a. j. zangger ist tot

I

als der polizeigefreite aemisegger gegen vier uhr, kurz bevor der morgen zu grauen begann, auf seinem routinemässigen rundgang, schlendernd, die linke hand vor dem frischen wind schaudernd in den geräumigen hosensack seiner kampfmontur gesteckt, die rechte über das mit breiten lederriemen umgehängte tränengasgewehr gelegt und die finger spielerisch in die abzugsvorrichtung verhängt, mit vor müdigkeit und langeweile tränenden augen, langsam die eine seite des gebäudekomplexes abgeschritten hatte und oben in der ecke zum bierhübeli mit einem schlenkernden, weit ausholenden schritt des äusseren beins in die leere, dunklere, sich in die scharfe rechtskurve senkende schützenmattstrasse einschwenkte, mit dem blick für einen moment an einem frühen auto hängenbleibend, das mit fehlendem linken schlusslicht über die kreuzung in die tiefenaustrasse einbog und mit rasch verhallendem getucker stadtauswärts davonfuhr, zuckte er, noch ehe er den kopf ganz in die gangrichtung zurückgedreht hatte, instinktiv zusammen, riss die waffe, sie entsichernd, empor, stiess «ke bewegig!» hervor und verharrte dann, plötzlich hellwach, in angespannter stellung vor dem schwarzen schatten, der einige meter vor ihm, zwischen zwei fahlschwarzen bäumen, deren breite sommerbelaubte kronen sich über den dachrand hinauf in das zögernde, schmutzige frühlicht reckten, hinter den hier zweistöckig gespannten stacheldrahtrollen, einen meter über dem boden zu schweben schien, reglos und leblos, auch als er, in gebückter haltung und in äusserster anspannung, sich dem schatten langsam nähernd, mit einem schnellen griff der linken hand eine taschenlampe aus der oberschenkeltasche seines overalls hervorzog und sie, während die rechte die waffe auf den schatten gerichtet hielt, mit dem linken daumen anknipste, sodass der blendend-helle, präzise lichtstrahl nach einigen hin- und herschwenkenden suchbewegungen seiner hand auf die hangende gestalt mit schräg nach vorn geknicktem kopf fiel, vor der auf dem boden eine drahtschere reflektierte, mit der, wie aemisegger sich zusammenzureimen begann, die gestalt offenbar ein stück stacheldraht aus der abschrankung geschnitten, um einen in der langsam zerfallenden holzfassade hervorspringenden balken geschlungen und zusammengeknüpft hatte, um sich dann, wohl an der fassade hochkletternd oder sich hochziehend in die notdürftige schlinge fallen zu lassen, die den so erhängten, obschon die stacheln in den von einem vollbart halb verdeckten hals tiefe wunden gerissen haben mussten und das verkrustete blut auf das hellkarierte hemd bis auf den gürtel zungige flächen gemalt hatte, nach dem blauverzerrten gesicht und der schrecklich heraushängenden zunge zu schliessen, erst langsam, durch ersticken, sterben liess, was natürlich, das war aemisegger klar, während er nun direkt am tatort auch eine zerschlagene brille und ein schwarzes kunstledermäppchen entdeckte, alles nur vermutung war und von seinen kollegen erst noch genau untersucht und abgeklärt werden musste – und während die rechte hand nun den verkrampfen griff um das gewehr langsam lockerte, knipste die linke die taschenlampe aus, steckte sie zurück in die oberschenkeltasche und griff nach dem funkgerät, das als kleiner, schwarzer schatten um seinen hals baumelte.

II

sauermann fuhr stadteinwärts, gähnend, übermüdet. er hatte kaum geschlafen: ein erstochenes kind in einem aarerechen in seeland drüben, man vermutete ein sexualverbrechen. um halb fünf wollte er auf der redaktion sein. über der stadt graute der morgen. er schaltete den polizeifunk ein und überholte in weitem bogen einen stumm vor sich hinstrampelnden velofahrer, am nachmittag wollte er ins schwimmbad. er gähnte wieder.

