alpsegen an die versammelte väterschaft

I

untertänige, unvollständige, aber ausgewogene anrede und begrüssung der hochwohlgeborenen und wohlnochhöherhinauswollenden zuhörerschaft.

juppeidi & juppeida, gozzeidank, da seid ihr ja! allezusammen: mitleidgenossen, grossvaterländische wetterwendische: seid gegrüsst ihr krücken der gesellschaft, streben, streber, pfeiler des aufgeblähten wahnsinns, ihr butterbrotkauenden massenmörder, legale chaoten, nützliche idioten, banale bürokraten, devote beamte, stummdreiste räte, aufziehbare reformer, und ihr: bruttosoziale produckmäuser, freischaffende marktwirte, multinationale vandalen; und ihr: quadraturen des schädels, zeugen mammons, glotzgläubige schinder, chlotzräudige betonanbeter, divisofährliche patridioten und ihr, zurechtgebogene, zuleichtgewogene, selbstbetrogene, staatsverlogene, drahtgezogene, moskaugesteuerte, cia-angeheuerte; wichser am dritten und vierten glied, seid willkommen, ihr vor allen dingen, die ihr von einem holocaust zum nächsten stets beteuert, ihr hättet von nichts gewusst, ihr braven, naiven, rechtgläubigen, rechtsgläubigen, biertrinker, paolaverehrer, blickleser, kirchengänger, fussballfans: selig sind, die reinen herzens sind, denn sie werden… gozzeidank, dass auch ihr nicht fehlt, ihr versandeten, die ihr nicht sand seid im getriebe der welt, ihr verhärteten, versteinerten, ihr eingeschneiten, verpackten, vereisten, vergreisten, verpackeisten, ihr verfirnten und vergletscherten, ihr vor allem, die ihr wachst und wachst: am tage der kalten höhenfeuer begrüsse ich euch alle mit frostklirrendem heil, ihr eiszeitlichen. punkt.

II

gesprochen wird über die behinderung der gewohnheitsbehinderer aus anlass des jahrs der behinderten.

anwesende mitlauscher!

dieses jahr, das 690ste der konspirativen sitzung der rüttlichaoten, das 690ste seit dem kernobstschändenden armbrustterroristen, dieses jahr, in dem die ersten bürgerlichen historiker bereits zur bremsspurenanalyse der bewegung übergegangen sind, dieses jahr ist auch das jahr der behinderten. steinzeitliche, ich danke für euren frenetischen applaus, aber lasst mich weiterreden. wir leben im jahr der behinderten, sage ich, das euch, anwesende, stummgemachte, lahmgeschlagene, taubgebrüllte, blindgeführte vergessen hat. ihr seid nicht zur kenntnis genommen worden! Ihr werdet der einfachheit halber übergangen! ihr seid für normal erklärt, weil ihr zu viele seid! gesundgeschrieben für den dienst an der wuchernden polizeimat! inwendige krüppel! man ignoriert euch in diesem land, mitten im hort der humanität, in der sommerlichen residenz des lieben goz, im land von pestalozzi, von dunant und dufour und furgler und bührle und äääh; es ist ein skandal! einfamilienhausbesitzer! vivophoben! freisinnige! instruktionsoffiziere! väter! eure behinderung wird ignoriert, eure metastasenbehangenen seelen werden übersehen! die folge ist – ja, puht, pfeift und schreit euch aus, skandal bleibt skandal – die folge, o versammelte väterschaft, ist unübersehbar, denn die folge ist, kurz gesagt, o marlbororauchende nekromanen und gletscherpiloten, dass normal wird, was nicht normal sein darf. die folge ist, dass allzuviele eurer kinder euren zustand als normal missverstehen und so werden wollen wie ihr. die folge ist, dass taubgebrüllte taub brüllen, dass lahmgeschlagene lahm schlagen, dass blindgeführte blenden und verführen, dass stummgemachte stumm machen. die folge ich, dass ihr, andächtige eiszapfenlutscher, statt zu eurer behinderung stehen zu dürfen, zu graumelierten sadisten werden müsst, die mit knirschen kiefern die welt nach ihrem bilde formen, pausenlos, tag für tag, ohne ende, die folge ist, dass schon jetzt in unseren jahrgängen vereisende embryoten, vergreisende pubertätler einzug halten, die die metastasen eures schleichenden leidens altklug als säuische perlen an ihren hut stecken und dass die ersten blindgeführten sich freiwillig der nekrophilie verschreiben, geködert mit einer unteren kaderposition.

