Arbeitsalltag in der Unterwelt

Gotthard-Basistunnel, Zwischenangriff Sedrun, Südweströhre: Polier im Vortrieb der zweiten Schicht ist Ferdinand Eibel, geboren 1960, Österreicher aus der Steiermark. Seit vier Jahren arbeitet er hier. Zuvor war er auf der anderen Seite des Bergs stationiert, auf der Baustelle von Faido.

Der Arbeitsweg hier in der Surselva ist auch für Eibel, Tunnelbauer mit dreissigjähriger Berufserfahrung, nicht alltäglich: Von der Unterkunft oben im Dorf Sedrun fährt er mit einer Standseilbahn hinunter auf den Installationsplatz im Talgrund. Von dort mit der Stollenbahn bis zum Schachtkopf einen Kilometer tief im Berg. Dann in einer knappen Minute mit einem riesigen Personenlift von 1350 Metern über Meer hinunter auf 500 in das Röhrensystem des Gotthard-Basistunnels. Und von dort wieder mit einer Bahn südwärts bis zur Stollenbrust. Täglich ein bisschen weiter. Schliesslich sind es gut sechs Kilometer.

Hier – ungefähr zweieinhalb Kilometer unter dem Piz Vatgira, bei Lufttemperaturen bis zu 28 Grad und einer Luftfeuchtigkeit um die 70 Prozent –, hier vorn hat Eibel mit seinem Vortrieb-Team den Tunnel Meter für Meter durch störungsreiche Gesteinsschichten Richtung Tessin vorangesprengt, bis dieser beim Durchstich  genau auf den Ausbruch der von Süden, von Faido her entgegenkommenden Tunnelbohrmaschine getroffen ist.

«Der Vortrieb», sagt Ferdinand Eibel, «funktioniert in einem wiederkehrenden Arbeitszyklus: Zuerst wird der Bohrjumbo nach vorn geführt an die Stollenbrust. Der Jumbo ist eine riesige, lasergesteuerte Maschine mit vier beweglichen Armen. Sie bohrt in die 68 Quadratmeter grosse, senkrechte Felsfläche der Stollenbrust 120 bis 140 Bohrlöcher, je nach Gestein bis zu vier Meter lang. In jedes Loch kommen ein elektronischer Zünder und Sprengstoff.

In dieser Phase bin ich für die Sicherheit meiner Leute verantwortlich. Meine Gruppe, acht Mann, zieht sich einige hundert Meter zurück in einen Frischluft versorgten Fluchtcontainer. Der Sprengmeister geht in Deckung in einem der Verbindungsstollen, die wir Querschläge nennen und die zwischen den beiden parallel laufenden Tunnelröhren im Abstand von 315 Metern herausgeschlagen werden.

Dann warnt eine Sirene: zuerst fünfmal, nach kurzem Abstand dreimal. Danach erfolgt die Sprengung. Innert Sekundenbruchteilen breiten sich die Explosionen von den Bohrlöchern im Zentrum der Stollenbrust zu jenen an den Rändern aus. Der Boden bebt, man spürt eine Druckwelle, ein letzter Sirenenton signalisiert Entwarnung, scharf riechende Schwaden von Ammoniak und Schwefel breiten sich aus. Diese Dämpfe können für die Lungen schädlich sein. Darum muss der Stollen jetzt belüftet werden. Diesen Arbeitsgang nennen wir Bewetterung: Sprenggase und Staub werden abgesaugt und Frischluft zugeführt. Nach einer guten Viertelstunde kommt meine Truppe nach vorn und spritzt das gesprengte Gestein mit Wasser ab.

Nun beginnt das Schuttern: Der Schutt wird mit Fahrladern etwa dreissig Meter zurückgeführt. Dort holt ihn ein Caterpillar und bringt ihn zurück zur Brecheranlage, die etwa hundert Meter hinter der Brust steht. Das Gestein wird zerkleinert und auf ein Förderband gekippt. Das Band bringt es zurück bis zu den Schutterwagen, und in diesen wird es per Lift hinauf und aus dem Berg transportiert. Ist der Ausbruch weg, kommt der Schremmhammer zum Einsatz. Alles lockere Gestein im neu ausgebrochenen Profil und an der Tunnelbrust muss weg. Mit losen Gneisplatten, die schnell einmal ein paar hundert Kilo wiegen, ist nicht zu spassen. Dann wird das Profil gereinigt und mit einer Schicht Spritzbeton überzogen.

Schliesslich bohren wir in kurzen Abständen vier Meter lange Swellex-Anker in den Fels. Sie sind so konstruiert, dass sie unter Wasserhochdruck ‘aufgeblasen’ werden können und durch Druck in alle Richtungen den Fels zusätzlich zusammenhalten.

Unterdessen werden auch Vermessungsarbeiten durchgeführt und natürlich laufend die Installationen für den Strom und das Brauchwasser weiter nach vorn gebaut. Zudem muss das Bergwasser abfliessen können, das dauernd aus dem angebohrten Fels dringt.

Das ist unser Arbeitszyklus, der jeweils ungefähr eine achtstündige Schicht in Anspruch nimmt. Danach kommt erneut der Jumbo nach vorn und bohrt die nächsten Sprenglöcher. Gearbeitet wird in drei Schichten rund um die Uhr.

Damit die Zusammenarbeit im Berg reibungslos funktioniert, muss alles stimmen: die Arbeitsbedingungen, mit denen wir hier zufrieden sein können; aber auch zum Beispiel das Essen, das sehr gut ist und jedem etwas bietet. Alles in allem profitieren wir hier in Sedrun von einem vernünftigen Arbeitgeber und den aufmerksamen Kollegen der Gewerkschaft Unia.

Am wichtigsten aber ist die Stimmung in der Truppe. Wir sind eine Familie, sag ich immer, wir müssen zusammenhalten, dann ist die Arbeit weniger schwer. Das Vertrauen muss stimmen und die Kommunikation. Wenn weder Hektik noch Nervosität aufkommen und jeder so arbeiten kann, wie er’s wirklich kann, dann nützt das auch der Sicherheit am meisten. Ich habe auf dieser Baustelle keinen einzigen Schwerverletzten gesehen. So muss es sein. Klar haben wir grosse körperliche Belastungen und ab und zu technische Störungen. Das gehört dazu. Aber technisch ist das, was wir hier tun, gelöst.

Was ich mache, wenn wir hier in Sedrun fertig sind? Ich bleibe Polier im Vortrieb, und ich hoffe, dass ich in der Schweiz weiterarbeiten kann. Bis zu meiner Pensionierung gibt es hier ja noch genügend Berge, die durchbohrt werden müssen.»

Abgedruckt in: Implenia / Transco / Unia [Hrsg.]: Das TunnelWerk. Neat-Baustelle Sedrun, Dallenwil (Druckerei Odermatt AG) 2010, S. 61-62. – Ich habe über diesen Besuch auf der unterirdischen Baustelle vom 25. Mai 2010 noch einen zweiten Text verfasst, der unter dem Titel«Noch hundert Tage bis zum Durchstich» in der Gewerkschaftszeitung Work erschienen ist.

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Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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