Prozess um nicht genehme Wörter

4. November 1999, zwanzig nach acht, vor den Fenstern ein trüber Morgen. «Mit grösserer Furcht», beginnt der Angeklagte, «verkündet ihr vielleicht das Urteil, als ich es entgegennehme.» Gelangweilt, hinter massiven Pulten verschanzt, sitzen die sieben grauen Herren der «Aufsichtskommission über Rechtsanwälte» – gespannt ihnen gegenüber das Publikum, das den Geschworenengerichtssaal des Zürcher Obergerichts füllt bis zum letzten Platz. «Mit diesem Zitat des in Rom als Ketzer auf dem Scheiterhaufen verbrannten Giordano Bruno lasse ich nicht den geringsten Zweifel offen», fährt Rechtsanwalt Edmund Schönenberger mit seiner «Angriffs- und Verteidigungsrede» in eigener Sache fort, «dass wir uns hier mitten in einem modernen Inquisitionsprozess befinden». Wie man seinerzeit die Leute gejagt habe, «weil sie nicht buchstabengetreu die vorgekäuten Glaubenssätze nachgeplappert» hätten, werde er «von den heutigen Herren wegen gar nichts anderem verfolgt, als dass ich nicht genehme Wörter in den Mund genommen habe».

Aufforderung zum Hosenlupf

Es geht um Folgendes: Als Anwalt einer Klientin, deren Mutter jahrelang zwangspsychiatrisiert worden war, hatte er an das Obergericht eine Berufungsschrift zu verfassen gegen ein hanebüchenes Urteil des Bezirksgerichts Uster zulasten seiner Klientin. Darin schrieb er unter anderem, das Verfahren in Uster sei ein «reines Affentheater» gewesen, die Richter hätten lediglich das «betmühleartig heruntergeschwatzte Sprüchlein von Recht und Gerechtigkeit» zum Besten gegeben, was bekanntlicherweise nichts als ein «epochaler Betrug» sei. Das Ustermer Urteil sei ein «aufgetürmtes Machwerk und ein ungeniessbarer juristischer Wurstsalat» – und Weiteres in diesem Ton.

Oberrichter Eugen Spirig, referiert Schönenberger nun den Fall, der ihn hier zum Angeklagten macht, habe die Berufungsschrift wegen solch nicht genehmer Klarstellungen refüsiert: «Ich bin ihm so weit entgegengekommen, dass ich den Klartext aus dem Speicher meines Apparates geholt und die von ihm beanstandeten Ausdrücke je durch Anfangsbuchstaben und drei Pünktchen ersetzt habe.» Ein Lacher im Publikum. Auch das habe Spirig nicht gepasst, fährt Schönenberger fort, deshalb habe er erzürnt die «Aufsichtskommission» zu Hilfe gerufen. Seine, Schönenbergers, Berufungsbegründung habe er kurzerhand «aus dem ‘Recht’ gewiesen» und «die Klage gegen meine Klientin entschieden». Kleine Kunstpause.

Jetzt neigt sich Schönenberger, der 57jährige Jugendliche mit einem Gesicht voll menschenfreundlichen Schalks vor und fährt – die Hände in den Hosentaschen – fort: «Aber oha lätz!» Vereinzeltes Gelächter. Auf seine Nichtigkeitsbeschwerde gegen Sprigs «Fehlurteil» sei dieses vom Kassationsgericht des Kantons Zürich aufgehoben worden: «Dieses fand, dass meine zweite, die Anzeige gegen mich unmittelbar provozierende Eingabe hätte behandelt werden müssen.» Das hier stattfindende Berufsverbotsverfahren sei deshalb «eine Justizköpenickiade» und weil das so sei, schlage er unumwunden vor, die Sache hier «ohne langes Federlesen auf bodenständige Art und Weise» mit einem «Hosenlupf» zu erledigen. Er fordere hiermit jeden der sieben grauen Herren heraus, der Reihe nach gegen ihn anzutreten und zu versuchen, ihn aufs Kreuz zu legen: «Wenn die Mehrheit dieser Zweikämpfe mit meiner Niederlage endet, schwöre ich augenblicklich hoch und heilig, dass die Schweiz eine Demokratie sei.» Grosses Gelächter im Publikum. Ein Maskengesicht schlägt sich die Hand auf den Mund – die Augenfalten verraten das unterdrückte Schmunzeln.

