Antrittsbesuch der Polizei

Zu den liebgewordenen Sitten und Gebräuchen der Berner Stadtpolizei gehörte es schon zur Zeit des Provisorischen AJZ (PAJZ) an der Taubenstrasse, in schöner Regelmässigkeit vorbeizuschauen, Ausweise zu kontrollieren und immer wieder auch Leute mitzunehmen. Dass sie daran festzuhalten gedenkt, bewies sie, als sie letzten Donnerstag dem AJZ Reithalle, das seinen Betrieb erst teilweise aufgenommen hat, ihren ersten Besuch abstattete.

Wenn Fahnder Huber, in diesem Fall mit vier Kollegen, in der Reithalle einmarschiert, sich hier und dort einen Ausweis zeigen lässt und sich umschaut, ob nicht jemand mitzunehmen wäre, ist es nachträglich gar nicht so einfach, herauszufinden, was vorgefallen ist. Auf den Polizeibesuch reagierte als erste die Pressegruppe der Berner Jugendbewegung: Sie verfasste noch am Donnerstagabend (12.11.) ein Communiqué, worin sie gegen die Polizeiaktion und die Festnahme zweier Jugendlicher protestierte und schloss: «Wir betrachten diese Polizeiaktion als reine Machtdemonstration des Gemeinderates und sind enttäuscht darüber, dass er unserer Autonomie keine Chance geben will.»

Die Samstags-«Berner Zeitung» (BZ) veröffentlichte das Communiqué mit einer Stellungnahme des Berner Polizeikommandanten Otto W. Christen, der bestritt, dass im AJZ Verhaftungen vorgenommen worden seien: Vielmehr habe man zwei Männer in der Stadt aufgegriffen und danach die Effekten des einen im AJZ abgeholt. Am Samstag verfasste die Pressegruppe ein zweites Communiqué, in dem sie darauf beharrte, das zwei Personen im AJZ verhaftet worden seien. Dem Polizeikommandanten wurde vorgeworfen, er widerlege das erste Communiqué, indem er offensichtlich einen ganz anderen Fall auftische.

An der Bewegungs-VV am Montagabend besprachen gegen hundert Leute die Polizeiaktion. Man war sich schnell einig, dass der Vorfall einen Präzedenzfall darstelle. Reagiere die Bewegung jetzt nicht, dann würden regelmässige Razzien die unvermeidliche Folge sein. Man reagierte also und entschloss sich zu einem Spaziergang durch die Stadt. Kurz nach zehn Uhr zerbarsten die ersten Kehrichtsäcke auf den Strassen, klirrten Scheiben, wurden mit Bauabschrankungen und Abfallsäcken Barrikaden angedeutet. Im Verlauf und nach dieser Antwort auf den «Frisch-fröhlich-Razzia-Kurs» («Tagwacht») der Polizei wurden mehrere, aber mindestens drei Leute zur Personenkontrolle abgeschleppt. Sie seien am Dienstag wieder auf freiem Fuss gewesen.

Auch auf der «BZ»-Redaktion war man nicht untätig geblieben. das zweite Communiqué der Pressegruppe hatte zur Folge, dass Polizeikommandant Christen noch einmal telefonisch bemüht wurde. Und siehe da: Stolz konnte die Dienstags-«BZ» titeln: «Streitfrage geklärt – nur ein Mann im AJZ verhaftet». Zu lesen war jetzt, dass Otto W. Christen seine erste Meldung mit den Angaben «vervollständigt» habe, dass im AJZ einzig ein deutscher Staatsbürger festgenommen worden sei.

Auf meine telefonische Anfrage, was nun alles in allem stimme, schilderte Marco Albisetti, Gemeinderat und oberster Polizeichef, den Vorfall vom letzten Donnerstag so: Beim Stein (einem Treffpunkt im Berner Bahnhof) seien nacheinander zwei ausgeschriebene Personen verhaftet worden. Danach hätten Polizisten mit dem einen dessen Effekten im AJZ abgeholt. Dabei habe man im AJZ mehr zufälligerweise einen jungen Mann verhaftet, der eine fünfjährige Einreisesperre habe. Abschliessend meinte er wörtlich: «Sie sollen jetzt nur anfangen in der Reitschule. Wir wollen den Betrieb nicht stören. Aber wir haben unseren klaren gesetzlichen Auftrag.»

Aber: Warum hat Christen die Verhaftung zuerst dementiert? War Fahnder Huber übereifrig? Weshalb braucht es fünf zivile Polizisten, um Effekten einer Person abzuholen? Eines ist sicher: Über die offensichtliche Meinung der Stadtpolizei, Autonomie von Fall zu Fall in Autononie umwandeln zu können, wird dieser Vorfall nicht die letzte Auseinandersetzung gewesen sein.

Diesen WoZ-Beitrag habe ich mit meinem damaligen Pseudonym Anatol Jeremia Zangger gezeichnet. Und heute, dreiunddreissig Jahre später, muss der Redaktor an dieser Stelle zugeben: Wo Zangger recht hatte, hatte er recht. (24.7.2019)

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