Und jeder Schuss ein WM-Kampf

 

«Meine Mutter ist jenisch, mein Vater ist Italiener. Wenn das so ist, dann wächst du in Bern im Tscharnergut auf. Das ist klar. Mein Vater kam in die Schweiz, als er zwölf war. Mein Grossvater stammte aus Parma und war für Italien im Krieg, Panzerleutnant vor Tobruk und El-Alamain in Nordafrika – währenddem sie hier in der Schweiz mit 24 Flab-Kanonen Aktivdienst geschoben haben und von ihren fünf Fliegereinheiten gerade drei fliegen konnten. Mit fünf hat mein Père seinen Vater zum erstenmal gesehen, als der nach Hause kam aus dem Krieg, mit langem, verlaustem Bart und mit Malaria. Dann kam ein Rundschreiben der General Motors Biel. Die haben gelernte Fachleute gesucht. Weil der Grossvater gelernter Karosseriespengler war, hat er sich gemeldet. So ist die Familie Vaglietti nach dem Krieg in die Schweiz gekommen. Mit 42 ist der Grossvater an der Malaria gestorben.

Meine Mutter ist ein Oberrevoluzzger, die kann nicht schweigen. Bis sie ihre Sippe auseinandergerissen haben, ist sie im Wohnwagen, dem Rotl, gefahren. Als Kind hat sie nichts anders gewusst, als sich durchzuellbögeln. Von einem Vormund ist sie versorgt worden und kam in dieses Pro-Juventute-Hilfswerk ‘Kinder der Landstrasse’. Zwei ihrer Cousinen haben fünfzig Jahre lang im gleichen Dorf nebeneinander gewohnt, haben einander sogar gut gemocht, und alle haben immer gesagt, das müssten doch Schwestern sein. Aber beide waren Verdingkinder. An der Beerdigung von Tante Käthi hat man dann anhand von Dokumenten herausgefunden, dass sie wirklich Schwestern sind. Nach fünfzig Jahren! Verschteisch, was i meine?

Meine Jugend im Tscharni war nicht schön. Die Eltern haben nicht viel Zeit gehabt, immer am Bügeln, meistens Lämpen, finanzielle Schwierigkeiten – das macht eine Familie huere kaputt. Der Père war nie da, der hat sechzehn Stunden am Tag gekrüppelt. Morgens um vier hat er für den Märit, wo er arbeitete, Salat gerüstet, abends um halb zehn ist er nach Hause gekommen, hat sich vor den Fernseher geworfen und nur noch hier «Haut d’Schnurre!», dort «Haut d’Schnurre!». Völlig kaputtgekrampft, nie da, und wenn er da war, hat er Terror gemacht. Und dann motzt die Alte auch noch, es sei zuwenig Kohle da. Dann hat er sie wieder zusammengeschissen, und ich habe nicht begriffen, warum er sie derart zusammenscheisst. Dein Hirn checkt zwar, dass etwas nicht stimmt, dass etwas ungerecht ist. Aber du checkst noch nicht genau, was. Wir waren damals so eine Pseudofamilie, weisst du. Das ist der Nährboden für die Aggressivität, die in dir drin entsteht.

Ich habe zwei Brüder – ich bin der mittlere, Jahrgang 67 –, wir waren drei Rauhbauzen, drei huereherti Sieche, die Mère ist mit uns nid z’Schlag cho. Im Tscharni haben wir alle drei mehr oder weniger um unser Überleben gekämpft. Dort waren alle aus solchen Familien wie wir. Schon im Sandkasten: hueregrob. Kämpfe! Brätsche! Gring härehaa! Keine Schmerzen zeigen, keine Schmerzen empfinden. Wir hatten zum Beispiel einen Irrgarten aus Beton für Velos. Du bist mit vollem Tempo hineingefahren, bis du auf eine Mauer aufgeklatscht bist. Wär ggrännet het, isch e dumme Siech gsy. Mutspiele. Dazu der Beton. Die Wohnsilos. Dort lernst du’s. Dort musst du geboren sein. Sonst wirst du kein Boxer, sonst musst du’s gar nicht probieren.

