Menscherei

«wole nahm einen hammer und nagelte sich en brett vor die stirn», «ingeborg biss küssenden männern die zungenspitze ab», «bertolt war hoffnungslos in seinen staubsauger verliebt»: So beginnen drei der 216 knapp einseitigen Mikromelodramen Christoph Bauers (* 1956) – die nötigen 216 Vornamen hat er sich als Buchhändler, man merkt’s, zu einem guten Teil aus Katalogen und Regalen geholt. «unica» zum Beispiel hat sich zum Ziel gesetzt, «sämtlichen kindern in der stadt die nase zu putzen» und ist deshalb mit einem Rucksack voller Tempo-Taschentücher unterwegs. Oder «wolf»: Weil er erfahren hat, dass «das vorspiel im geschlechtsleben der nashörner zuweilen bis zu dreissig tagen anzudauern pflegt», wird er Zoowärter, bis er wegen «abartiger sexueller gelüste aus dem dienst entlassen» werden muss. Oder «sappho», Verkäuferin in der Schreibwarenabteilung eines Kaufhauses, die Dichterin sein möchte, es aber erst im Knast wird, nachdem sie das Kaufhaus angezündet hat. Nun hatte sie «die nötige ruhe, um an jene grenzen zu stossen, wo ihre worte wirklich zu schmerzen begannen. doch mit dem schmerz kam die unmöglichkeit zu leben.» Gnadenlos ist Bauer, der nun sein neuntes Buch publiziert, nicht nur mit seinem Personal, gewohnt gnadenlos ist er auch mit seinem Publikum: Wie in «Nahkampf. Ein demokratischer Heimatroman» (1987), als er auf je einer knappen Seite sämtliche damals amtierenden NationalrätInnen des Bundesparlaments niedermachte, reiht er nun Mikromelodramen – bis zum Überdruss. Scheint einem nach den ersten zehn, zwanzig Geschichten die eine noch absurd, die andere drastisch, die dritte sarkastisch, beginnen sie sich mit der Zeit immer mehr zu ähneln: Bauers Welt ist eine, deren Sinnlosigkeit nicht einmal mehr explizit denunziert werden muss, die Sinnlosigkeit ist durch die additive Darstellungsweise Teil der literarischen Form geworden: Alle aneinandergereihte Quantität von Schicksalen  schlägt in keine irgendwie geartete Sinnqualität um. Die Geschichten fliessen ineinander – zu einer Art «minimal music», ausgeführt in der monoton durchgehaltenen Klangfarbe hoffnungsloser Menscherei. 

Christoph Bauer: mikromelodramen, Zürich (Eco-verlag) 1994. 

Der Text wurde für den Druck im Ganzen leicht gestrafft, der letzte Satz wurde weggelassen. Er hatte gelautet: «Eine Nachttischlektüre für alle GottessucherInnen, die an dessen Beerdigung persönlich dabeigewesen sind.» – Auf die Druckversion der Kurzrezension hat Christoph Bauer mit Brief vom 2.11.1994 wie folgt reagiert:

