GESTOCHENE TIERE

Es gibt einen menschlichen Massstab, den wir nicht verändern, sondern nur verlieren können. (Max Frisch)

grete und stilz hatten sich vorne in der küche besen und putzzeug geholt. sie wollten das männerklo putzen. während grete sorgfältig die weitverstreuten scherben des spiegels über dem lavabo, der letzte nacht wieder heruntergeschlagen worden war, zusammenlas, begann stilz das pissoir zu fegen. sie wechselten ab und zu ein scherzwort über die autonome putzerei und grete begann, die kleineren glassplitter zusammenzuwischen. dabei stiess sie mit dem besen die angelehnte tür eines der beiden abschliessbaren klos auf.

«bist du eigentlich vom wahnsinn umzingelt, du verdammte ziege!» brüllte es da aus dem scheisshaus und durch die halbgeöffnete tür sah sie stöff kauern, in der einen hand das feuerzeug, in der andern den angeschwärzten löffel, auf der abgedeckten kloschüssel lag die spritze. mit dem absatz trat er gegen die tür, dass sie ins schloss krachte.

grete und stilz waren gleichermassen erschrocken und wechselten einen verständnisinnigen blick, in diesem moment begann im zweiten klo, das verriegelt war, einer würgend und röhrend zu kotzen. gleich darauf höre man ein schabendes rutschen und gleiten und, unterbrochen von ächzen und würgen, einen endlosen sermon von flüchen, dann das scheppern einer umstürzenden flasche.

«gib endlich ruhe, du gottverdammte sau! wer’s nicht verträgt, soll nicht saufen!» liess sich stöff im andern klo wieder hören. unter der klotür des säufers hervor floss langsam erbrochenes. grete schluckte und sagte: «die schüssel hat er auch nicht getroffen», während stilz die fegbürste schulterte. schon unter der türe sagte er bestimmt: «ich habe keinen bock, die schweinereien dieser typen wegzuputzen, wirklich.» als ihm grete folgte, hörte sie nach einem langen rülpser den säufer aus seiner kabine brüllen: «darum hat dich gar niemand gebeten, du elender arschficker!»

*

während grete sich in der küche nach einiger zeit aufraffen konnte, den küchenboden zu wischen, sass stilz auf dem chromstählernen abtropfbrett und glotzte mit leeren augen durch die halbgeöffnete tür in den hof hinaus, wo der frühe abend dämmerte. seit einer halben stunde schwieg er frustriert. im mundwinkel hing sein kaltes haschpfeifchen, an dem er gedankenabwesend kaute.

«meine alten sind jetzt in sardinien für drei wochen», sagte er plötzlich. «sie hatten mich eingeladen mitzukommen.» grete schaute einen moment zu ihm herüber, dann suchte sie in den schränken schimpfend weiter nach einem neuen plastikabfallsack.

«nicht viel los, heute.» in der tür, die in den gang führte, stand herr kohlenmacher in seinem unauffälligen dunkelgrauen anzug. wie immer trug er auch seine schwarze krawatte. «aus pietät sozusagen», hatte er in der für ihn typischen, distingierten diktion seines dialekts einmal bemerkt, «als referenz an die hier herrschenden gesetze».

«es ist wohl noch zu früh», sagte stilz, nachdem er vor dem sprechen höflich die pfeife aus dem mund genommen hatte. herr kohlenmacheer war in die küche getreten. im vorbeigehen angelte er sich aus einem grossen plastiksack, der auf dem küchentisch stand, einen apfel und biss herzhaft hinein. herr kohlenmacher war hier schon fast seit beginn dabei. er besuchte die autonomen räume der jugendlichen in regelmässigen abständen.

«langsam fühlt man sich hier ein wenig zu hause», sagte herr kohlenmacher kauend und knipste die deckenbeleuchtung an. am schüttstein wusch sich grete ausgiebig die hände. stilz kaute wieder auf seinem pfeifchen und blinzelte geblendet ins aufgrellende neonlicht.

*

eben als grete neben der türe zum gang ihre hände trocknete, trat an ihr vorbei stöff mit frisch gekämmten haaren, nach seife riechend, in die küche. grete bemerkte seine stecknadelknopfkleinen pupillen und machte sich daran, die äpfel im plastiksack zu schälen.

