AUFGESESSEN

Schon aus Nostalgie habe ich zum Portemonnaie gegriffen, als ich in der Buchhandlung das schmale Bändchen aufliegen sah, das sich als «roman einer bewegung» anpries. Mittlerweilen, da man «bewegung» wieder meist vergeblich in Strassen und Augen sucht, lässt man sich’s einen Zehner kosten, wenn das Echo von Forderung, Aufbruch und Hoffnung sanft als belletristischer Versuch über den Ladentisch klingt. Und wenn’s nur das wäre: sich noch einmal die Fabel vom guten Räuber und vom bösen Gendarm zu Gemüte zu führen. Hatte nicht der Eisberg in uns und über uns einige Tropfen Tauwasser geschwitzt ob dieser Fabel, damals? So setzt man sich hin und liest von gestriger Hoffnung.

Werner, der ‘abverheite’ Pianist, steigt aus. Zusammen mit einem Dienstverweigerer und einem Schwängerer, der im Suff die falsche Frau beschlief, geht er nach Amsterdam. Dort erlebt er eine Geschichte, die den Ereignissen und dem Gedankengut der 80er Bewegung entlang geschrieben ist, bevor er, wehrlos gegen die Mauer in einer Sackgasse gelehnt, vom nervösen Polizeigrenadier Frans Mechelynck über den Haufen geschossen wird. Nein, so frei erfunden sind Handlung, Personen und Zitate nicht, wie mir das der Autor H. P. Gansner am Schluss des Buches weismachen will.

Da weigert sich ein Regierungsrat mit einem «solch amöbenhaften Gebilde», wie es die Autonomen seien, zu verhandeln. Da wird die Geschichte von dem Mädchen erzählt, dem in U-Haft (im Basler Lohnhof) die blutigen Binden von einem sadistischen Beamten ins Gesicht geschlagen werden. Da wird ein fortschrittlicher Journalist von Faschos vor den Augen passiver Polizisten zusammengeschlagen. Da wird der «Verein Dialog» gegründet, der auch «Bürger für die Bewegung» oder ähnlich heissen könnte und der einmal eine Art «Zürcher Tribunal» durchführt (S. 109). Da begeht eine Frau durch Verbrennung Selbstmord und Staak-Schnyder, der Polizeichef, «verstösst gegen das Kollegialitätsprinzip», weil er, ohne den Regierungsrat zu informieren, das AJZ an der Hochstrasse räumen und die Verhafteten ins Schellenmätteli verfrachten und einsperren lässt, wo die Eingesperrten ihre Notdurft in überfüllten Zellen verrichten müssen, wofür sie mit Tränengas besprayt werden (S. 85-90)… Eben: So stark greift Realität in Gansner-Fiktionen ein, dass ich als Leser – obschon eingeschobene Fotos aus Amsterdam (?) Lokalkolorit vermitteln sollen – dauernd zwischen Amsterdam, Berlin, Zürich und Basel hin- und her gerissen werde.

Mag sein: Ich bin ein pingeliger Leser. Aber in mir wird Fiktion zerstört, wenn ein Text in sich nicht stimmt, wenn er ungenau ist oder sich selbst widerspricht:

• Da begleitet ein Arzt Werner ins Spitalzimmer, in dem Ineke, seine Freundin, liegt. «sobald er [der Arzt] das zimmer verlassen hatte» (S. 78), beginnt ein längeres Gespräch. Zwei Seiten später haben sich die beiden im Gespräch so ereifert, «dass der arzt sich gezwungen sah, die besuchszeit für abgelaufen zu erklären.» Bloss: Er ist ja gar nicht im Zimmer.

• Auf S. 82 tritt zum ersten Mal die Punkerin Margriet auf, die in Werners Leben ab hier eine wichtige Rolle spielt. Auf den nächsten Seiten wird Margriet mehrmals erwähnt. Auf S. 88 stösst Werner auf dem Polizeiposten Maggy an, um ihr etwas mitzuteilen. Ab sofort ist aus Margriet Maggy geworden. Offenbar wird der Autor mit seiner Erfindung des «schönsten punky der stadt» unversehens vertrauter. Da aber in der Anlage der Erzählposition der Autor mit seinen Überlegungen zum Text nicht vorgesehen ist, wirkt dieses Detail missverständlich – und hilflos.