III

dargestellt wird ein aufgebrochener interessenkonflikt, der daraus erwächst, dass die ersten kinder der hier versammelten väterschaft einen schritt vor dem abgrund die gefolgschaft zu verweigern beginnen.

chronische nordpolfahrer, passionierte himalayabegeher, gletscherspaltenfreaks, staublawinenanbeter und schneebrettschwarzfahrer: es ist an der zeit, dass ihr durch die öffentliche anerkennung eurer behinderung von eurem enormen leistungsdruck befreit werdet, unsere, gozzeis geklagt, gemeinsame heimat endgültig zerstören zu müssen, ihr sachzwang-fetischisten, wandelnde enzyklopädische sammelsurien von stresssymptomen, bleibt sitzen, entspannt euch, atmet tief durch, denn die rede ist nun von einem interessenkonflikt, den ich mir erlaubt habe, in aller kürze zweizeilig zu bedichten:

wir sind jung , die welt steht vermauert
der papa zuckt achseln, die mama bedauert.

euer liederkranz, unentwegte, unbewegte konsum-enten, ist ein galgen, an dem ihr uns von jung an aufhängt, ersticken und austrocknen lasst. wir sind aber nicht das trockeneis, das ihr an eurem lebensabend als kälteflasche zu euren füssen häufen könnt.

schaltet nun eure herzschrittmacher ein und nehmt die angstpropfen aus euren ohren; interessenkonflikt heisst: eure interessen sind nicht unsere interessen. was ihr wollt, wollen wir noch lange nicht. aber erschreckt nicht, wir wollen viel weniger, als ihr befürchtet. denn das meiste, was ihr wollt, wohlstandsbarrikadenbauer gegen den schwappenden unrat, gegen das überfliessende elend, gegen das schreiende unrecht, entspringt ja euren aufgeblähten metastasenseelen:

1. ihr wollt die endgültige verbetonierung unseres mutterlandes; ihr wollt sechsspurige autobahnen von schönbühl bis auf die kleine scheidegg und rund ums matterhorn. das wollen wir nicht, denn wer nirgends hingehört, kommt auch zu fuss noch früh genug.

2. ihr wollt wohnghettos, kaninchenställe für zweibeiner, mehrfamiliensilos, onanierschubladen, selbstmordabsteigen, ihr wollt geruchlosen, keimfreien, luftleeren, geräuschfreien, leblosen wohnraum. das wollen wir nicht, denn wer nicht zusammen isst, trinkt, arbeitet, streitet und liebt, der erfriert, eiszeitliche.

3. ihr wollt, da eure wärme vor urzeiten abgestorben ist, künstliche wärme als ersatz, künstliche energie als trostlosen trost, ihr wollt einen christus aus erdöl und atomstrom, ihr vergötzt die arschkalten nihilisten des profits (wer akw sagt, muss auch bkw sagen), ihr betet um euren löffel plutonium für den schnellen abgang. das wollen wir nicht, denn das einzig denkbare humane werk ist das AJZ, und an der reithalle arbeiten wir bereits.

4. ihr wollt intimbesprayte langhaarmösen auf silbertabletts durch die stadt tragen, ihr wollt euch verchromte luxusschwänze mit seriefeuersperren um den hals hängen, ihr wollt büchner und beethoven als besitz und sie am vergoldeten gängelband eurer sprachlosigkeit auf den brettern, die eure welt bedeuten, aufgeführt sehen. das wollen wir nicht, denn es ist nicht unser problem, kulturlosigkeit mit jährlichen millionenkrediten kaschieren zu müssen.

5. ihr wollt supersichere gefängnisse, immer mörderische amtshäuser, die eiszeitlichsten unter euch planen gar arbeitslager im engadin, ihr wollt die absolute datenüberwachung, die schnüffelei jeder gegen jeden, die aufrüstung der polizei zum staat im staat. das wollen wir nicht, denn: wozu auch?

6. ihr wollt, besitzer, raffer, diplomierte privateigentümer, rückfällige bankkonteneröffner, zur verteidigung eurer pathologischen konstitution, panzer und panzerabwehrwaffen, gewehre und soldaten und projektierte soldatenfriedhöfe. das wollen wir nicht, denn zärtliche hände und blicke und krebsfreie seelen lassen sich nicht verteidigen mit rüstungsmilliarden.

7. ihr wollt als oberste lebensmaxime arbeit, arbeit bis zum overkill, sinnentleerte, wahnsinnige, quälende, mörderische, tötende arbeit. das wollen wir nicht, denn wie sagte doch einmal der seelenmetastasenbekämpfende nydeggpfarrer: «Immer mehr Arbeit entpuppt sich als Mittäterschaft an einem gigantischen Zerstörungswerk. Man wird bald froh sein müssen um jeden, der nicht mehr arbeiten will und ihn auf Kosten der blindlings Tätigen dafür entlöhnen.»

krawattierte hetzer, verbitterte geiferer, geschniegelte giftspritzen, aktenbekofferte totschläger, väter: warum strengt ihr euch dermassen an? seht, das alles wollen wir ja gar nicht!

IV

der ausgewogenheit halber wird der interessenkonflikt nun gegendargestellt: es wird ersichtlich, dass die lust, der hier versammelten väterschaft folgend in den abgrund zu stürzen, nur eine mässige ist.

anwesende be- und verhinderte menschen, erstaugustredner, rekatenabfeuerer, fahnenschwinger, höhenfeuerentfacher: jetzt nur kein selbstmitleid. Um dem «DRAHTZIEHER» papiernastücher beizulegen, reicht unser geld nicht. es folgt nun des interessenkonflikts zweiter teil. es folgt nun das, was wir wollen, das, was kinder von ihren vätern in diesem land legitimerweise fordern dürfen.

