«Man muss die Leute gern haben»

Die spektakulären Installationen der Expo.02, die hier standen, sind verschwunden. Jetzt kommt der Bau des Strandbads Biel wieder zur Geltung, elegant und modern, obschon er schon 75 Jahre alt ist. Die Eingangspassage öffnet sich auf die Bucht mit Sandstrand, dahinter der See, grüngrau in der Mittagshitze.

In dieser Passage arbeitet Silvia Gottardo als Kassierin, verkauft Billette für 2 Franken 60 und ab fünf Uhr abends für die Hälfte, kontrolliert Abonnemente, vermietet Kabinen, verkauft Kioskwaren: Sonnenöl, Zeitschriften, Schwimmringe, Tauchutensilien. Hat sie Spätschicht, beginnt sie nach 20 Uhr, wenn die Gäste gegangen sind, abzurechnen, die Warenständer aufzufüllen, die Böden des Kassenraums und des angrenzenden Erste-Hilfe-Zimmers feucht aufzunehmen: «Will ich nach einem schönen Tag mit viel Betrieb alles picobello hinterlassen, habe ich nicht vor Viertel vor zehn Feierabend.»

Arbeitskonflikt bei der CTS

Das Strandbad gehört zur «Congrès, Tourisme et Sport SA» (CTS). Die CTS ist quasi die Freizeit AG der Stadt Biel – ein ausgelagertes Stück Service public. Sie umfasst 16 Geschäftsbereiche, neben dem Strandbad zum Beispiel das Hallenbad, das Eisstadion, ein Fitnesscenter und eine Sauna mit Solarium.

Im Herbst 2002 wurde Silvia Gottardo von der CTS zu 50 Prozent als Kassiererin im Eisstadion angestellt. Sie hatte sich eben von einer gesundheitlichen Krise erholt und machte nun eine gute Erfahrung: «Ich fühlte: Ich kann es doch noch. Jetzt habe ich die Krise überstanden und bin wieder gesund.» Seither arbeitet sie für die CTS, im Winter im Eisstadion, im Sommer im Hallenbad oder im Strandbad. Neuerdings bietet sie für die CTS Kurse an als Walking-Instruktorin.

Auf 1. Mai 2003 erhielt die Firma einen neuen Direktor, bereits den dritten in fünf Jahren, der sich darin versuchte, das gemeinnützige Pflichtenheft mit gewinnorientiertem Geschäften zusammen zu bringen, wobei nicht einmal ein gültiger Leistungsvertrag vorlag. Der Mann versuchte es mit einer Reorganisation.

Silvia Gottardo, unterdessen Bereichsleiterin Kundendienst, muss sich mit ihren Kolleginnen und Kollegen von nun an immer wieder anhören, dass sie alle zusammen nichts seien und nichts könnten. Sie leidet, weil sie als Bereichsleiterin Kadermitglied ist: «Wir sind mit den Leuten wirklich strub umgegangen.» Als der Direktor vier Kassierinnen entlässt und Änderungskündigungen ausspricht, um die Leute zu tieferen Löhnen wieder anstellen zu können, greift die Unia ein.

Gottardo solidarisiert sich mit ihren Kolleginnen und Kollegen an der Basis, beginnt mit der Gewerkschaft zusammenzuarbeiten und sagt ihrem Direktor an einer Sitzung offen ihre Meinung. Postwendend wird sie als Bereichsleiterin abgesetzt. Die Unia geht wegen des rüden Vorgehens des Managements an die Öffentlichkeit, der Direktor gerät unter Druck und zieht es vor, sich auf 1. Mai 2005 als Tourismusdirektor nach Lenzerheide Valbella abzusetzen. Am 23. Juni hat das Stadtparlament nun einen Leistungsvertrag für die CTS abgesegnet. Der Direktor, der ihn umsetzen soll, wird noch gesucht.

Liebe zu den Stammgästen

Seither arbeitet Silvia Gottardo wieder als Kassenfrau. Die Arbeit ist hart. Obschon sie 80 Prozent angestellt ist, hat sie nur ein Wochenende pro Monat frei, ihre zusätzliche Freizeit erhält sie, indem sind an einem Tag zum Beispiel nur zwischen 10.45 und 15.45 Uhr arbeitet. Mit zunehmendem Alter werde die Erholungszeit wichtiger, sagt sie: «Manchmal mache ich mir Sorgen: Stehe ich das bis 65 durch?»

Man müsse die Leute und den Kundenkontakt gerne haben, um die Arbeit hier zu machen, sagt sie. Umso mehr, als es auch gehässige und unhöfliche Gäste gibt. Manchmal nützt das professionellste Lächeln nichts. Aber für 2 Franken 60 könne man einfach nicht alles verlangen. Zwar hätten heute alle das Wort «sparen» im Mund, aber was das wirklich bedeute, wisse man wohl erst, wenn man einmal selber «unten durch» müsse. Sie musste unten durch, weil sie ihrem Direktor widersprach: Nach ihrer Zurückstufung, die mit dem Verlust von 20 Stellenprozenten verbunden war, musste sie in eine billigere Wohnung ziehen und das Auto verkaufen.

Trotzdem arbeitet Silvia Gottardo gerne an der Kasse, vor allem, wenn die Stammgäste kommen: «Wir grüssen uns mit Namen, und sie bedanken sich, wenn ich ihnen wie gewohnt einen Liegestuhl hole. Das ist ein gutes Feeling.» Und ein gutes Gefühl ist wichtig, denn sie hat in den letzten Jahren gelernt: «Jeder Tag ist kostbar. Man muss aus ihm das Beste machen.»

 

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Leidenschaft für Pferde

Silvia Gottardo (* 1951) lernte in der Bally-Filiale von Grenchen Schuhverkäuferin. Danach arbeitete sie vier Jahre in der Bally-Filiale von Biel. 1973 wechselte sie in den neuen Grenchner Coop City, wurde Rayonleiterin, dann Verkaufschefin und – als aktive VHTL-Gewerkschafterin – Mitglied der Geschäftsleitung.

1979 heiratet sie und wird 1980 und 1982 Mutter zweier Töchter. Mit ihrem Ehemann baut sie in Biel ein Sportgeschäft auf. In der Krise der neunziger Jahre geht das Geschäft Konkurs. Die Ehe zerbricht. Sie beginnt, in der Verpackerei der Firma Balzers in Brügg zu arbeiten, wird in Bern Filialleiterin des Kleidergeschäfts Popken, dann Rayonchefin im Berner Coop Ryfflihof. Dort kommen Überlastung mit Mobbing zusammen. Nach einer gesundheitlichen Krise beginnt sie im Herbst 2002 bei der CTS SA in Biel.

Silvia Gottardo ist Mitglied der Unia. Sie ist zu 80 Prozent angestellt und verdient 3600 Franken brutto. Ihr Interesse gilt der Politik, ihre Liebe dem Walking und ihre Leidenschaft der Zucht von Freiberger Pferden.

Mein Titelvorschlag hatte gelautet: «Das Lächeln vor dem Sandstrand».

Aktuell

Zum Projekt

 

Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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