«ach, guten abend herr kohlenmacher», sagte stöff und versuchte erstaunt zu tun, während seine leicht schielenden augen für einen augenblick stilz fixierten. «kann ich sie einen augenblick sprechen?» zuvorkommend lächelnd sagte herr kohlenmacher: «selbstverständlich.» als er stöff folgend die küche verliess, fiel ihm wie zufällig der halb aufgegessene apfel aus der hand. stilz rutschte vom abtropfbrett, bückte sich und warf den halben apfel in den frischen plastikabfallsack, der neben dem kochherd am boden lag.

«du könntest mindestens ein wenig teig auswallen», sagte grete. «ach, ist doch alles scheisse», brummte stilz und stemmte sich rückwärts erneut auf den chromstahl. draussen auf dem gang hörte man nun vermehrt schritte. einige leute schauten in die küche herein, grüssten. bruno trat in die küche, strich sich die schütteren haare mit der hand aus der stirn, lachte übers ganze gesicht und rief: «wie geht’s?» als er keine antwort erhielt, stellte er den kleinen plastiksack, den er in der hand hielt, neben den küchenschrank und posaunte durch die küche: «aber nicht wegnehmen, hier ist medizin drin, kann ich etwas helfen?» während stilz maulte: «du mit deinem hustensirup», reichte ihm grete das wallholz und einige packen kuchenteig. «mehr ist im schrank», sagte sie und stellte zum vorheizen den backofen an. lea kam herein, dick in ihre röcke und umhänge verpackt, frierend. sie setzte sich an den küchentisch, griff schweigend nach einem messer und begann, einen apfel zu schälen. als sie sich in den daumen schnitt, zuckte sie nicht mit der wimper, nahm den daumen in den mund und leckte gedankenverloren das blut. ihr kopf sank ein weinig nach vorne, die langen, strähnigen haare schlossen sich wie ein vorhang vor dem gesicht.

«bruno, du musst nur das halbe mehl auf dem fussboden verstreuen», stänkerte stilz von seinem chromstahlsitz herunter. bruno blickte erschrocken auf und blieb unschlüssig stehen, ohne ihre arbeit zu unterbrechen, sagte grete bestimmt: «solange du nicht mithilfst, hast du auch nichts zu meckern. mach nur, wie es dich dünkt, bruno.» bruno lachte schon wieder und erzählte von seinem früheren schulkameraden, den er heute in der stadt getroffen habe: der gehe jetzt aufs konservatorium und spiele auf dem klavier mozartsinfonien. der werde sicher einmal berühmt. stilz stopfte seine pfeife.

*

dann stand der lange hagere plötzlich in der tür. er hatte vereinzelte bartstoppeln und gelbe pickeln im fleckig geröteten gesicht und schwankte. aus der tasche seines mantels schaute der hals einer bierflasche. als er in die küche trat, zuckte er hilflos die schultern und sagte wie entschuldigend: «ich habe – habe nur die da gesucht.» mit dem rücken zum küchentisch liess er sich neben lea schwer auf einen stuhl fallen. er legte ihr zum gruss die hand auf die schulter und sie neigte für einen moment den kopf, so dass ihre wange flüchtig die hand berührte. grete legte den ersten ausgewallten teig auf ein eingefettetes blech und schlug mit einer gabel löcher in den teig. bruno glotzte selbstvergessen auf den hageren hinunter und dachte laut: «warum sind alle leute so traurig?» dann rollte er weiter das wallholz über den teig. der lange hagere trank sein bier leer.

«ach ja», seufzte herr kohlenmacher, als er jetzt wieder in die küche trat, «fleissig seid ihr, fleissig». er lächelte und legte seine hand auf gretes schulter. gleichzeitig fixierte er für einen moment lea, die unbeweglich am tisch sass. grete, die vor sich einen berg apfelscheiben hatte und sie in langen reihen auf dem teig auslegte, schüttelte die hand ungeduldig ab, sagte aber nichts. stilz hatte ein knie angezogen, das kinn darauf gestützt und paffte aus seiner pfeife kleine wölkchen in die küche.

als herr kohlenmacher sich eben drüben am schrank ein kleines stück brot abschnitt, war plötzlich leben im hageren. laut und rauh rief er: «geh aus der küche, du sau.»

