Chapeau, Nachbar!

Manchmal, wenn Benz Schär morgens aus dem Nachbarhaus kommt, sich aufs Velo schwingt und Richtung Stadt losfährt, ist sein Gesicht angespannt und abwesend: schon bei der Arbeit. Dann denke ich: Kein Schleck für ihn, die Fachstelle Migration zu leiten. Im täglichen Abnützungskampf gegen den harten asyl- und ausländerpolitischen Courant normal hilft ja das bessere und menschgemässere Argument, dem er verpflichtet ist, oft herzlich wenig.

Warum er sich das antut, frage ich mich dann. Man weiss doch, wie’s ist. «Viel mächtiger als Not und Zeit / Ist Schweizer Selbstgerechtigkeit», hat C. A. Loosli 1940 auch in Bezug auf die damalige Asylpolitik an Jakob Bührer geschrieben. Und 1965 kommentierte Max Frisch die schweizerische Ausländerpolitik in Friedenszeiten: «Ein kleines Herrenvolk sieht sich in Gefahr: man hat Arbeitskräfte gerufen, und es kommen Menschen.»

Als Nachbar Benz 1999 die Leitung der Fachstelle als einer, der die Welt gesehen hat, übernahm, hat er gewusst, dass er in einem hässlich reichen Land lebt. In einem Land, in dem von rechts bis viel zu weit links gilt, dass die Politik erst dort beginnen darf, wo der eigene Besitzstand aufhört – obschon von links bis rechts alle wissen, dass dieser Besitzstand in einer gerechten Welt nicht zu halten wäre. Und er hat auch gewusst, dass die Schweiz, solange man sie lässt, immer, wenn es ihr nützt, Arbeitskräfte rufen und das, was sie für Ausschussware hält, immer wieder prompt und kaltschnäuzig zu retournieren versuchen wird. Migration hin oder her.

Man muss, denke ich dann, froh sein, dass einer wie Benz sich bereit erklärt hat, die Fachstelle für Migration zu betreuen. Und ich besonders, für den eine solche Stelle ein starkes Argument ist, die Kirchensteuer weiterhin zu bezahlen. Denn ich bin nicht einer, der der Ansicht ist, die Angst vor dem eigenen Tod wäre heilbar, würde man bloss das Richtige glauben.

Dafür aber bezahle ich gerne: für einen Ort, wo Menschen fachkundig unterstützt werden, wenn sie nach dem demokratischen Willen des Herrenvolks gehauen oder gestochen keine Chance bekommen sollen. Das braucht’s: dass Leute trotzdem hinstehen, nicht planlos zurückhauen und zurückstechen, sondern mit Klugheit im Schatten der Öffentlichkeit den Rücken für diese Menschen breit machen; die dort im Einzelfall menschlich zu wirken versuchen, wo sich im Generellen die Unmenschlichkeit immer tiefer in die Paragraphen und in die Hirne einfrisst.

Eigentlich sollte ich das dem Benz einmal so sagen, denke ich. Das nächste Mal, wenn er auf seinem Velo mit dem Cello auf dem Rücken winkend durch die Spittelerstrasse fährt, werde ich rufen: Wart, Benz! Und dann sage ich schnell, damit er den Schwung nicht verliert: Chapeau, Nachbar! Und viel schöne Musik! Einen, der mit 65 noch zur Probe radelt, um im Quartett den schönen Klang zu suchen, darf man nicht bremsen.

«vice-versa» ist das Mitteilungsblatt der Fachstellen Oekumene, Mission, Entwicklungzusammenarbeit (OeME) und Migration (FaMi) der Reformierten Kirchen Bern-Jura-Solothurn. – Eine aktualisierte Variante dieses Textes erschien in «reformiert», Juni 2009, aus Anlass der Wahl von Benz H. R. Schär zum Präsidenten des Kirchgemeinderats Nydegg in Bern. Sie lautete wie folgt:

Benz for president!

Sonst schimmerte hinter dem Rollladen im zweiten Stock des Nachbarhauses oft bis spät in die Nacht eine Schreibtischlampe: Dort sass Benz, der Leiter der kirchlichen Fachstelle Migration, wohl wieder über asyl- und ausländerpolitischen Akten und arbeitete, stellte ich mir vor, am besseren und menschgemässeren Argument, obschon das in jenem Bereich so selten das stärkere ist.

Warum er sich das antut?, fragte ich mich dann jeweils. Man weiss doch, wie’s ist. «Viel mächtiger als Not und Zeit / Ist Schweizer Selbstgerechtigkeit», hat C. A. Loosli schon 1940, auch in Bezug auf die damalige Asylpolitik, an Jakob Bührer geschrieben. Und 1965 kommentierte Max Frisch die schweizerische Ausländerpolitik in Friedenszeiten: «Ein kleines Herrenvolk sieht sich in Gefahr: man hat Arbeitskräfte gerufen, und es kommen Menschen.»

Als Nachbar Benz 1999 die Leitung der Fachstelle als einer, der die Welt gesehen hat, übernahm, hat er gewusst, dass er in einem hässlich reichen Land lebt. In einem Land, in dem von rechts bis viel zu weit links gilt, dass die Politik erst dort beginnen darf, wo der eigene Besitzstand aufhört – obschon von links bis rechts alle wissen, dass dieser Besitzstand in einer gerechten Welt nicht zu halten wäre. Und er hat auch gewusst, dass die Schweiz, solange man sie lässt, immer, wenn es ihr nützt, Arbeitskräfte rufen und das, was sie für Ausschussware hält, immer wieder prompt und kaltschnäuzig zu retournieren versuchen wird. Migration hin oder her.

Man muss froh sein, dass einer wie Benz sich bereit erklärt hat, die Fachstelle für Migration zu betreuen. Und ich besonders, dachte ich, für den eine solche Stelle ein starkes Argument ist, die Kirchensteuer weiterhin zu bezahlen. Denn ich bin nicht einer, der der Ansicht wäre, die Angst vor dem eigenen Tod sei heilbar, wenn man bloss das Richtige glaubte.

Dafür aber bezahlte ich gerne: für einen Ort, wo Menschen fachkundig unterstützt werden, wenn sie nach dem demokratischen Willen des Herrenvolks gehauen oder gestochen keine Chance bekommen sollen. Das braucht’s doch: dass Leute trotzdem hinstehen, nicht planlos zurückhauen und zurückstechen, sondern mit Klugheit im Schatten der Öffentlichkeit den Rücken für diese Menschen breit machen; die dort im Einzelfall menschlich zu wirken versuchen, wo sich im Generellen die Unmenschlichkeit immer tiefer in Paragraphen und Hirne einfrisst.

In den letzten Wochen nun ist es abends hinter dem Rollladen im zweiten Stock des Nachbarhauses dunkel geblieben: Als Übergang in sein Nachberufsleben hatte sich der Nachbar auf eine grosse Ostasienreise begeben.

Und nun, kaum zurück, ist Benz H. R. Schär zum Präsidenten der Nydegg-Kirchgemeinderats gewählt worden. Mehr als ihm kann man zu dieser Wahl bloss der Kirchgemeinde selbst gratulieren. Ich wünschte der Welt mehr Präsidenten, die nachts am Schreibtisch über dem besseren und menschgemässeren Argument brüten, bevor sie entscheiden.

Am 5. Juli 2012 habe ich beim Sekretariat ebendieser Kirchgemeinde Nydegg meinen Kirchenaustritt deponiert. Nicht ohne meinen Nachbarn Benz H. R. Schär vorgängig mündlich informiert zu haben. 

Aktuell

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Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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