• Der Hauptteil der Handlung spielt, so wie ich das verstehe, im Spätherbst. Trotzdem schlägt Werner eine Einladung, mit ans Meer zu fahren, mit dem Argument aus, er könne jetzt «keine weidenden kühe, keine wogenden kornfelder» sehen (S. 137). Tags darauf (S. 143) liegt ein «schweres gewitter» über der Stadt. Am nächsten Morgen ist dann doch wieder Spätherbst: «bis zum morgen, der in dieser jahreszeit am frühen Vormittag anbricht» usw. (S. 145).

• Die Schilderung der Selbstverbrennung (S. 163) wirkt dann auf makabre Art nur noch unfreiwillig komisch. Die Frau, als «menschliche fackel» bezeichnet, also offenbar lichterloh brennend, giesst «mit letzter kraft ein zweites mal benzin über sich» (wie reagiert wohl ein geöffneter Benzinkanister neben einer «menschlichen fackel»?), bevor «ein schwarzes etwas (…) auf dem trottoir ein kleines häufchen asche bildet».

Zugegeben: Diese Beispiele betreffen Kleinigkeiten. Aber in dem Ton, in dem mir Gansner seine Geschichte erzählt, kommt es (vielleicht vor allem) auf diese Kleinigkeiten an.

Seit dem vorletzten Sommer haben viele Journalisten und Literaten die Erfahrung gemacht, dass – wenn die Distanz zu gross ist, um in der Bewegung zu schreiben – über die Bewegung zu schreiben fast unmöglich ist, weil eben die Gedankenwelt der 80er-Bewegung sowohl inhaltlich wie formal neu ist. Es gelingt ebenso wenig, Bewegungsgedanken in bürgerlichem Bildungsdeutsch auszurücken, wie es möglich ist, den «Bewegungsjargon» glaubwürdig zu sprechen, solange man in bürgerlichen Bildungskategorien denkt.

Es genügt noch nicht, dass einer «abfährt», weil’s «einfährt», dass einer «hereingenommen» wird, weil er nicht «leine zieht» oder dass einer «auf oder abgestellt» ist, weil er «schmier» in «reizwäsche» sichtet: Erst hinter diesem Jargon liegt die Gedankenwelt, die es auszudrücken gilt. Dass sich Gansner hier schwer tut, soll nur an einem – allerdings eklatanten – Beispiel gezeigt werden:

Vorauszuschicken ist, dass der brasilianische Pädagoge Paulo Freire eine Pädagogik zur Alphabetisierung und Schulung der Unterdrückten entwickelt hat, die extrem von den Bedürfnissen des (erwachsenen) Schülers ausgeht. Freire geht davon aus, dass mit der Alphabetisierung gleichzeitig ein Bewusstseins- und daraus ein Politisierungsprozess anläuft. Gansner hat nun den Einfall, dass Maggy zur Verantwortlichen einer Kulturgruppe gewählt wird und für die Desperados als erstes eine Alphabetisierungskampagne startet, weil sie sich daran stört, dass die Sprayereien in der Stadt orthographische Fehler aufweisen. Nach dem Willen des Gymnasiallehrers Gansner wird die Punkerin Maggy also in Freires Sinn pädagogisch tätig.

Diese Idee ist in mindestens zweierlei Hinsicht ein psychologischer Lapsus: Erstens kann ich mir die Punkerin beim besten Willen nicht vorstellen, die sich an Rechtschreibefehlern derart stösst, dass sie gleich Duden-Orthographie zu dozieren wünscht. Zweitens aber wäre eine Punkerin mit ihrer Vorliebe für paradoxe und demnach weitgehend antipädagogische Kommunikationsformen auch gar nicht in der Lage, mit einem Haufen von Desperados «im chor das alphabet auf[zu]sagen» (S. 107). Nachdem Gansner seine Protagonist/inn/en bereits «progressive» Diskussionen über die Frauenfrage, die Sexualität und mehrmals über politische Fragen führen lässt, verewigt er hier auch noch progressive Pädagogik.