ausser lea schauten alle erschrocken zum hageren hin und da der offenbar herrn kohlenmacher meinte, sagte dieser, ins brot beissend: «wie bitte?» – «du sollst zur küche raus, du dreckige dealersau!», stöhnte der hagere auf, und es klang wie der schrei eines gestochenen tiers. ohne mit der wimper zu zucken entgegnete herr kohlenmacher kauend: «also bitte, ich werde ja wohl das gleiche recht haben, mich in dieser autonomen küche aufzuhalten wie du.» während grete das erste kuchenblech scheppernd in den backofen schob, erhob sich der hagere taumelnd und sein schlacksig schlenkernder arm wies zur tür: «raus, sage ich, du verfluchter giftmischer!» in der tür sammelten sich neugierige. bruno hatte sich vor den schüttstein zurückgezogen und stand nun direkt neben dem paffenden stilz. herr kohlenmacher zupfte sich, einen schritt rückwärts gehend, seine schwarze krawatte zurecht und sagte: «Ich würde doch vorschlagen, dass du dich erst einmal beruhigst.»

während der schlacksige schritt vor schritt gegen herrn kohlenmacher vorging, zeigte er auf lea und zischte gefährlich leise: «schau sie dir an, du sau. kaputt! hier drin kaputt gemacht! an die spritze gekommen, hier drin! voll von deinem gift –». herr kohlenmacher wich zurück, um den tisch herum. der schlacksige folgte torkelnd. in der tür wuchs die traube der gaffer. bruno legte instinktiv seine hand auf stilzens schenkel. stilz schob die hand ärgerlich weg. grete sagte hilflos: «gebt schon ruhe. hier drin wird gekocht, nicht geprügelt.» der schlacksige brüllte wieder: «raus, du gemeines, fieses, dreckiges mistvieh! abreisser! ausbeuter! mörder! –», über die pickeligen wangen kollerten tränen, «– sonst bring ich dich um!» herr kohlenmacher ging langsam weiter zurück.

plötzlich liess er das brot, das er immer noch in der hand hielt, fallen, tauchte seitwärts, schnappte sich das messer, mit dem sich lea vorhin geschnitten hatte, vom tisch und blieb, kaum sichtbar gespannt, stehen. während er sagte: «jetzt ist aber genug», reagierte der hagere auf die plötzlichen hastigen bewegungen des herrn kohlenmachers, stürzte sich wankend und mit fuchtelnden armen vor, erwischte mit der hand herrn kohlenmachers krawatte, zog daran, stöhnte auf, sackte zusammen, knallte mit dem kopf auf die tischkante, schlug der länge nach hin, blieb mit blutender platzwunde an der stirn halb auf der seite reglos liegen.

stille. dann sagte einer von der tür her laut und dumm: «der hat ja das messer im bauch.» das stück brot, das herr kohlenmacher fallengelassen hatte, sog sich langsam mit dem blut voll, das dem hageren über das gesicht herunter floss. lea schlotterte jetzt sichtbar am ganzen körper.

*

für einen augenblick hatte sich herr kohlenmacher über den liegenden gebeugt. als er sich wieder erhob, strich er sich mit einer ungeduldigen handbewegung das haar aus der stirn und seine schwarze krawatte ordnend stellte er in die stille hinein fest: «das war ganz klar notwehr.»

plötzlich drängten sich nun von der tür her die gaffer in die küche, umstanden herrn kohlenmacher und den am boden liegenden und aufgeregte stimmen gingen hin und her. ob er wirklich tot sei und ob herr kohlenmacher schuld sei; warum herr kohlenmacher sich ausgerechnet mit einem messer habe verteidigen müssen und was man jetzt machen solle.