Und immer bin ich dr Tschinggu gewesen. Die Mutter jenisch, der Vater Italiener, immer hat’s geheissen: Häb Sorg, pass auf, dass du nicht auffällst, du darfst nichts sagen. Dabei findest du dich ganz normal. Das waren die frühen siebziger Jahre, die Schwarzenbach-Zeiten. Zum Beispiel gab es in meiner Schulklasse einen Polizistensohn, der hat alle terrorisiert. Er hat immer gesagt: Mi Père isch bir Schmier, du Dräcksack. Wenn mein Vater sagt, dass dein Vater gehen muss, dann muss dein Vater gehen. Einmal hat er mir die Kapuze an meiner Jacke weggerissen, die ich von der Winterhilfe bekommen hatte. Deshalb habe ich ihm eins gehauen, dass seine Brille runtergefallen und ein Bügel abgebrochen ist. Da ist’s losgegangen. Der Lehrer hat mich vor der ganzen Klasse blossgestellt und gesagt: Das ist der Vaglietti! Der hat dem Roger die Brille kaputtgeschlagen. Ich habe zu sagen versucht, der Roger habe mir zuerst die Kapuze weggerissen. Aber es nützte nichts, ich war der Schweinehund. Ich bin drangekommen. Wenn du einmal negativ auffällst, wenn sie wollen, dass das negativ ist, womit du auffällst, de bisch ne, verschteisch. Und danach wirst du so lange gedrechselt, bist du’s selber glaubst. Und zu Hause kannst du nicht reden, die haben schon selber genug Puff, denen kannst du nicht noch die Geschichte aufladen, dass du in der Schule drankommst, weil du Italiener bist. Nach der Schule sind sie uns damals bis vor die Haustüre nachgelaufen, zu siebt, zu acht: «Dräcktschinggu! Ghüdersack!» Und während des Turnens ist jeweils schnell einer raus, aufs WC, und dann waren meine Klamotten wieder in einem Abfallkübel. Dann schlägst du einmal zurück, und dann bist du ein Schläger. Ganz genau so sieht das aus.

Einmal ist meine Mutter aufs Amt gegangen und hat mich mitgenommen, ich ging damals in die erste oder zweite Klasse. Ein Fehler in der Steuerveranschlagung, viel zu hoch, total unverhältnismässig. Die Mutter ging an den Schalter, vorbelastet, mit der Angst, akzeptieren sie’s, akzeptieren sie’s nicht. Da hat der Beamte am Schalter zu ihr gesagt: Hättsch haut nid söuen e Tschinggu hürate. Die Schwarzenbach-Initiative ist damals nur knapp abgelehnt worden, mehr als 46 Prozent Ja. Wir hatten Angst damals. Aber dieses Gedrücktwerden, das gibt auch Kraft. Du kriegst das Gefühl: Ich muss mich wehren, gegen alles, was existiert. Gegen absolut alles. Tschägg, tschägg, tschägg.

Ungefähr um 1978 hat’s angefangen, Ruhe zu geben. Ich war damals auch schon grösser, vielleicht haben sie’s nicht mehr gewagt. Aber entschuldigt hat sich niemand für das, was vorher gewesen ist. Damals hat’s eine Grossaktion gegeben, man konnte sich einbürgern lassen lediglich für die Schreibgebühren. Die Eltern haben ihre drei Buben angemeldet. Heute bin ich Doppelbürger. Aber mein Vater ist Italiener geblieben und wird so begraben. Der will nicht mehr Schweizer werden, der sagt: Ich habe hier huere glitte. Ich mag nicht mehr. Ich bin ein Tschinggu, ich weiss es. In diesem Punkt verstehe ich ihn.

Dass sich mein Vater fürs Boxen interessierte, habe ich gemerkt, weil er jeweils schrie: «D’Schnurre haute! Rue! Süsch polet’s!», wenn im Fernsehen Boxen kam. Boxen im Fernsehen bedeutete höchste Konzentration des Vaters. Um ihm zu gefallen, damit er sich endlich etwas mehr um mich kümmert, um ihm zu zeigen, Ich bin auch jemand, habe ich zu boxen angefangen. Mit Knorrli zusammen, einem Fliegengewichtler, habe ich mich im Boxkeller von Charly Bühler beworben. Er hat uns abgewiesen. Aber ich habe noch einen anderen Keller gewusst, unten in der Matte, den Boxkeller des Boxrings Bern. Dort hat uns der Zuständige bloss angeschaut und gesagt: Trainer anziehen! Und schon waren wir drin in der Halle. Wir mussten ein wenig gegen den Sandsack boxen, und er hat zugeschaut. Dann sagte er: Doch, das ist gut. So habe ich das regelmässige Training aufgenommen.

