Sippenhaft für In Situ

Andrea Masüger ist ein mächtiger Mann. Laut «Führungsorganigramm» der Südostschweiz–Mediengruppe unterstehen ihm die «Südostschweiz» (SO), das «Bündner Tagblatt», «La Quotidiana», Radio Grischa, Radio Engiadina und Tele Südostschweiz. Wer in Graubünden auf Medienöffentlichkeit angewiesen ist, wird Masüger mit Vorteil pfleglich behandeln.

Wolfram Frank ist informeller künstlerischer Leiter des Churer Theaterkollektivs In Situ und ein leidenschaftlicher Intellektueller und Publizist (vgl. etwa WoZ 32/2002 oder WOZ 9/2004). Als solcher hat er zur SO (Auflage: 145’000) eine klare Meinung: Der Quasimonopolist hat ein ungenügendes publizistisches Niveau.

Nun ist Chur keine Grossstadt. So kommt es, dass in der Gaststube des altehrwürdigen Hotels «Drei Könige» sowohl Masüger als auch Frank verkehren – Ende Februar 2005 dummerweise einmal gleichzeitig. Im Nachhinein waren sich die beiden nicht einmal einig, ob es am 25. oder am 26. gewesen sei. Auch sonst stimmen die unterdessen schriftlich vorliegenden Erinnerungen an das Treffen nicht überein.

Klar ist, dass Frank Masüger ungefragt seine Meinung gesagt hat in Bezug auf die «Diktatur der Buchstaben-Einfalt» der SO. Er, Frank, beobachte eine «DDRisierung» – was Masüger «mit kleinlichen, ‘kurfürstlichen’ Honeckeriaden»  beantwortet habe. Masüger seinerseits war «in Begleitung zweier Damen». Diese habe Frank als «Schlampen» beschimpft, die SO als «Faschistenblatt» – was dieser wiederum bestreitet: Sehr wohl möglich sei lediglich, dass er von «faschistoider Symptomatik» gesprochen habe, was zu «explicieren» er jederzeit bereit sei.

Klar ist im Weiteren: Masüger hatte daraufhin genug. Als SO-Chefredaktor schrieb er am 2. März an In Situ: «Wir werden über In Situ solange publizistisch keine Zeile mehr verlieren, bis sich Herr Frank schriftlich bei uns entschuldigt hat und bis er seine Anwürfe eingestellt hat. […] Wenn eine Vereinigung durch den öffentlichen Auftritt ihres Chefs Nachteile erleidet, so hat sie dieses Problem in erster Linie intern zu lösen.»

Dieser kleine Erpressungsversuch Masügers zeitigte keinen Erfolg. Nacheinander solidarisierten sich das Theaterkollektiv, der Vorstand und das Patronat von In Situ in Stellungnahmen mit Frank und forderten die Aufhebung des «Berichterstattungsembargos». Masüger blieb hart, die SO-Redaktion kuschte.

Am 10. Juni hat In Situ nun beim schweizerischen Presserat gegen die SO Beschwerde betreffend «Informationsverweigerung und Informationsverbot» eingereicht: Zwischen dem Konflikt von Masüger und Frank und der Arbeit von In Situ bestehe «keinerlei sachlicher Zusammenhang». Die SO-Mediengruppe, die «ein totales Medienmonopol in Chur und Graubünden» besitze, versuche «in vollkommener Umgehung bzw. Ignorierung der Bündner Öffentlichkeit jede ihr nicht genehme Stimme bzw. Information zu unterdrücken, d.h. auszuschalten».

In seiner Stellungnahme vom 26. Juni an den Presserat hat Masüger – selber Mitglied von dessen Stiftungsrat – seine Haltung bekräftigt, die Beschwerde zur Ablehnung empfohlen und festgehalten, die Mitglieder von In Situ müssten akzeptieren, «dass das Verhalten ihres Chefs auf ihre Gruppe abstrahlt». Beschwerde und Stellungnahme gehen nun an die Dritte Kammer des Presserats zur Beurteilung.

Unter Ausschluss von Churs Medienöffentlichkeit beginnt In Situ in diesen Tagen mit den Probearbeiten an der grössten diesjährigen Produktion, einer Inszenierung von Shakespeares «Hamlet» in der Übersetzung von Heiner Müller. Gefördert wird dieses Projekt unter anderen von Pro Helvetia und dem Kanton Graubünden. Premiere ist am 8. September in der Churer Kartarena.

 

In der WOZ Nr. 36/2005 veröffentlichte ich zur Sache noch diesen Nachzug:

Hamlet in Chur

Das freie Churer Theaterkollektiv In Situ bringt William Shakespeares «Hamlet» zur Aufführung. Ein ambitioniertes Projekt, das sich in einen «Hamlet»-Prolog (eine Installation), in die Aufführung des Stücks, in eine «Hamlet-Debatte» und einen «Hamlet»-Epilog (ein Textprojekt) aufteilt. Premiere ist am 8. September.

Dieser Inszenierung unter der Regie von Wolfram Frank ist eine Kontroverse vorausgegangen: Die Bündner Monopolzeitung «Südostschweiz» (SO) hat sich seit dem März geweigert, In Situ in der Zeitung zu erwähnen. Grund war ein vorangegangener Streit zwischen SO-Chefredaktor Andrea Masüger und In Situ-Regisseur Wolfram Frank (siehe WOZ 28+29/2005).

Unterdessen ist es zu einer halben Versöhnung gekommen: Die SO berichtet wieder über In Situ im Allgemeinen und die bevorstehende «Hamlet»-Inszenierung im Speziellen. Vorbehalten jedoch bleibt, so Masüger mit Brief vom 29. Juli an In Situ: «Bis zum Vorliegen einer Entschuldigung von Herrn Frank gilt dieser auf der Redaktion der SO als persona non grata.» Franks Inszenierung steht übrigens unter dem Motto des «Hamlet»-Zitats: «Die Zeit ist aus den Fugen.»

Schliesslich ist der Fall Frank vs. Masüger auch vom Schweizer Presserat beurteilt worden, vgl. «Gelbe Karte für Masüger». – Zu Wolfram Frank vgl. auch «Frank und frei in Chur».

Aktuell

Zum Projekt

 

Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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