«lieber fredi lerch,

mit einigem befremden habe ich erst jetzt deine kurze besprechung meines neuen buches in der woz vom 21.10. zur kenntnis genommen, bis jetzt warst du, wenn auch nicht immer lobend, was durchaus dein recht ist, stets fair in deinem urteil gegenüber meinen büchern. deine letzte besprechung scheint mir hingegen tief unter die Gürtellinie zu zielen, wenn nicht gar gemein, zumindest aber sehr lieblos und kaltschnäuzig zu sein. ich habe beispielsweise die vornamen der handelnden personen keineswegs aus regalen oder gar katalogen gezogen. sie alle sind namen von schriftstellerinnen und schriftstellern, von denen ich mindestens ein, meistens auch mehrere bücher gelesen habe. diese namenswahl ist demnach ein spiegel meiner langjährigen lektüre sowie auseinandersetzung mit literatur. irgendein arschloch muss ja noch lesen und sich einer gewissen tradition von poetischer subgeschichte verbunden fühlen. du hättest jederzeit bei mir oder beim verlag anrufen können, um zu erfahren, was denn diese seltsamen namen sollen. so lieblos abgetan, wie du es hingegen gemacht hast, widerspricht meiner auffassung einer ernst zu nehmenden literaturkritik. auch das wort «menscherei», mit dem du meine arbeit abstempelst, verletzt mich. mit was anderem als mit dem traurigen los der menschen soll ich mich denn befassen? wenn ichs richtig versteh, unterschiebst du mir beinahe, ich sei ein misanthrop. dass meine düstere weltsicht aber aus einer verzweifelten liebe zu eben dieser menschheit herrühren könnte, scheint dir nicht in den sinn zu kommen. meinst du eigentlich, es mache mir spass, mich über jahre hinweg in den dreck der alltäglichen existenz zu knien, um herauszufinden, was das menschliche dasein überhaupt ausmachen könnte? dies alles entspringt doch nur einem regen interesse am menschsein, lediglich, dass ich eben keine eindeutigen antworten auf all die sich dabei ergebenden fragen weiss. aber dies ist wohl auch das recht der literatur, diese ratlosigkeit inmitten von lauter menschen, die vorgeben, sie wüssten ganz genau, wos langgeht. demnach scheint mir die «Menscherei» eine arge beleidigung für das, was ich in den «mikromelodramen» tatsächlich geleistet habe. ob es nun gelungen ist oder nicht, sei dahingestellt. aber zumindest einen minimalen respekt gegenüber meiner ernsthaften auseinandersetzung wage ich schon zu fordern. wie stellst du dir das eigentlich vor, wenn jemand tag für tag über jahre hinweg an seinem schreibtisch hockt und sich in ein projekt reinkniet, von dem er kaum geld noch sonst was erwarten kann, und dieser mensch versucht nun rauszufinden, wie das ist mit der trauer, der Verzweiflung, der angst der menschen, und schliesslich erscheint endlich dieses buch mit den kleinen, dummen, ach so hilflosen Geschichten, worauf es ein unbedachter journalist ganz einfach mit ein paar zeilen in die pfanne haut? ich habe nicht im geringsten was gegen kritik, ganz im gegenteil, nur sollte sie meiner meinung nach begründet sein. dein urteil hingegen vom überdruss ist rein subjektiv und entspringt wohl nicht zuletzt deinem persönlichen überdruss für solche fragen, wie ich sie mir bei meiner arbeit an den «mikromelodramen» gestellt habe. wollt ihr eigentlich alle, die noch irgenetwas diesem pseudohumanistischen gewäsch derzeitiger deutschschweizer literatur entgegensetzen, mundtot machen? glücklicherweise arbeite ich bereits an einem neuen projekt und hab deswegen zu den «mikromelodramen» ein wenig distanz. ansonsten fühlte ich mich durch deine «Menscherei», gerade weils von der woz kommt, schon sehr gebeutelt. überhaupt mag ich dieses hickhack unter an sich gleichgesinnten nicht mehr allzu ernst nehmen. es sind grabenkämpfe, von denen die falsche seite letztlich ganz schon profitiert, indem wir uns gleich gegenseitig die köpfe einschlagen, uns zermürben und schwächen. ist dir eigentlich noch bewusst, dass der eco-verlag einer der letzten unabhängigen linken zürcher kleinverlage ist? aber versteh mich nicht falsch. ich will nicht jammern. lediglich, dass die arbeit auch meiner beiden verlegerinnen ernst genommen wird, wünschte ich mir schon. aber ihr findet wohl die leidlichen spässchen einer milena moser und den ha-ha-humor eines roger graf in letzter zeit um einiges subversiver als beispielweise die derbe kompromisslosigkeit meiner wenigkeit. na ja, dies entspricht denn unseren wunderbaren zeiten, womöglich bin ich tatsächlich nur eine art von literarischem punk und dresche mit meinem holzhammer auf den ewig gleichen saiten rum. nur eben «minimal music» produziere ich meiner meinung nach zuletzt. das ist wohl deine erwartungshaltung, die für dich diese geschichten zu einem brei werden lassen. zugegeben, ich kann und will niemanden zwingen, die «mikromelodramen» zu lesen. aber sie entsprechen gerade in einer zeit wie heute einer bestimmten notwendigkeit. ich war nie einer der modischen ästheten, und jedes meiner bücher antwortete lediglich auf gewisse bedrängnisse. dies zu erkennen, wäre im Idealfall deine aufgabe gewesen. vielleicht liest du sie irgendwann nochmals und lernst sie mit anderen augen sehen. in der zwischenzeit wünsch ich dir eine hoffentlich baldige genesung von deinem überdruss,

christoph bauer

p.s. mein neuestes projekt befasst sich übrigens mit dem seelenleben von niklaus meienberg und heisst «affengeist». (kein witz!)»

Am 8.11.1994 habe ich darauf geantwortet:

«Lieber Christoph Bauer

Danke für Deine ausführliche Stellungnahme zu meiner Rezension Deines neuen Buchs in WoZ 42/94 (‘Menscherei’). Ich habe dieses Textchen für die Literaturbeilage geschrieben, abgemacht war eine ‘Kurzbesprechung’ von 2500 Zeichen. Aus Platzgründen ist sie rausgeflogen und jetzt in einer der folgenden Zeitungen abgedruckt worden. Dass sie nach Deiner Meinung ‘lieblos und kaltschnäuzig’ ausgefallen ist und Dich ‘tief unter der Gürtellinie’ getroffen hat, nehme ich zur Kenntnis. Klar ist mir, dass Dir und dem Eco-Verlag mit einer anderen redaktionellen Platzvorgabe besser gedient gewesen wäre. 

Für das Meienberg-Projekt wünsche ich Dir viel Glück und verspreche Dir, dass ich darüber (schon aus Gründen meiner persönlichen Geschichte mit ihm) nichts schreiben werde. Ich werde mich aber dafür einsetzen, dass das Buch mit ‘einer ernst zu nehmenden Literaturkritik’ gewürdigt werden wird (dieser Brief geht zur Information und als Vorankündigung Deiner neuen Arbeit an die Kulturredaktion).

Mit freundlichen Grüssen»

Knapp siebzehn Jahre später habe ich Christoph Bauer zu einem ausführlichen Gespräch getroffen und darüber ebenfalls in der WOZ berichtet. 

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Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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