Wo verbringt Jeanne Hersch ihre Ferien?

Man kann – wie es die Eidgenössische Jugendkommission in den «Thesen» tat[1] – grundsätzlich sagen: «Wir glauben (…) nicht an die ‘Drahtziehertheorie’, wenn damit gemeint ist, dass professionelle Manipulatoren die gewaltsamen Ereignisse der Jugendunruhen ausgelöst haben.» (S. 12) Wer die Drahtzieher-Theorie verwirft, sagt damit – zumindest implizit: Es existieren gesellschaftliche Missstände in einem Grad, dass der daraus resultierende Leidensdruck bei den am stärksten Betroffenen so gross geworden ist, dass explosionsartig Unruhen haben entstehen können / müssen. Dieses «anarchistische», führerlose Aufbrechen und Ausbrechen der Unruhen wird in diesem («liberalen») Gedankengang begründbar als Widerstand gegen die herrschende Gewalt, als Notwehr in Form direkter Gewalt gegen die erdrückende strukturelle Gewalt usw.

Vom Nutzen der Drahtziehertheorie

Man kann aber auch von der Drahtzieher-Theorie ausgehen: «Die Schuld an der verbrecherischen Gewalt trafen […] nicht allein die Rädelsführer, die Brandbombenwerfer und zerstörungswütigen Linksradikalen. Ebenso schuldig sind diejenigen, die die Kulturpolitik zum Klassenkampf missbrauchen und vom Schreibtisch aus politisch Andersdenkende verunglimpfen» (SVP-Communiqué, 3.6.1980).

Wer von der Drahtzieher-Theorie ausgeht, sagt damit: Nicht gesellschaftliche Missstände, sondern Scharfmacher und Nestbeschmutzer haben die Unruhen ausgelöst. Durch raffinierte Demagogie ist es den Vonnaduweisstschon-Gesteuerten gelungen, einen Teil der sensiblen und unterprivilegierten Jugend zu verführen und zu verwerflichem Tun anzustiften. Die Unruhen sind demnach nicht explosionsartig ausgebrochen, sondern im Verborgenen klandestinerweise geschürt worden. Es gilt, die Rädelsführer mit der ganzen Schärfe des Gesetzes zu treffen und die Mitläufer, die per definitionem keine eigene Meinung haben, als verlorene Söhne in die verzeihende Gemeinschaft heimzuführen.

Es darf also nicht ein, dass Tausende auf die Strasse gehen, ohne angestiftet, aufgerührt, verhetzt und verführt worden zu sein. Wo käme man da hin, wenn man dem Pöbel attestieren würde, er sei aus eigenen Stücken, aus freiem Entschluss, sozusagen «autonom» auf die Strasse gegangen, um echte, ehrliche Anliegen und Bedürfnisse vorzubringen? Wo käme man da hin, wenn man dieses Gassen- und Gossenvolk anders sehen sollte als eben als hirnloses Arbeits- und Schlachtvieh, dem man ab und zu brachial Ruhe und Ordnung beizubringen habe? Wo kämen wir hin, wenn die Regierenden die Regierten plötzlich ernst nehmen würden?

Ungewöhnlich schroffe Bewegung

Richtig: Das wäre das Chaos und deshalb braucht es professionelle Manipulatoren, die die hirnlos-pubertären Jugendlichen verführen, sagte sich Jeanne Hersch und schuf sie.[2] Wie man dies tut, sei zur lehrreichen Erbauung in extenso kredenzt: «Ich war bei einigen ‘Demonstrationen’ zugegen und habe ihre Akteure und ihren Ablauf sorgfältig beobachtet. […] Die ‘Demonstrationen’ sind im voraus geplant, natürlich nicht von der grossen Masse der Jugendlichen, sondern von den ‘in den Untergrund abgedrifteten Splittergruppen’ […] Die Demonstrationen werden von einigen wenigen mit der Hilfe einer Gruppe von Mitläufern (…) geplant, die, gelehrig und eifrig, im voraus an den strategisch wichtigen Stellen plaziert werden. […] Ich bin nach eingehender Beobachtung des Verhaltens einiger Anführer davon überzeugt, dass sie eine Ausbildung hinter sich haben. Wo, wann und wie, weiss ich nicht, und ich kann es auch nicht beweisen. Ihre Taktik, ihre Technik, ihre Art, die anderen anzuführen, ihre ungewöhnlich schroffen Bewegungen, ihre kalkulierte Schlagfertigkeit verraten aber eine auf Drill beruhende Schulung. Es wäre aufschlussreich zu erfahren, wo sie in den letzten Jahren ihre Ferien verbracht haben.» (S. 13 f.) Voilà: Schmachtend heben wir die Augen auf aus der Gosse und bekennen mit bebenden Lippen: Dies also ist Filosofie!

Die Drahtzieher der Drahtzeiher

Was die SVP im zitierten Communiqué auf einigen Zeilen auf den Begriff bringt, ist nichts anderes als eine Art «Drahtzieher-der-Drahtzieher-Theorie», die etwa so lautet: Es gibt erstens – in der Regel vom Ausland gesteuerte – Drahtzieher, die in irgendeiner Form in rechtsbrechender Weise in Erscheinung treten und es gibt zweitens Drahtzieher-der-Drahtzieher, einheimische nestbeschmutzende Schreibtischtäter, die, sich suhlend im Sympathisantensumpf, sowieso an allem schuld sind.