1. wir brauchen wohnliche strassen, auf denen wir leben, springen, spielen und tanzen können.

2. wir brauchen ein AJZ, in dem wir unsere ideen mit aufgestellten mitbewegten durchdiskutieren können, in dem wir neue lebensformen autonom ausprobieren können. wir brauchen grosse, geräumige wohnungen zu vernünftigen mieten mit isolierten türen und fenstern und einem dichten dach möglichst ohne elektrischen haushaltschischi, dafür brauchen wir saubere flüsse und seen, beton, teer-, künstdünger- und abfallfreie wälder und felder.

3. wir brauchen holz, kohle, gas, sonne und wind und mehr glaube an unsere körperkraft. für unsere wärme und energie brauchen wir keinen technologischen ersatz. für den strom, den wir wirklich brauchen (z.b. für licht) reichen die wasserkraftwerke. wer uns plutoniumproduzierende ungeheuer aufschwatzen will, lügt und betrügt uns.

4. unser leben ist unser kunstwerk: die frau ist keine huremadonna und der mann ist kein fixender superman; wir wollen versuchen, einander als menschen zu sehen und miteinander umzugehen wie mit menschen; wir wollen zusammen versuchen, unsere musik, unsere bilder und unsere sprache zu finden.

5. wir brauchen keine gefängnisse: niemand hat das recht, strafen auszusprechen, der nicht vorher mit allen mitteln versucht hat, zu helfen. wir brauchen keine ghettos; keine altersiedlungen, keine psychiatrischen kliniken, keine erziehungsanstalten, keine kasernen. wir wollen versuchen, wieder zusammen zu leben und nicht mehr nur einander zu sortieren, zu schubladisieren und zu disqualifizieren, wer das tut, teilt, um zu herrschen. keine macht für niemand!

6. unsere feinde sitzen ja nicht jenseits irgendwelcher landesgrenzen, die feinde schmarotzen mit fetten ärschen gleichmässig verteilt in allen ländern: waffenproduzenten und ihre zubringer, waffenschieber, waffenkäufer und -verkäufer, aktionäre, verwaltungsräte, potentielle kriegsgewinnler und profiteure: jene hassen wir, fürchten wir wie die pest. wir wollen lernen, sie anders zu bekämpfen als dort, wo sie unschlagbar sind: beim bewaffneten konflikt. nur so werden wir zum frieden kommen. nicht nur in diesem land.

7. natürlich wollen wir arbeiten. aber wir wollen lernen, jene arbeit zu verweigern, die uns zu mittätern macht am gigantischen zerstörungswerk an unsere (um)welt. wir tun jene arbeit, die unseren freunden nützt, die mithilft, menschenwürdig zusammen zu leben, die packeis schmilzt, die euch, anwesende eiszeitliche, endlich endlich auftaut, die dazu taugt, unseren kindern eine faire chance zu geben.

V

hier wir der segen gesprochen für all jene, die sich bei der alternative perfekt inszenierter weltuntergang / laienhaft inszeniertes chaos mit überlebenschancen für das letztere entschieden haben; den anderen ist nicht mehr zu helfen.

blinde glotzer, kopflose kopfschüttler, schüttelbefrostete frostige, herzlose herzinfarktler, konsternierte konstrukteure dieser welt: zwischen dem, was ihr macht und dem, was ihr euch selber und uns – euren kindern – gegenüber verantworten könntet, wenn ihr nur endlich einmal nach eurem gewissen suchtet, dazwischen liegen eure süchte, eure geschwüre, eure ängste vor einem freieren leben, euer existentieller horror, nicht mehr zu rentieren, nutzlos zu werden (euch selber nur noch als ware betrachten zu können, das ist eure hölle).

natürlich, auch ihr seid autonom, ihr dürft nach eurer façon kaputt gehen, da haben wir nicht mitzureden. nur: bitte geht, ohne uns, die nachfolgende generation, auch gleich kaputt zu machen. ihr wollt arbeiten, ausbeuten und ausgebeutet werden, jenseits jedes menschenwürdigen sinns, bitte sehr: tut, was ihr nicht lassen könnt. wir aber, die wir uns bewegen: wir spüren jetzt, dass wir leben. ja, eiszeitliche, das ist es: wir wollen leben wie menschen, auch noch nach euch. versucht nicht, das zu verhindern: wir könnten die stärkeren sein, auf die dauer.

anatol jeremia zangger

Die Zeitung erschien Anfang August 1981, beim Text handelt es sich demnach um eine alternative 1. Augustrede zum Nationalfeiertag der Schweiz. Das – damals noch manuelle – DRAHTZIEHER-Layout des Textes hat Fräne Mühlethaler gemacht. Er hat im Titel das «s» von «versammelte» mit einem ausgeschnittenen «g» überklebt und so einen trefflichen Doppelsinn produziert. – Der Text war meine allererste Veröffentlichung. Man merkt’s.

Aktuell

Zum Projekt

 

Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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