«eines ist sicher», stilz war vom abtropfbrett heruntergerutscht und trat, seine pfeife in der hand, zwischen die leute. «eines ist sicher», wiederholte er, laut und bestimmt, sich gehör verschaffend: «die polizei lassen wir hier nicht herein. die stellt uns unser ganzes haus auf den kopf, macht ausweiskontrollen und quetscht jeden von uns über gott und die welt aus.» unter der türe grölte einer unmässig: «keine schmier im haus!» und ein anderer skandierte: «eins, zwei, drei, feuer frei auf polizei.» während man im hintergrund weiter mit den parolen gegen die polizei beschäftigt war, fragte eine frau, die vorne beim küchentisch stand: «aber was machen wir? da ist ein mord passiert!» nach kurzem überlegen sagte stilz: «quatsch, mord. was hier passiert ist, ist ein unfall. man kann nicht behaupten, es sei ein böswilliger vorsatz oder auch nur eine absicht dabeigewesen. der lange ist richtiggehend ins messer gestolpert. abgesehen davon hat jeder das recht, sich zu verteidigen, wenn er angegriffen wird…» von der türe her grölte es zackig: «jawoll, herr instruktionsoffizier!» nachdem das gelächter abgeebbt war, fuhr stilz fort: «das hier ist ein bedauernswertes unglück. der lange war besoffen und aggressiv…» – «wer’s nicht verträgt, soll’s saufen lassen», warf stöff ein, der sich durch die menge der schaulustigen drängte. dann wieder stilz: «überlegt doch mal: wo passieren die meisten unfälle? doch wohl auf der strasse. ein reiner zufall, dass der lange in seinem zustand nicht unter ein auto gelatscht ist. dieser vorfall hier drin ist absolut sinnlos, wenn wir nichts draus machen.» jetzt sagte bruno vom schüttstein her: «das war gar nicht sinnlos. der lange ist auf den» – er zeigte auf herrn kohlenmacher – «losgegangen, weil der gift verkauft, wo die leute dran kaputt gehen.» laut und spitz rief stöff, der sich unterdessen in die vorderste reihe der gaffer vorgearbeitet hatte und fast neben herrn kohlenmacher stand: «hat es hier drin noch andere wixer und spiesser, die gegen das gift meckern? das ist ja wohl die sache von jedem einzelnen, sonst verstehe ich das dauernde gequatsche von autonomie wirklich nicht.» hinten begann wieder einer zu skandieren: «shitjoghurt statt furglerkurt!» und ein anderer fuhr fort: «paffe statt schaffe!» und ein dritter, brüllend: «spritzen statt schwitzen!» – «ich schlage vor», ergriff nun stilz wieder das wort: «ich schlage vor, wir tragen den langen hinaus und legen ihn mitten auf die strasse. dazu veranstalten wir eine kleine äkschen gegen den wahnsinnigen strassenverkehr; dann hat die ganze scheisse hier mindestens einen sinn.» die idee zündete. einer rief: «auf zum letzten gefecht!», vor der tür draussen hörte man eine gruppe ungeduldig «demo, demo, demo!» skandieren und herr kohlenmacher ging mit kaum sichtbarem lächeln zum schüttstein hinüber, um sich die hände zu waschen. bruno, der mit tränen in den augen am schüttstein lehnte, wich erschreckt zurück. mit geschäftigkeit und klamauk begann sich hinter herrn kohlenmacher der demonstrationszug zu bilden.

*

die küche hatte sich fast gelehrt. nur lea, bruno und grete waren zurückgeblieben. lea sass schlotternd am küchentisch, bruno glotzte von der wand her abwesend auf die kleine blutlache am boden, in der ein angebissenes stück brot schwamm. grete schob eben das letzte kuchenblech in den ofen. nun begann sie angeekelt mit einem grossen lappen das blut vom boden aufzuputzen. jemand musste beim wegtragen des langen in die lache getreten sein. eine rote fusspur verliess die küche. grete ging ihr nach und putze tritt für tritt. als grete zurückkam, sass bruno neben lea und streichelte ihr unbeholfen den rücken. ihr schlottern hatte aufgehört. grete wusch den blutigen lappen aus und begann, den küchentisch zu putzen und danach das herumstehende dreckige geschirr abzuwaschen. da kam herr kohlenmacher, der zuerst auch dem demonstrationszug gefolgt war, zurück und während sich bruno hastig vor ihm an die wand zurückzog, kauerte er neben lea nieder und flüsterte: «brauchst du was?»

lea nickte. grete begann, was sonst nicht ihre art war, laut hitparadenmelodien vor sich hinzusingen. herr kohlenmacher flüsterte weiter: «hast du geld?»

lea schüttelte den kopf.

«hast du zumindest zeit?»

lea nickte.