Ich war damals, mit 16, bereits knapp hundert Kilo schwer. Ich hatte psychische Probleme wegen zu Hause und habe ziemlich viel gefressen. Ich war übergewichtig, hatte eine labile Fresskontrolle, Kummerspeck. Aber ich bin nicht kalt ins Boxen, ich habe damals dauernd Sport getrieben, über Mittag Handballtraining, am Nachmittag Rugby, abends Boxen. Immer move, verschteisch? Mit dem regelmässigen Boxtraining habe ich dann in drei Wochen acht Kilo verloren. Dieses Training war sehr gut. Danach war ich jeweils ausgepumpt, kaputt, ruhig. Nach den Trainings heim ins Nest, die Decke über die Ohren, die konnten nebenan noch so lärmen und Theater machen, ich hörte nichts mehr. Ich war jeweils total zufrieden.

Bereits nach kurzer Zeit hat’s geheissen: «Das Bürschteli het Talänt. Ab i Ring!» Aber gleichzeitig merkte ich: Eigentlich bist du jetzt gesund – was heisst gesund, du bist ja nicht krank gewesen, aber du chunnsch obenabe, bist kuriert. Der Aggro steckt im Sack. Du hast ihn rausgeboxt. Er ist weg. Du bist befriedigt. In diesem Moment willst du nicht mehr weiterboxen. Und dann wirst du zum Arzt geschickt. Bei mir ging das so: Bevor ich zum ersten Mal in den Ring kam, sagte man mir, ich sei zu schwer, ich müsse mehr abnehmen. – Aber wie denn? Ich kann nicht noch weniger essen. – Dann isst du eben das Falsche. Du musst eben nicht immer Spaghetti fressen. So tönte das, verschteisch? Also gut, ich will mir Mühe geben. Aber das ging dem Vorstand des Boxkellers nicht schnell genug. Deshalb sagten sie: Am gescheitesten gehst du einmal zu einem Arzt und lässt dich beraten. Natürlich haben die gewusst, was dort abgeht. Sie schickten ja alle Talentierten früher oder später dorthin. Ich ging also zum Doktor, einem Spezialarzt für Chirurgie, bezeichnenderweise an der Nägeligasse in Bern, heute nur einige Türen vom städtischen Fixerstübli entfernt. Ich ging hinein und sagte: Grüessech wou, ich tue boxe und möcht abnä, was ich noch mehr machen könne als das, was ich schon mache. Er hat mir darauf eine Kalorientabelle gegeben. Dann hat er seine Schubladen geöffnet, drei Medipackungen ohne Schachteln hervorgenommen und gesagt: Nehmen Sie von denen, von denen und von denen je eine Woche lang jeden Tag zwei, morgens und abends. Schauen Sie, bei welchen Sie am wenigsten Schlafprobleme kriegen.

Ich nahm die Tabletten und hatte keine Schlafprobleme. Wenn du dich derart ausgibst, wie ich mich damals ausgab, kommst du noch am gleichen Tag vom Speed herunter. Aber ich schluckte, ohne es zu wissen, Retard-Amphetamine, solche mit verzögerter chemischer Wirkung. Die lagern sich in den Fettschichten des Körpers ab, und wenn du danach auf natürlichem Weg abnimmst, fahren sie dir ein, und du weisst nicht, was passiert. Nach der Probephase wurde mir «Regenon retard» verschrieben, ein Medikament für schwerstadipositäre Leute, die wegen ihres Übergewichts arbeitsunfähig geworden sind. Auf dem Begleitzettel heisst es: «Darf nicht an labile Persönlichkeiten abgegeben werden.» Ich war aber nie schwerstadipositär, dagegen war ich psychisch labil. Innert einem Monat kam ich mit «Reganon retard» von etwa 95 auf 82 Kilo herunter. Ich konnte das Essen nicht mehr behalten. Alles, was ich ass, musste ich wieder kotzen. Ich kam richtig anorexiemässig drauf. Es kam soweit, dass mich die Mutter beim Gring nahm und sagte: «Jetz friss öppis, süsch hou dr e Siech.» Ich trank dann schnell was, nahm ein Rüebli und hetzte weiter. Voll auf Speed.