Im Widerspruch zu dieser Aneinanderreihung von «fortschrittlichem» Gedankengut stehen für mich alles in allem Form und Sprachgebrauch des Romans: Die Progressivität des Künstlers Gansner bleibt auf der kognitiven Ebene stehen. Was er sagt, ist höchstwahrscheinlich schon fortschrittlich, aber wie er’s sagt, beweist, dass auch er der Bewegung in erster Linie zum Zwecke der Kunstproduktion aufgesessen ist. Dass sich die Bewegung bewegt (hat), dafür haben andere gesorgt.

Doch: Ich finde schon, man sollte «DESPERADOS» einmal lesen: Als erste grobe Annäherung an die 80er Bewegung. Mein Problem ist vielleicht: Ich habe Gansners Büchlein zweimal gelesen.

f.l.

Hans Peter Gansner: Desperado. Roman einer Bewegung, Zürich (Rotpunktverlag) 1981.

In der WoZ Nr. 1/1982 repliziert Hans Peter Gansner auf diese Rezension unter dem Titel «Desperate Rezension» wie folgt:

«entschuldigt, leute, meine pingeligkeit, aber daran ist die pingelige rezension meines romans DESPERADO schuld. zuerst zu den details, auf die es mir auch ankommt: dass ich nicht geschrieben habe: «der arzt, der sich in hörweite aufhielt, wurde durch die lauter werdenden stimmen der drei herbeigerufen, öffnete die türe des krankenzimmers und erklärte die besuchszeit für abgelaufen» hängt mit der umständlichkeit solcher erläuterungen zusammen; ebenso könnte man den satz: «er zündete sich eine zigarette an» mit den worten kritisieren: er hat sie doch gar noch nicht aus dem päcklein genommen! weiter: «margriet» wird zu «maggy», weil sie werner (der übrigens von den kraakern auch paco genannt wird) zunehmend vertrauter wird; dieser vorgang in der namensgebung ist nicht nur möglich, sondern bei der personalen erzählfunktion dieser passage sogar nötig. die «weidenden kühe und wogenden kornfelder» dann sind bilder der erinnerung an eine glückhaft erlebte natur, die für werner endgültig «gestorben» ist: es ist also nicht sinnvoll, diese vorstellungen auf die jahreszeit zu beziehen. schliesslich: ein (zum glück missglückter) selbstverbrennungsversuch hat sich tatsächlich so abgespielt, wie ich ihn beschreibe.

nun zum grundsätzlichen: der vorwurf, dass jemand, der nicht selber aktiv in der bewegung ist, auch nicht das recht habe, über die bewegung zu schreiben, musste ja kommen – auch züfle und hänni mussten ihn sich gefallen lassen. zugrunde liegt die annahme, nur erlebnisliteratur habe eine existenzberechtigung, fiktion sei unseriös. auch ich halte erlebnisliteratur für wichtig: «die «literatur der arbeitswelt» (zopfi, karpf) und die literarisch gestalteten zeugnisse hautnahe erlebter sozialer realitäten (dora koster, heidi rollmann u.v.a.) sind unüberhörbare botschaften. ich möchte jedoch für die autoren das recht auf fiktion beanspruchen, ohne dass es sofort heisst, sie sässen einem aktuellen thema oder einer «bewegung nur zum zwecke der kunstproduktion auf» (f.l. in der WoZ). die «kunstproduktion» nämlich geschieht – in meinem fall zumindest – zum zwecke sozialer veränderung, und nicht als schöngeistiger selbstzweck. darin – und nicht, wie der rezensent glaubt, in der ironischen szene der alphabetisierungskampagne – liegt (wenn schon) die «pädagogische» absicht des romans.

zum schluss: dass der DESPERADO ein «schmales bändchen» oder gar «büchlein» geworden ist, hängt mit der preiskalkulation zusammen: in dieser form können alternative bücher überhaupt noch herauskommen. ein flüchtiger vergleich mit anderen publikationen zeigt, wie bücher von kleinerem umfang ohne weiteres durch satzspiegel, druckgrösse und papiersorte zu einem handfesten halben kilo roman aufgeblasen werden können. ich denke aber, wir können es uns leisten, auf derartigen bluff zu verzichten.

hans peter gansner»

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