Verein gegen eine hässliche Maschine

Das ist der rhetorische Hochseilakt eines furchtlosen Sprachakrobaten: Gegenüber seinen Richtern, die heute hier die Macht haben, ihn mit einem lebenslangen Berufsverbot zu belegen, macht sich Schönenberger für Augenblicke zum hintersinnigen Narren und sie damit zu Statisten einer satirischen Inszenierung. So wird umso klarer, worum es geht: Die Standesvertreter einer privilegierten Kaste sollen ein Kastenmitglied disziplinieren, das an einem unerträglichen Tick leidet: Seit gut dreissig Jahren arbeitet der Angeklagte nämlich nach der Maxime, nie einen wirtschaftlich Stärkeren gegen einen wirtschaftlich Schwächeren zu verteidigen. So ist er zum Anwalt der kleinen Leute geworden und glaubt heute nur noch eines: dass in der Justiz dieses Landes Mittellosigkeit das gleiche bedeute wie Rechtlosigkeit. Zwar wissen auch die grauen Herren, dass dieser Glaube so abwegig nicht ist. Aber wer in der Stunde solcher Anfechtung nicht standhaft unsozial bleibt, muss der erlauchten Kaste als Ketzer gelten. Wo käme man sonst hin? Lakonisch sagt jetzt Schönenberger: «1998 betrugen meine gesamten Einnahmen weniger als 7000 Franken. Tendenz fallend.» Seit Jahren bereite er sich deshalb auf einen so weit wie möglich geldlosen Lebensabend vor – als Selbstversorger auf einem Bauerngütchen im serbischen Hinterland, das der Familie seiner Frau gehöre.[1]

Als Anwalt der ArbeitnehmerInnen, MieterInnen, Entmündigten und Strafverfolgten wurde Schönenberger immer wieder und immer häufiger auch mit Opfern der Zwangspsychiatrie konfrontiert. 1987 gründete er deshalb in Zürich den Verein «Psychex», der sich unterdessen auch in Deutschland und in Österreich in jedem Fall, von dem er Kenntnis erhält, auf die Seite der internierten Person stellt und sich für deren sofortige Entlassung einsetzt. Psychex im Allgemeinen und Schönenberger im Speziellen sind für die Klinikpsychiatrie heute ein rotes Tuch. Kompromisslos und immer wieder erfolgreich befreit der Verein Psychex, gestützt auf Paragrafen der Europäischen Menschenrechtskonvention, seine Klienten und Klientinnen aus der Internierung und hält so der Zwangspsychiatrie Mal für Mal den Spiegel vor: Darin ist ein Gefängnis zu erkennen, das von Weisskitteln geführt wird.

Bekannt geworden ist zum Beispiel der Fall, der Schönenbergers Verteidiger Bernard Rambert anschliessend referieren wird. Anfang der sechziger Jahre wurde der knapp dreissigjährige W. in die psychiatrische Klinik Münsterlingen versenkt, weil er «besessen» sei, «sein Leben leben zu müssen, d.h. als ‘Künstler’ untätig herumzureisen, um sich inspirieren zu lassen. Das ist eine Wahnidee eines Debilen, die in der Wirklichkeit keine Grundlage hat.» Diese «Besessenheit» genügte, um W. 23 Jahre lang zu internieren und in dieser Zeit zwangsweise mit Neuroleptika zu «behandeln» – «zu Gunsten der Pharmaindustrie und zu Lasten der Krankenkassenprämien», wie Rambert kommentieren wird. Dann hat Psychex Wind von dem Fall bekommen. Das Entlassungsgesuch wird abgelehnt, ebenso die Berufung an das Bundesgericht. Also informiert Schönenberger die Presse. Der «Beobachter» beginnt zu recherchieren und stellt dem zuständigen Arzt schriftlich einige kritische Fragen. Nun wird W. von einem Tag auf den andern entlassen. Seit jenem Tag vor fünfzehn Jahren lebt er auf freiem Fuss – eine offenbar schwerwiegende chronische Geisteskrankheit ist von einem Tag auf den andern spurlos verschwunden. Nicht dank des Psychiaters, sondern dank des Spiegels, den ihm Psychex vorhielt.

Keiner hat den Kampf gegen diese Art Psychiatrie hartnäckiger und für die Opfer wirkungsvoller geführt als Schönenberger: «Es liegt auf der Hand, dass mir nicht bloss die Wahl meiner Worte verübelt wird», sagt er jetzt, «sondern dass hinter der Attacke gegen mich ein ganz anderer Grund steckt: Ich muss ausgeschaltet werden, weil ich den Hütern der herrschenden Ordnung anhand der von mir verteidigten Fälle ein übers andere Mal die Maske vom Gesicht reisse. Ich kann nachweisen, dass sie fortgesetzt lügen und betrügen. Sie verwalten nicht, wie sie vorgeben, einen freiheitlich demokratischen Rechtssaat, sondern eine Diktatur der Reichen – eine Plutokratie –, in welcher sich in epidemischem Ausmass die Verbrechen gegen die Menschenrechte jagen.»