Nach sieben Wochen hat’s mich zusammengelegt, am Morgen, in der Schule, nach einem Training: pumm, einfach um, fertig. Nun haben sie Angst bekommen, alle zusammen. Ich ging zum Arzt, und der sagte, ich solle die Medis absetzen. Aber keine Hilfe, keine Erklärung, nichts. Einfach: Jetz tuesch di mau e Monet erhole. Auch nicht boxen. In diesem Monat habe ich nicht übermässig gefressen, aber fünfzehn Kilo zugenommen, fünfzehn Kilo! Danach hiess es im Boxkeller: Itz isch er wider dick, was wott dä überhoupt no hie. Aber ich wollte boxen, ich wollte Weltmeister werden. Alle haben sie doch gesagt, ich hätte Talent. Also wieder voll ins Training. Ich nahm ab. Aber jetzt begann der Retard-Scheissdreck zu wirken. Ich war sofort wieder auf Speed, wenn ich abnahm. Deshalb begann ich wieder zu fressen, um vom Speed herunterzukommen. Weil ich diesen Mechanismus nicht durchschaut habe, konnte ich auch nicht darüber reden. Ich habe nicht gewusst, dass mein Zustand etwas mit diesen Medis zu tun hatte. Ich habe diesem Arzt vertraut, verschteisch? Ein Arzt gibt dir doch nicht etwas, was dich krank macht. Das war meine Erziehung, das habe ich so gelernt. Deshalb ist dann dieser Marodenpink, wie die Jenischen sagen, dieser Arzt, sogar Hausarzt der Familie Vaglietti geworden.

Jetzt war das Training anders. Es machte mich aggressiv. Ich war nicht zu befriedigen. Mit nichts, durch nichts. Das Training fuhr nicht mehr ein. Alles fiel ins Bodenlose. Mit 112 Kilo habe ich trotz Speed und Übergewicht ein Trainingspensum absolviert, das kaum ein Modellathlet machen würde. Manchmal blitzte es im Kopf, der ganze Schädel vibrierte. Scheissegal. Danach hueretot. Aber am nächsten Morgen wieder aggro. Du bist auf dem Aff, weil im Training der Körper Fett abgebaut hat und so wieder Speed ausgeschüttet worden ist. Jetzt, am Morgen, brauchtest du mehr, aber es gibt nicht mehr, und du weisst nicht einmal, was du brauchen würdest. Es war Speed ohne Ende. Drei, vier Stunden Schlaf, monatelang, jahrelang.

Trotzdem war das Boxen das einzige, woran ich mich in dieser Zeit halten konnte. Ich machte meine ersten Kämpfe bei den Junioren. Aber es gab in meiner Gewichtsklasse praktisch keine Junioren. Von meinen Gegnern – das ist in den Lizenzen gedruckt – waren die allermeisten älter als ich. Knütteln gegen Ältere, damals noch mit Achtunzen-Handschuhen, die weniger gepolstert sind. Weisst du, i bin e herte Siech, e huereherte Schleger. Ich kann einstecken und austeilen, das geht gut. Ke Gfüeu me ir Schnurre. Das einzige, was nach einem gewissen Punkt der Anstrengung Probleme machte, waren Herz und Lungen, die zu stechen begannen. Und der Kopf begann zu vibrieren. Aber sonst? Du kämpfst, weil die Psyche sich daran gewöhnt hat, das geht dir in Fleisch und Blut, das bringst du nicht mehr hinaus. Und dann ist Boxen auch eine Technik: Du lernst hinschauen, du lernst ausweichen und schlagen, gnadenlos gerade, paff, diräkt uf d’Schnurre. Du hast keine Hemmungen mehr. Du bist das gewohnt, dass deine Faust aufschlägt. Dein Körper kennt das. Darum bist du als Boxer, der trainiert hat, jedem anderen, der sich mit dir prügeln will, immer überlegen. Das verlernst du nicht mehr. Das räblet immer no.

