WOLLT IHR DEN TOTALEN BETON?

I

beton besteht aus bindemitteln und zuschlagstoffen. zu den bindemitteln zählen wir zement, kalk, magnesitbinder und teer, zu den zuschlagstoffen sand, kies und schotter. grundsätzlich unterscheiden wir den gewöhnlichen oder schweren beton von leicht-, stampf-, guss-, spritz-, rüttel- und schleuderbeton. dazu kommt der bewehrte beton, worunter stahl- und spannbeton zu rechnen sind. aber darum geht es hier nicht.

II

im grellen sonnenlicht frühsommerlicher föhntage wirft sich beton stolz hellblitzend auf, eisbergig, phallisch, packeisig, triefend vor härte, erigiert, spannend, tragend, haltend, zerteilend, spaltend wälder und täler, berge und felder, ja, hart ist beton, hart und kalt. dafür pflegeleicht, geruch-, bügel- und auch sonst frei und weiss, weisser geht’s nicht. im regen steht beton dunkelgrau glänzend in der landschaft, wie für die ewigkeit gemacht: gewaltig. beton tritt ausschliesslich an der erdoberfläche auf: beton ist eine erfindung der menschen. wie erstermoseelfdrei zeigt, wurde beim turmbau zu babel noch kein beton verwendet: beton hat etwas mit fortschritt zu tun. beton tritt in verschiedenen erscheinungen auf: als pfeiler + pfosten, fundamente + fassaden, strassen + silos, als brücken + bunker und als mauern; als hohe, niedrige, dicke, dünne, berliner-, gefängnis- und friedhofmauern. beton grenzt ab, zäunt ein, sperrt aus, wuchert über. beton ist nicht zu übersehen. wissenschaftler erkannten: beton ist eine voraussetzung für babylonische Türme, die zu gott führen.

III

beton ist mehr als beton. beton ist eine bösartige geschwulst mit raschem, destruierendem infiltrativem wachstum. beton bildet metastasen, beton dringt ein in den kopf, verstopft ohren, wächst aus augen, versperrt münder, umschliesst hände. beton in den gesichtern eilig vorübergehender: das abgestorbene und aufgedunsene, das unerweckte, das verängstigte, aggressiv-verleugnende, verleugnete, das vergessende, verdrängende, verdrängte, abweisende, weg-weisende, das linkische, lauernde, lethargische, das verwachsene, hölzerne, versteinernde, das überschminkte, verzeichnete, verdeckte, das unerhoffte, ungewollte, das ungelebte, das vergessene, verlorene, versunkene, das zerfetzte, zerfressene, zerfallene, das verhärtete, verhärmte, verhetzte, das platte, flache. flattrige, fliegende, ja: BETON WÄCHST IN EURE SEELEN, beton ist «das Glaubensbekenntnis, das uns seit Jahrzehnten eingetrichtert wird: Wachstum her um jeden Preis, Zentralisation, immer mehr, um jeden Preis, Konsum, noch mehr, um jeden Preis, Zubetonierung der Landschaft um jeden Preis – ach … ich versteh jeden, der durchzudrehen beginnt!» (O. F. Walter)

IV

SIE HABEN MICH IN BETON GEBOREN: das spital, in dem ich geboren wurde, war aus beton; die wohnung der eltern war von beton umschlossen, das treppenhaus war aus kalten beton; der spielplatz war zubetoniert, der kindergarten war aus übermaltem beton, da schulhaus war aus grauem beton – BETON MACHT KRANK UND UNBERECHENBAR – der schulweg war himmelhoch zubetoniert; die schulkameraden wohnten hinter betonbergen in anderem beton, der vater des schulfreundes baute betonberge im quartier, die streifzüge durchs quartier führten durch beton, oh, beton sperrt aus – NIEDER MIT DER MONOBETONIE! – und mein freund ist nun nicht mehr mein freund, aber sein gymnasium ist auch aus beton und die fabrik ist aus beton und die kasernen sind aus beton, oh, beton sperrt ein – SCHADE, DASS BETON NICHT BRENNT! – ja, beton brennt nicht und BETON SCHMILZT nicht und beton ist unendlich und allumfassend und es gibt keine feuchte erde für meine hände (planiert, eingeebnet) und keinen moosigen waldboden für meine nackten füsse (abgeholzt ins lot gestellt): ANTON STATT BETON