Das Urteil und eine Selbstkritik

Jetzt redet Schönenberger ohne Narrenkappe gegen die Masken der sieben grauen Herren an, schwingt rhetorisch den Zweihänder gegen die verlogenen Gräulinge, die dieses bigotte Rechtssystem mit seinen grossen Begriffen und hehren Gesetzen vertreten, als ob sie nicht wüssten, dass er recht hat: «Aufgrund meiner gesamten Lebens- und Berufserfahrung bin ich der felsenfesten Überzeugung, dass es auf dieser Welt keine Demokratien gibt, sondern nur Oligarchien, in welchen weder Freiheit, Recht noch Gerechtigkeit, sondern die Interessen Weniger herrschen. Die Souveränität der wackeren Eidgenossen zerplatzt wie eine Seifenblase. Ein jämmerliches Volk von Bettlern hütet den Thron, übers Ohr gehauen und geknechtet von den mit dem Reichsschatz durchgebrannten Herren!»

Die Masken der grauen Herren bleiben unbewegt. Sie wissen, dass sie den bis in die Knochen integeren Moralisten mit einer drakonischen Strafe zum Märtyrer machen und ihm so eine umso grössere öffentliche Plattform bauen werden. Andererseits können sie ihr hochwohllöbliches Kastenmitglied Oberrichter Spirig, der die Anzeige erstattet hat, nicht desavouieren. Deshalb kennen sie das Urteil gegen Schönenberger längst: Sie werden ihn mit einem Berufsverbot von drei Monaten symbolisch bestrafen. Tags darauf wird Rambert kommentieren: «Deklariertes Ziel der Anzeige war ein lebenslanges Berufsverbot. Das Urteil ist unter diesem Aspekt ein Erfolg. Der grösste Erfolg war aber der Umstand, dass über 200 Menschen – zu einem grossen Teil direkt Betroffene – am Prozess anwesend waren. Sie sind der Beweis dafür, dass das Verdikt des Obergerichtes Makulatur ist.» Selbstverständlich wird es sich Ramberts Klient nicht nehmen lassen, gegen das Urteil zu rekurrieren.

Fast eine Stunde hat Schönenberger bereits geredet, als er nun zum Schluss noch einmal auf jenen Fall zu sprechen kommt, der Anlass wurde für diese Verhandlung: «Die Tatsache, dass die Mutter meiner Klientin fünf Jahre lang verlocht und gefoltert worden ist und beide Opfer mehrerer Menschenrechtsverbrechen geworden sind, ist eine gottverdammte Schweinerei. Ich lasse nur einen Vorwurf auf mir sitzen, nämlich, dass meine Kritik nicht noch schärfer ausgefallen ist.»

Zustimmungs- und Unmutsäusserungen aus dem Publikum seien im Gerichtssaal nicht gestattet, hätte nun der Vorsitzende der grauen Herren sagen müssen. Aber sein Votum ging unter in einem grossen, unbotmässigen Applaus.

 

[Kasten]

Die Wut über den Pfusch

«Ein Mann wie Edmund Schönenberger, der sich seit mehr als einem Jahrzehnt mit Klientinnen und Klienten in den wenig erfreulichen Gefilden der Zwangspsychiatrisierung – auch freundlicher FFE genannt – befasst, wird meiner Erfahrung nach unmöglich milder und verständnisvoller gegenüber den Behörden werden können. Je tiefer er in die Materie eindringt, desto wütender muss er werden, denn in der Psychiatrie wird mit dem Image des ‘unbestechlichen, nicht wertenden, naturwissenschaftlich-diagnostizierenden Arztes’ darüber hinweggetäuscht, dass in keinem medizinischen Bereich so gepfuscht wird wie in der Psychiatrie. Würden gewisse ‘Gutachten’, die aufgrund von selektivem Aktenstudium im Eiltempo zu satten Preisen produziert worden sind, wirklich gelesen, müsste jedes Gericht erkennen, welch haarsträubender Unsinn, welche liederlichen Formulierungen dazu dienen, Rekurse von Patienten und Patientinnen gegen den FFE abzuschmettern.» (Aus einem Brief des Psychex-Mitglieds Elisabeth Braun an die Aufsichtskommission über Rechtsanwälte des Kantons Zürich.)

[1] Edmund Schönenbergers gesammelte Schriften finden sich hier.

Aktuell

Zum Projekt

 

Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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