1985 konnte ich nicht mehr trainieren. Ich war ausgepumpt, ausgekotzt, kein Speed mehr im Ranzen, nichts mehr. U nähär gheisch psychisch abe, abe, abe. Und dann nimmst du dein erstes Bier. Jetzt darfst du ja Alkohol trinken, du boxt ja nicht mehr. Und dann merkst du: Alkohol macht auch ein komisches Gefühl im Kopf. Und weil dich der Speed derart bodenlos gemacht hat und du keine Grenzen spürst, beginnst du zu saufen. Bis mich die Leute gefragt haben: Warum säufst du eigentlich so viel? Da wurde mir bewusst: Ich saufe wirklich viel. Da kommt einer und sagt: Hör auf zu saufen; du musst kiffen, das bringt’s. Ich war Spielball. Ich bin schon immer Spielball gewesen. Ich blieb Spielball, egal, welche Erkenntnisse ich zuvor hatte. Ich begann zu kiffen.

Und irgendwann kam das Coci, das Kokain. Fünf Jahre lang habe ich’s gesnifft und geraucht. Dazwischen habe ich ein wenig gearbeitet. Dann hat das nicht mehr gereicht. Irgendeinmal hängst du an der Nadel, verschteisch? Coci war wie Speed, schnell, wahnsinnig schnell. Jeder Knall ein Schock. Das war ich mir gewohnt vom Boxen, das war fast wie im Match, jeder Schuss ein WM-Kampf. Dieses Herzklopfen, dieses Rasen im Körper, diese Wolke, dieses bodenlos Schnelle. Ich habe nie Sugar reingelassen, immer nur Coci, aber unsinnige Mengen. Wenn ich vierzehn Tage oder drei Wochen voll durchgedrückt hatte, begann es mich jeweils anzukotzen. Dann fragte ich mich: Warum drücksch, Schtöffu? Was söu das? Warum nimmt di das derewä ine? Was isch mitr passiert? An diesen Fragen bin ich manchmal fast verreckt.

Zwischenhinein habe ich den Aff gemacht, den kalten Entzug, danach versuchte ich wieder zu trainieren, immer auf die Schweizermeisterschaft hin. Beim ersten Titel, 1989, habe ich noch nicht gedrückt, bloss gesnifft und geraucht. Vor dem Match habe ich drei Monate lang kein Coci angerührt. Dann bin ich in den Ring, gegen Durante. Ich war damals 118 Kilo, e fette Siech, e u Fettlawine mit so einem Ranzen. Vor allem wollte ich den Funktionären vom Boxverband zeigen: Seht her, das macht ihr aus uns! Ihr habt mich früher gekannt. Ihr wisst, wie ich ausgesehen habe, wie ich geboxt habe. Jetzt schaut mich an. Es wäre mir scheissegal gewesen, wenn ich diesen Match verloren hätte. Dann kam der Skandal, Durantes klarer Tiefschlag in der ersten Runde, seine Disqualifikation. So bin ich zum ersten Mal Box-Schweizermeister im Superschwergewicht geworden.

Vor dem zweiten Titel, 1991, war ich in Bern als Kokser auf der Gasse. Meine damalige Freundin sagte: Du bringst’s überhaupt nicht mehr, hör auf zu träumen. Um’s ihr zu zeigen, hab ich wieder einen Aff gemacht, vierzehn Tage, dann bin ich hinunter in den Boxkeller und habe ohne abzustürzen wieder zu trainieren begonnen. Ich bin an die Schweizermeisterschaft und habe den Final gemacht, meinen letzten Kampf, gegen Femi, einen Türken, einen Angstgegner für alle Schwergewichtler, e herte Siech, ma viu verlide. Diesen Schweizermeistertitel habe ich mir ganz klar und fair nach Punkten erboxt. Da kann niemand etwas sagen. Ich wollte der Freundin zeigen, dass ich noch allweil in den Ring steigen und einen guten Match machen kann. Danach bin ich wieder abgestürzt, wieder auf Kokain.