In nobler Zurückhaltung arbeitet Frau Hersch bezüglich dieser Theorie ausschliesslich mit Andeutungen, mit Ironie und sanftem Hohn: Die wirklichen Gründe für die gegenwärtige Lage sind auf der Ebene von Kultur, Sitten und Erziehung zu suchen (S. 27), wobei ja die heutigen Jugendlichen bereits grösstenteils Produkte der Schulen und Methoden sind, die seit 1968 Reform über Reform durchgemacht haben (S. 37). So bemüht sich die derzeitige Pädagogik, «den Wetteifer zu verneinen, zu verschleiern, zum Verschwinden zu bringen», obschon die «Menschen faktisch alle ungleich sind, ungleich namentlich an Fähigkeiten, Begabungen, Arbeitseifer» (S. 41). Noch schlimmer: Trotz (oder wegen?) der Psychologie und Soziologie werden heute zeitlose, grundlegende Erkenntnisse vernachlässigt, vergessen und manchmal verneint (S. 28). Da nützt es dann natürlich auch nichts mehr, dass die Ethologen auf dem besten Weg sind, die Gurus unserer Zeit zu werden (S. 32), denn die Medienschaffenden arbeiten durch die systematische Schwarzmalerei in den «sogenannten kulturellen Sendungen» (S. 56) auf die Zerstörung aller Sitten hin (S. 33). O ihr «ahnungslosen ‘Unverantwortlichen’», o ihr «zynischen Strategen des Nihilismus» (S. 34): Es genügt nicht, die «Phantasie an die Macht» bringen zu wollen! (S. 33)

Von den wahren Bedürfnissen der Jugendlichen

Nachdem Frau Hersch die Hetzer, Scharlatane und Rädelsführer gleichermassen dingfest gemacht hat, ist der Rest ein Kinderspiel. Nun kann es endlich um die wirklichen Bedürfnisse der Jugendlichen gehen. Und die haben ja nun wirklich nichts mit den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen zu tun. Wahre Bedürfnisse sind Sicherheit und Schutz: «Wahrscheinlich haben viele, jedoch nicht unbedingt alle der gewalttätigen Jugendlichen, von denen die Broschüre [gemeint sind die ‘Thesen’] handelt, nicht früh genug die Sicherheit und den Schutz erfahren, für die eine treu ergebene Liebe sorgt.» (S. 9) Damit ist die scharfe Kurve bereits geschafft: Die wirklichen Ursachen der Jugendunruhen sind gefunden: Die Papis wollen keine Väter mehr sein, die Mamis haben Mühe mit ihrer Rolle als Mutter: «Ihr tiefstes und gewiss auch am weitesten verbreitetes Bedürfnis ist das Bedürfnis nach einem richtigen Vater, nach einer richtigen Mutter. Keine Kameraden, sondern Eltern […], deren Liebe und Schutz bedingungslos und deren Autorität unerschütterlich ist» (S. 47).

Das Resultat dieser filosofischen Alchimie: Die Ursache der Jugendbewegung ist nicht «NO FUTURE» oder «MONOBETONIE» , ist weder Wohnungsnot noch Arbeitslosigkeit, ist nicht «1984» und schon gar nicht «KEINE MACHT FÜR NIEMAND». Das einzige die Gesellschaft wirklich betreffende Problem ist, dass durch die perfiden Psychologen-Pädagogen-Ethnologen-Soziologen die Träger von Autorität – Eltern, Lehrer, Politiker – in ihren Rollen verunsichert worden sind.

Eine Frage an Frau Hersch

Dass Frau Herr sich genötigt sieht, auf den letzten Seiten der Broschüre als Alibiübung einen direkt fortschrittlich klingenden Forderungskatalog (S. 54 ff.) anzuführen, wirkt eigentlich nur noch zynisch. Denn selbstverständlich fragt sie bei den wohlklingenden Forderungen wie besseren Mutterschutz oder sozialeren Wohnungsbau nicht nach der politischen Durchsetzbarkeit. Dass jene Leute, denen sie während 54 Seiten auf die politischen Mühlen argumentiert, keinen Finger krumm machen werden, um ihrem Forderungskatalog den Alibicharakter zu nehmen, weiss Frau Hersch so gut wie ich.

Bleibt eine letzte Frage: Wem hilft Frau Hersch mit ihrer Broschüre, wenn sie zu einem Zeitpunkt mehr Autorität und strengere Führung fordert, in dem immer mehr Jugendliche den Glauben in Eltern, Lehrer und Politiker verloren haben?

[1] Eidgenössische Kommission für Jugendfragen: Thesen zu den Jugendunruhen 1980, Bern (Bundesamt für Kulturpflege) November 1980, 40. S.

[2] Jeanne Hersch: Antithesen zu den Thesen zu den Jugendunruhen der Eidgenössischen Kommission für Jugendfragen: Der Feind heisst Nihilismus, Schaffhausen (P. Meili) 1982, 58 S.

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