«also komm», sagte herr kohlenmacher und fügte bei: «für mich ist es hier jetzt sowieso zu heiss». er fasste lea, die aufgestanden war, am oberarm und führte sie sanft, aber bestimmt, hinaus. schon unter der tür fragte er sie: «hast du den wahnsinnigen vorhin gekannt?» grete sah, wie lea mit den schultern zuckte, dann waren sie draussen. nach einer weile sagte sie zu bruno: «hilfst du mir?» bruno nahm dann ein küchentuch vom haken und begann schweigend abzutrocknen.

*

dann polterte stilz an der spitze einer gruppe von demonstranten in die küche. sein kopf glühte, er war bei bester laune und erzählte: «eine viertelstunde haben wir den ganzen verkehr blockiert und einen autonomen trauergottesdinst veranstaltet. das war ein würdiger rahmen: strassauf strassab hupende autokolonnen und wir stellen um den langen herum ein halbes dutzend kerzen auf. darauf hat irgend ein säufer eine bierflasche auf der strasse zerschmettert und gebrüllt: ‘er war einer von uns!’ und darauf wir alle: ‘er war einer von uns!’ und…» grete, die sich an den küchentisch gesetzt und zugehört hatte, warf ein: «…und getötet hat ihn auch einer von uns, oder?» ungeduldig winkte stilz ab und sagte: «das ist ja nun wirklich etwas anderes. auf jeden fall sind wir geblieben, bis die ersten schmierlappen aufgetaucht sind. jetzt blockieren die den verkehr, weil sie ein riesiges tamtam machen, statt den langen ins krematorium zu karren.» in die folgende stille hinein sagte bruno von der wand her: «dir sit souhüng.» während einige murrend herumfuhren, rief stilz gutmütig: «was sagst du, bruno?» als nun alle zu bruno hinschauten, sagte er nichts mehr und spähte ängstlich nach der tür. da sagte grete: «der bruno hat gesagt, dass ihr souhüng seid.» – «bruno ist ein arsch und neben den schuhen», sagte ein punker, auf dessen schwarzer lederjacke auf rotem grund ein weisses kreuz mit der aufschrift CHAOS aufgepinselt war. während er linkisch den backofen öffnete, um die apfelkuchen zu begutachten, sagte stilz: «bruno ist schon in ordnung und wir sind auch in ordnung; bloss die welt ist nicht in ordnung, das ist es.» weitere leute strömten in die küche, einer erzählte, wie sie vorhin die frontscheibe eines autos zertrümmert hätten, weil der fahrer den motor nicht abstellen wollte. ins zustimmende gelächter riefen andere, sie hätten hunger, wann endlich der frass auf den tisch komme. die apfelkuchen hatten tatsächlich zu duften begonnen.

plötzlich lärm im gang draussen. wirre rufe: «grenadiere!» stilzt reagiert am schnellsten: «raus!» schreit er. von draussen herein hört man undeutlich eine megafonstimme: «…fordern wir euch auf…» an der küchentür gedränge, rufe, fluchen. in der sich leerenden küche eilt bruno verstört hin und her, bis er beim kühlschrank endlich seinen plastiksack findet. dann rennt auch er hinaus. grete bleibt am küchentisch sitzen. sie hört geklirr, rufe, hastende schritte durchs haus, autohupen, dann wieder die megafonstimme, das fluppende geräusch der tränengasgewehre. einmal ist es ihr, als höre sie stilzens stimme, schreie, getümmel. langsam findet das brennende gas den weg in die küche. grete angelt sich ein handtuch und presst es vors gesicht. eben als sie den backofen ausschaltet, hört sie die tritte der schweren stiefel. gleich darauf stehen mehrere polizeigrenadiere in der küche. sie tragen gasmasken. grete blickt noch einmal in den backofen: in zehn minuten hätte man essen können. dann wird sie gegen die tür gedrängt. im gang sieht sie mit brennenden augen undeutlich weitere grenadiere vorbeieilen. dann wird sie abgeführt. sie hört, wie hinter ihr, offenbart im männerklo, an die tür gepoltert wird. dann ein splitternder knall.

*

so fanden sie bruno: zwischen dem klo und der kabinenwand zusammengekauert, einen unscheinbaren plastiksack mit beiden armen vor die brust geklammert, mit den wahnsinnig aufgerissenen augen eines gestochenen tiers.

Datierung: «bis 24/11/81». 

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Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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