fallrückzieher vor der ehrentribüne

die hochwohllöblichen bestsellerautoren der «Eidgenössischen Kommission für Jugendfragen» von bundesrats gnaden haben nach den «Thesen zu den Jugendunruhen 1980» nun zum zweiten mal zugeschlagen mit den «Stichworte(n) zum Dialog mit der Jugend». sie haben damit ein opus 2 veröffentlicht, das doppelt so dick und zehnmal verwässerter als opus 1 vom zürcher erziehungsdirektor alfred gilgen mit sicherheit nicht angegriffen und vom deutschen bundeskanzler (hoffentlich) nicht zitiert werden wird.

«Setze dich zu mir und sei ein Kind, wie es sich gehört: ein fröhliches Kind, ein nettes Kind, ein positives Kind. Setze dich! Auch dir, mein Kind, bringe ich eine gute Kunde.» (Max Frisch: «Die chinesische Mauer»)

ich stelle mir das so vor: nachdem sich die jugendkommission letzten winter vom ersten chlupf darüber, dass ihnen ab allem juflen einige fortschrittliche, kritische formulierungen über die lippen gerutscht waren, erholt hatte, stellte sich ihr schnell die unendlich bange frage, wie man in der versprochenen folgebroschüre die lauthalsesten unbequemen wahrheiten mit noch halbwegs fladernden fahnen zurücknehmen könnte. in diesem land, in dem die meinungsäusserungsfreiheit nicht nur bei karrierebewussten aufsteigern auf einer rigoros praktizierten selbstzenszur basiert, verbrennt man sich eben doch schnell soweit die finger, dass man lieber kalte füsse bekommt, als das bürgerliche gesicht zu verlieren.

und in der tat, man stelle sich vor, die kommission hatte sich hinreissen lassen zu behaupten: «Die Toleranz ist Schein, der Druck ist echt» (Thesen, s. 15); sie hatte behauptet, jugendliche seien permanent direkter und indirekter gewalt ausgesetzt (s. 17); sie hatte gar das sakrileg begangen, die «Familie» in frage zu stellen, «weil sie zu klein ist» (s. 19) und sich verstiegen in die pyramidal häretische behauptung, entscheidend seien «stabile, vielfältige und emotional warme Beziehungen», und die könne man ja auch in anderen lebensgemeinschaften als in der familie finden. weiter hatte die kommission, und da hört ja dann der spass wirklich auf, den druck der wirtschaft (und somit des privatkapitals) auf die jugend angesprochen («Gleichzeitig erleben viele Jugendliche mehr und mehr die menschlichen, gesellschaftlichen und ökologischen Kosten der Wohlstandsproduktion» (s. 21).

die kommission begab sich nach diesem ungebührlich mutanfall also auf den weg der besserung und traf einige betont unmutige entscheidungen: zuerst wurde festgelegt, dass nicht mehr von der «jugendbewegung» die rede sein solle (in den «Thesen» fanden sich noch sätze wie «Grundsätzlich positiv an der Jugendbewegung ist die Bewegung», s. 33), sondern nur von «jugend».

weiter musste der eindruck, der böse, radikal vermieden werden, zwischen der situation der jugendlichen und der herrschenden gesellschaftspolitischen realität bestehe ein zusammenhang. man legte also als erstes das soziologische und das politische gedankengut auf packeis und ersetzte es durch indivdualpsychologisches und kommunikationswissenschaftliches – und schon war die haarsträubende kurve geschafft: da an den zuständen in diesem land nichts schlechtes mehr gefunden werden durfte, musste das schlechte in den einzelnen hineinprojiziert werden nachdem motto: wer in diesem land unzufrieden ist, der wurde zumindest im zarten alter von drei wochen von einem wüstling vergewaltigt, und überhaupt sind alle unzufriedenen nur deshalb unzufrieden, weil es ihnen krankhafterweise nicht mehr möglich ist, das gespräch mit dem helfenden erwachsenen zu finden. mit einem wort: abrakadabraDIALOGjuhui. aus den gesellschaftspolitischen umwälzungen des jahres ’80 war im sommer ’81 arbeitsbeschaffung für psychiater und sozialarbeiter geworden. die schweiz ist schön und gut, und wer’s nicht einsieht, ist kaputt: hallalihallalipaffpaff: damit war allerdings noch viel mehr als nur ein vogel abgeschossen.

