In diesem Dossier sammle ich eigene Beiträge, die sich mit dem befassen, was eine Unabhängige Expertenkommission im Auftrag der Eidgenossenschaft zwischen 2014 und 2019 unter Begriffen wie «Fürsorgerische Zwangsmassnahmen» oder «Administrative Versorgungen» erforscht hat.
Ich bevorzuge für das Phänomen den Begriff «‘Administrativjustiz’ in Gänsefüsschen», den C. A. Loosli 1939 in Abgrenzung zum verwaltungsrechtlichen Terminus der Administrativjustiz so definiert hat: «Die ‘Administrativjustiz’ in Gänsefüsschen […] fusst nicht auf dem Verwaltungsrecht, sondern auf der Willkür des Staates, der Gemeinden und der Gesellschaft, die sich anmassen, den einzelnen Staatsbürger seinem natürlichen Richter zu entziehen, ihn der ihm ebenfalls verfassungmässig zustehenden Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetze und dem Rechte zu berauben, über seine Person, sein Eigentum willkürlich, unter Ausschluss jeglichen öffentlichen Verfahrens, unter Vergewaltigung und Verneinung seiner Menschen- und Bürgerrechte zu verfügen.»[1] 2007 habe ich in der Einführung zum entsprechenden Band der siebenbändigen C. A. Loosli-Werkausgabe vorgeschlagen, mit Blick auf die damalige Schweiz am Phänomen der «Administrativjustiz» folgende «sozial- und wirtschaftsgeschichtliche Hypothese» zu erproben: «Könnte man den Komplex von Verdingwesen, Anstaltserziehung und ‘Administrativjustiz’ als Maschine beschreiben, mit der in der Schweiz zwischen 1850 und 1950 in einem wirtschaftlich relevanten Ausmass ‘Untertanen’ produziert und als Arbeitskräfte verschlissen worden sind?»[2]
Ich datiere hier den Archipel «Administrativjustiz» zwischen 1837 und 1981: Selbstverständlich gab es Aspekte dieses Phänomens nicht erst seit 1837. Aber 1837 erschien Jeremias Gotthelfs Roman «Der Bauern-Spiegel», in dem er eine «Bettlergemeinde» und die dabei stattfindende «Mindersteigerung» schildert, bei der Verdingkinder an jenen Bauer versteigert wurden, der von der Gemeinde für Kost und Logis des Kindes am wenigsten Kostgeld verlangte – und schon deshalb motiviert war, die Kinderarbeit bei möglichst schlechter Reproduktion möglichst stark auszubeuten, um auf die Kosten zu kommen.[3] Für mich wurde diese Schilderung zum Symbol für den Umgang mit den Menschen aus der Unterschicht: Wie bei der Mindersteigerung von Verdingkindern verzahnen sich bei den Phänomenen der «Administrativjustiz» durchwegs patriarchale Sozialpolitik mit ökonomischer Ausbeutung.
Das Jahr 1981 dagegen markiert eine historische Zäsur: Am 1. Januar 1981 trat unter dem Druck der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) der Artikel 397 a-f des Zivilgesetzbuchs in Kraft, der die willkürlichen kantonalen Versorgungspraktiken abgeschafft und durch die Fürsorgerische Freiheitsentziehung (FFE) ersetzt hat. Aspekte des Archipels «Administrativjustiz» finden sich auch in folgenden Dossiers: Die Anstalt «Auf der Grube», Zwangsadoption und Jenische. (16.08.2019)
[1] C. A. Loosli: Administrativjustiz und Schweizerische Konzentrationslager. Bern (Selbstverlag) 1939, S. 8.
[2] C. A. Loosli: Administrativjustiz. Zürich (Rotpunktverlag) 2007, S. 11.
[3] Jeremias Gotthelf: Sämtliche Werke. Erlenbach-Zürich (Rentsch-Verlag), vgl. I, S. 68f. und XV, S. 103f.
*
Ein Leben lang administrativ versorgt. Die Geschichte von Bruno Koller. WoZ 35, 36, 38 + 29 / 1997.
Der Archipel Administrativjustiz. Neue Wege, Nr. 12 / 2003.
Aus dem Orkus der Geschichte taucht der Archipel Administrativjustiz auf. Journal B, 19. 6. 2013.
• Caroline Bühler / Heinz Kräuchi / Fredi Lerch / Katrin Rieder /Tanja Rietmann [Hg.]: Knabenheim «Auf der Grube»: 188 Jahre Zwangserziehung. Innenblicke und Aussenblicke. Zürich (Verlag Hier und Jetzt) 2022 (siehe auch hier).