Im August 1992 habe ich damit endgültig aufgehört. Damals war die Szene auf der Bundesterrasse hinter dem Bundeshaus. Ich war seit vierzehn Tagen ununterbrochen drauf. Nicht gepennt, herumgestresst, gemischelt. Den Knall habe ich fast nicht mehr in die Venen gebracht, alles war verhärtet und verkrustet. Da schaue ich eines Tages am Bundeshaus hinauf und sehe, wie oben in einem Fenster einer ein Sandwich frisst und gelangweilt zuschaut, wie wir unten herumspeeden. Da hat’s mir abgelöscht. Das ist mir schräg eingefahren. Da habe ich mich entschlossen: Jetzt ist fertig.

Und dann war da noch das andere: Ich habe mir damals eingebildet, ich könne die Leere, die in dieser ganzen Zeit in mir entstanden ist, mit einem anderen Menschen auffüllen. Ich habe damals eine Frau kennengelernt, eine Psychiatrieschwester. Sie war für mich ein halber Gott, schon nur, weil sie sich mit mir abgegeben hat. Die het mi inezoge. Ich habe den Aff gemacht, um ihr zu zeigen: Du bist’s mir auf alle Fälle wert. Wir haben dann geheiratet. Ich wollte mit ihr eine Familie gründen, mir einen Boden machen, weisst du, ich brauche Boden. Ich habe mir eingebildet, wenn ich erst wieder Boden hätte, dann könnte ich vielleicht wieder regelmässig arbeiten und mir die Ernährung und all das leisten, was für meinen vergifteten Körper gut ist.

Zwischenhinein hab ich zu arbeiten versucht, damit ein wenig Geld hereinkommt. Im Temporärbüro sagten sie: Ihre Unterlagen, Herr Vaglietti. Aber ich hatte keine Unterlagen, nach sieben Jahren Coci. Ich wollte einfach etwas Vernünftiges bügeln. Also hinauf auf den Hasliberg, hinein in die Röhre, drei Kilometer in den Berg, sandstrahlen für 34 Franken die Stunde. Ich bin fast verreckt in der Röhre drin, ich mit meiner Platzangst. Und die anderen, damit sie den Job ertragen, haben sich die Birne ausgerechnet mit Coci vollgeputzt. Aber ich wollte doch eigentlich kein Coci mehr anrühren. Die anderen lachten mich aus: Du gehörst zum Team. Sniff mit, sonst schaffst du’s nicht in der Röhre. So läuft’s, verschteisch? Ein andermal, als ich nach langem wieder einen Job angenommen habe, komme ich dort rein, und als Boss steht einer vor mir, den ich als Stammfreier vom Berner Drogenstrich an der Taubenstrasse kenne, einer von denen, die hinten im Auto ein Kindersitzchen haben. Der sollte mein Chef werden. Ich habe zu ihm gesagt: Nein, mit dir keine vierzehn Tage.

Mit meiner Ehe hat es nicht geklappt. Wir haben uns getrennt. Eine Zeitlang habe ich danach gelebt wie ein Buddha, allein, zurückgezogen. Gekifft. Ich habe den Kiff gebraucht, damit das alles zurückkommt, was sie mir herausgerissen haben. Diese Gefühle. Die Gefühle. Die habe ich mir zurückgeholt. Es gibt dir niemand freiwillig etwas zurück. Dann habe ich nachzudenken begonnen: Was ist passiert? Warum? Wann? Wochenlang, zu Hause, kiffend. Und irgendeinmal bin ich langsam draufgekommen, was passiert ist. Letzthin hat mir mein Psychoarzt eine elektrische Schreibmaschine geschenkt, damit ich alles aufschreiben kann, was sich konserviert hat in meinem Hirn.