in der tat: die «Stichworte» lesen sich wie eine broschüre für kleinbürgerliche familienplanung; da ist eine seite lang die rede von der «Kunst des Zuhörens» (s. 25) und den schulmeistern wird schlicht und ergreifend geraten: «Zuhören können ist Lernziel Nummer eins, weil ohne dies alle anderen Lernziele nicht oder nur rudimentär erreicht werden können» (s. 54). da gibt es «positive Intentionen» (s. 26) und «positive Impulse» (s. 29) – «sei ein positives Kind» – und jugendliche, die «voll von Fragen, Erlebnissen und Ideen» stecken, «die sich mitteilen wollen», die aber auch «empfänglich sind für Impulse von Seiten der Erwachsenen» (s. 23).  da gibt’s am schluss über dreissig seiten rezeptchen für den rechtsstaat auf allen ebenen, wie man angehende jugendliche schon im säuglingsalter zu frühsenilen realpolitikern dressieren könne, damit das «Vertrauen» entsteht, das via «Dialog» und «sozialem Lernen» zur «Integration» führen soll: muss das reibungslose quadratschädel geben. da wird dann auch vom «Bedürfnis der Erwachsenen» geredet, erfahrungen weiterzugeben, was man nicht «generell als Angriff auf Autonomie werten dürfe» (s. 37) und gleich danach: «In jedem Erwachsenen schlummert der mütterliche oder väterliche Helfer.» ganz abgesehen davon, dass die formulierung «der mütterliche helfer» mehr als ein zufälliger versprecher ist (auch progressiver jargon birgt einige fallen, wenn man nicht gewohnt ist, ihn zu sprechen, aber ihn benützt), abgesehen davon verweigern nicht einmal die radikalsten bewegler den dialog mit leuten aus der älteren generation, solange sie als gleichberechtigte gesprächspartner auftreten. darum geht es gar nicht.

es geht darum: viele «erwachsenen» verkörpern im herrschenden system funktionen und führen aufträge aus, die objektiv allen unseren bedürfnissen diametral zuwiderlaufen; vorab dem bedürfnis, eine faire chance zu erhalten, die nächsten fünfzig jahre in diesem land als menschen überleben zu können. aber dafür den rücken breit zu machen, dass es nicht nur unser recht, sondern unsere pflicht ist, eine zukunft zu fordern, in der wir eine chance haben, das hätte wohl mehr politische courage erfordert, als der «Kommission für Jugendfragen» zu gebote stand: solche «Stichworte» wären manchem «väterlichen Helfer» verdammt schlecht eingefahren.

«Ein Dialog, der allzu rasch auf Konsens und Konkordanz abzielt, verhindert, dass Konflikte wirklich ausgetragen oder verkraftet werden» (s. 26). das gilt auch für den schmapar gescheiten monolog der jugendkommission. «Wenn Jugendliche Gesprächsangebote ablehnen und damit (oder statt dessen) Konflikte provozieren, so tun sie es aus der Erfahrung, dass der Konflikt im Gespräch unterdrückt wurde» (s. 27).

in diesem sinn und mit grüssen an die nach diesem wurf mit sicherheit vor einer grösseren politischen karriere stehenden kommissionsmitglieder sowie an all jene, die als inkarnation des privatkapitals in diesem land seit -zig jahren ihre privilegien mit «seid-doch-auch-ein-wenig-nett-zueinander»-mentalität (oder eben «dialog-mit-der-jugend»-mentalität) verteidigen und mit der inbrünstigen hoffnung, dass ich nicht der einzige sei, der von den STICHWORTEN bitter enttäuscht wurde, verbleibe ich mit besten: «DIALOG? – NEIN DANKE!»

fredi

p.s. mag sein, dass Dich noch interessiert, was das kind in frischs «Chinesischer Mauer» dem papi auf die forderung, ein positives kind zu sein, antwortet: «Du kommst 2000 Jahre zu spät, Papa, die Zukunft hat schon stattgefunden (…) Du kommst nicht mehr in Frage, Papa (…)»

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Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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