V

Möchte auf den Strassen campieren gehen
Mais auf den Plätzen säen
Tausende von Blumen in den Beton setzen

Möchte atmen, lieben, wachsen können

ohne eure steinerne Moral

(AJZ I, basel)

VI

«Und aber: Gottver! Schaut doch, dort drüben – siehst Du? Das ist ja – also das soll jetzt der Kühlturm sein – das ist ja total verschütt, die sind ja wirklich hinüber.» (O. F. Walter) so war das damals, als wir hinuntermarschierten in die unterführung –, WEHRT EUCH, LEISTET WIDERSTAND – als die mutigeren vorne «barrikaden» bauten – GEGEN DAS ATOMKRAFTWERK IM LAND – und mir unverhofft jemand eine gasmaske in die hand drückte – HALTET FEST ZUSAMMEN –, bevor die marsmenschen kamen, von denen es hiess, sie täten nur ihre pflicht, um recht und ordnung (wessen recht? welche ordnung und wozu?) wiederherzustellen. das fühlte damals jeder: dieses recht und diese ordnung bringen uns immer mehr beton, da wird immer mehr abgeholzt, eingeebnet, planiert, begradigt, ins lot gestellt, zum schweigen gebracht: beton ist nicht nur beton, und später, immer wieder, sprach man mir vor der unvernunft, in gösgen demonstriert zu haben; wir brauchen doch strom, hiess es, und ich erkannte, dass jenen furcht eingejagt wurde (von wem? weshalb?) von wegen kerzchen auf dem nachttischchen, während meine angst wuchs. und ich lernte, dass beton etwas mit vernunft zu tun hat.

VII

etwas mit vernunft und mit fortschritt etwas: denn fortschritt heisst beton. beton ist vernünftig, vernunft ist fortschrittlich, fortschrittlich heisst beton, beton ist vernünftig, vernunft ist –: EINMAL KEIN FORTSCHRITT, DAS WÄRE EINER. jetz aber tritt auf der vernünftige, fortschrittliche kühlturm, errichtet aus gründen der energiegewinnung, der kapitalakumulation, des fortschritts, des wohlstands, des weitblicks, der allg. wohlfahrt (wohin?), der vernunft; er, der graue, geschmeidige, aufstrebende, sieghafte, ohne zukunft, die vereweigte gegenwart bis zum abriss, er tritt hervor, mächtig, fragt, heiser, laut, vor dem spiegel einstudiert, mit pathos, schreiend, drängend, fordernd: WOLLT IHR DEN TOTALEN BETON? empor braust das mächtige heil von biertischen, fliessbändern und schlachthäusern. NO FUTURE: dieses aber ist der preis: fortschritt und zukunft schliessen sich aus. beides gleichzeitig ist nicht zu haben. fortschritt oder zukunft, entweder oder, wählt!

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achtungachtung, durchsage an alle: DIE ZUKUNFT FÄLLT AUS, MANGELS TEILNEHMERN: sorry, ihr habt gewählt, zweifellos demokratisch (wessen demokratie? und wozu?) ihr habt fortschritt gewählt, die vernunft hat gesiegt (beton dringt in den kopf, umschliesst arme und beine).

VIII

der antrag der kinder auf zukunft unterlag. MACHT UNS NICHT KAPUTT, WIR SIND EURE ZUKUNFT ist wiederlegt: niemand ist irgendjemandes zukunft: die zukunft ist abgeschafft. «Wir haben keine Zukunft*)». sagen die kinder nun zu ihren vätern, verachtend deren fortschritt, der betonmausoleen baut dem traum des ewigen wucherns. «Wir gehen das Risiko der Phantasie ein und verdrängen damit (…) das Wissen um keine Zukunft.»

*) weltwoche-interview mit zürcher beweglern, mai 81

IX

MACH BÖIM US DINE TRÖIM, zürich, Dienstag, 19. mai 1981 (TA): «Andere Jugendliche setzten auf dem Carparkplatz neben dem AJZ zwei von der Stadt für die Umbauarbeiten zur Verfügung gestellte Pressluftbohrer in Aktion und rissen damit den Asphalt bei der Einfahrt auf. In die frische Erde wurden dann ein paar Bäumchen gepflanzt…»

Aktuell

Zum Projekt

 

Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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