Bis zur Trennung von meiner Frau habe ich keinen Fünfer vom Staat genommen. Aber danach ging ich in Biel zum Sozialamt, obschon ich ein schlechtes Gewissen hatte. Ich wollte nicht wieder auf die Gasse, verschteisch? Als ich beim Sozialamt hereinkam, war dort die Frau Schüpbach. Die hat mir zugehört. Dann hat sie gesagt: Heit Dr itz fertig gmööget? Darauf hat sie ganz ruhig erklärt: Das und das und das heitr zguet. Ohne null Lämpen. Arbeiten kann ich nicht mehr. Schau dir meine Hände an, hier ein Knochen draussen, hier, hier. Wenn ich von Hand schreiben will, habe ich nach einer Viertelstunde Schmerzen bis hinter die Ellbogen. Manchmal habe ich Depressionen. Manchmal kann ich eine Woche lang nicht mehr pennen. Um soziale Kontakte zu pflegen, habe ich zu wenig Geld. Ich bin isoliert. Total. Ich kann zwar in Biel herumhängen. Aber was gibt’s in Biel? Die Szene. Wenn ich dort verkehre, isch Coci ume, Ecstasy und Trips. Ich ertrage dieses Volk nicht mehr. Aber bei den normalen Leuten bin ich ein Exjunk. Wenn ich mit ihnen ins Bad gehe und sie meine Armbeugen sehen, ist’s passiert.

Ich bin froh, dass mir der Schweizer Staat 820 Franken bezahlt. Und die Loge und die Rechnungen. Aber 820 Franken brauche ich fürs Essen für mich und Emmeli, meinen Bullterrier. Ich ernähre sie nicht mit Büchsenfutter, ich koche immer Reis und Gemüse, dazu ein bisschen Knochenmehl. Darum ist sie auch nicht apathisch, depressiv oder aggressiv. Ich selber muss mich so ernähren, wie ich eigentlich nicht möchte. Die guten Sachen, die ich brauchen würde, um den Rest des Gifts aus dem Körper herauszuputzen, kann ich mir nicht leisten. Ich sage nicht, dass ich nicht zufrieden sei. Ich sage nur, dass ich irgendwo das Gefühl habe, dass man mir noch ein bisschen mehr helfen sollte, verschteisch?

Meine Eltern möchten, dass ich all diese Geschichten vergesse: Schtöffu, es geit dr ja wider guet. Chumm itz. Bisch ja drususe cho. Angst. Angst. Ich sei eh am kürzeren Hebel. Ich bin der Meinung, dass es in dieser Geschichte Gauner gibt. Die haben uns kaputtgemacht. Schau dir all die Boxer an, den Scacchia oder den Seppli Iten, den Meuret, den Rögu Corbaz oder den Thierry Béguelin. Jeder von denen hat Speed bekommen, jeder, und jeder hätte seine eigene Drogengeschichte zu erzählen. Oder Walter Blaser: hat seine Alte mit der Axt erschlagen. Blaser sei mit seinem Leben nicht mehr zurande gekommen, weil ihm der Erfolg gefehlt habe. Es hat noch mancher keinen Erfolg und erschlägt deshalb nicht gleich seine Frau. Es het anger Gründ, dass d Boxer immer huerebrutau düregheie.

Merkst du jetzt, wie wichtig mir die Veröffentlichung meiner Geschichte ist? Ich kann sonst nicht mehr weiterleben. Die Geschichte muss hinaus. Und ich hoffe, dass die Leute drauf reagieren und noch mehr wissen wollen, dass man nachhakt und aufrollt von zuhinterst bis zuvorderst. Die Öffentlichkeit ist der einzige Weg, damit die Leute mir wieder anders begegnen. Ich will nach all dem nicht auch noch ausgelacht werden.»

Vagliettis Geschichte ist seither von mehreren Medien aufgegriffen respektive als Anlass für weiterführende Recherchen verwendet worden (vgl. «Bieler Tagblatt» 26.9.1994, «S Plus/Schlüsselerlebnisse 2.10.1994, «DRS 3/Input», 15.1.1995 [dazu kam 2001 der Dokumentarfilm «Vaglietti zum Dritten» von Alfredo Knuchel]).

Nachgedruckt in: Fredi Lerch: Mit beiden Beinen im Boden, Zürich (WoZ im Rotpunktverlag) 1995, 225-236. (Dokumentiert wird die Buch-Version.)

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