwarz und Bärfuss in Biel verbeten haben und die gleichentags Neonazis auf dem Rütli zur Schau trugen, ist marginal geworden. Die meisten heutigen Schweizer Kreuze haben mehr mit kommerziellem Markenzeichen oder Lifestyle-Ikone zu tun als mit Patriotismus. Letzterer ist ein ideologisches Relikt einer untergegangenen Zeit. Die moderne Schweiz hält sich für ideologiefrei.

Auf dem Weg zu einer neuen Ästhetik

Aber das Projekt von «400asa» steht auch für einen Neuanfang. In einer nicht verwendeten Passage der ausführlichen Gespräche mit der WoZ (siehe Nrn 28-31/2002) beschrieb Regisseur Schwarz den politischen Charakter seiner Arbeit so: «Wir sind an dieser Expo vielleicht insofern politisch, als wir uns an den Sitzungen in einer bestimmten Art verhalten. Mit dem, was wir machen im Arbeitsprozess, im Sein, haben wir Veränderungsmöglichkeiten.» Politische Haltung manifestiert sich demnach nicht mehr primär im «fortschrittlichen» Kunstwerk, sondern darin, wie man es herstellt und zur Wirkung bringt.

Zwar fordere die Öffentlichkeit heute, hat Schwarz weiter gesagt, «moralische Produkte, die eine saubere Aussage und einen klaren Sinn» hätten: «Aber für die Realisierung wird von den Leuten immer mehr das Unterziehen unter quasi militärische Strukturen gefordert.» «400asa» arbeitet anders: In Diskussion mit Schwarz hat Bärfuss als Autor eine Grobfassung formuliert. Diese wurde aber nicht zum Rohstoff für die dramaturgische Selbstverwirklichung, sondern zur Arbeitsgrundlage für alle, die am Stück mitarbeiteten. Diese kollektive Arbeitsweise ist nicht Selbstzweck, sondern Grundlage einer theatralen Ästhetik, in der sich Bühnenbild, Choreographie, Musik etc. emanzipieren von den Königsdisziplinen Dramaturgie und Schauspielerei. Sie basiert auf gleichzeitig und gleichberechtigt nebeneinander wirkenden, nicht selten subkulturell kodierten visuellen und auditiven Zeichen. Als im Stück zum Beispiel Fabian den Sans-Papiers unter den Affen gefunden zu haben meint und das betäubte Tier mit Klebeband brutal knebelt, wendet Wanda ein: «Aber Fabian, du chasch doch mit däm arme Äffli nid so umgaa.» Darauf Fabian: «Das machen unsere Schweizer Polizisten mit echten Menschen.» Gleichzeitig liest das Fernsehpublikum als Laufschrift den Satz «Kein Mensch ist illegal», gefolgt von der Internetadresse der Menschrechtsorganisation «augenauf». Umso besser, wenn die NZZ darin nur «nationalpädagogischen Klamauk» zu erkennen vermag.

Die Feuilletoncracks erwarteten ein Werk und wurden mit einem Werkzeug konfrontiert, ungeeignet zum kongenialen Salbadern, aber sehr probat zum Ablesen einer Temperatur: Thermometer statt Theater. Das Festspiel von «400asa» hat einen neuen Wert gesetzt auf der Fieberkurve der Krankheit, die «Schweizersein» heisst.

[1] Peter von Matt: Die tintenblauen Eidgenossen. München (Hanser) 2001. 10 f., 100 f., 131ff.

Aktuell

Zum Projekt

 

Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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