es war sauermann in letzter zeit zu einer gewohnheit geworden, auch im auto polizeifunk mitzuhören. er war bereits einige male vor der sanität und der polizei am ort des ereignisses eingetroffen: seine bilder hatten die realität ungeschminkt gezeigt. zwar hatte es wegen seines vorgehens in letzter zeit mit zurbuchen, seinem obersten chef, einige diskussionen gegeben. «sauermann», hatte er eben letzthin bei einem kaffee kollegial festgehalten, «was wir brauchen ist ein mutiger und sachlich kompetenter journalismus. viel eigenleistung, gut recherchiert und so weiter. aber keinen boulevard-journalismus. sauermann, boulevardisierung schadet unserem image, ööm, im vertrauen, zumindest ein seriöseres image als der ‘blick’ brauchen wir, sie verstehen: wir wollen unsere zeitung ja verkaufen.» sauermann schreckte am steuer auf, versuchte sich, erneut gähnend, auf die strasse zu konzentrieren und hörte aus dem funk gleich darauf aemiseggers meldung mit, unten bei der reithalle hänge einer im stacheldraht, voraussichtlich ein selbstmörder, mausetot, sauermann gab gas.

mit quietschenden reifen kurvte er ein paar minuten später über den schützenmattparkplatz. als der wagen mit einem ruck zum stehen kam, flog schon die türe auf, sauermann sprang heraus, schlüpfte in seine schwarze lederjacke, angelte sich auf dem rücksitz die fotoausrüstung, knallte die tür zu und begann, den drahtverhauen und gittern der reithalle entlang die schützenmattstrasse hinauf zu laufen.

er kam zu spät. beamte der sanitätspolizei, die ihren kastenwagen auf dem trottoir der andern strassenseite parkiert hatten, trugen den mit einem weissen leintuch zugedeckten selbstmörder auf einer bahre eben über die strasse. spurensicherer in zivil, die mit groben lederhandschuhen den stacheldraht soweit weggeschoben hatten, dass sie arbeiten konnten, sammelten die drahtschere, die zerbrochene brille, das schwarze kunstledermäppchen und das zu einer schlinge zusammengedrehte stück stacheldraht ein, fotografierten und massen und schätzen und wechselten ab und zu einige unverständliche worte.

in der nähe eines polizeigrenadiers, der aus einigem abstand mit vorgehängtem tränengasgewehr scheinbar unbeteiligt die szene beobachtete, blieb sauermann stehen und machte sich einige notizen. zu fotografieren gab es nichts, das diffuse licht des werdenden tags war miserabel und zu sehen war ja eigentlich auch nichts mehr. ob der selbstmörder, sprach er den grenadier an, bereits identifiziert worden sei. er selber habe ihn nicht gekannt, meinte der grenadier zögernd, aber als sie ihn abgehängt hätten, vorher, da habe plötzlich einer gesagt, das sei ja der zangger, nur er kenne keinen zangger, er sei einfach wahnsinnig erschrocken, als er vorhin den aufgehängten gefunden habe. sauermann entgegnete, dass der zangger, wenn er der sei, den er meine, zur sogenannten «jugendbewegung» gehöre und dass es demnach kein zufall sei, wenn der sich hier aufgehängt habe. als der grenadier schweigend an ihm vorbeischaute, fuhr er betont jovial fort, wenn sich die leute der sogenannten «bewegung» selber kaputt zu machen beginnen würden, dann brauche er die reithalle nicht mehr lange zu bewachen. kühl erwiderte der polizist darauf, indem er wie gedankenabwesend das rauschende funkgerät abschaltete, seinethalben brauche sich niemand umzubringen, auch nicht ein AJZ-ler. er tue hier seine arbeit und etwa nicht immer nur gern. dann beobachteten die beiden schweigend, wie das auto der sanitätspolizei langsam davonfuhr. über das dach der städtischen reitschule blitzten die ersten sonnenstrahlen.

zehn vor fünf sass sauermann in der redaktion am schreibtisch, pfiff vor sich hin und spannte ein blatt in die schreibmaschine. er suchte einen titel. «CHAOT TOT», tippt er. dann: «BEWEGLER RICHTETE SICH SELBST», dann: VERZWEIFLUNGSTAT EINES VERIRRTEN», dann: «DAS ENDE EINES RANDALIERERS». er grinste, reckte sich gähnend und begann, einen lead aufzusetzen; sachlich und kompetent.

III

der polizeichef sass an seinem massiven schreibtisch und blickte über die spiegelnde tischplatte, draussen summte diskret und regelmässig der verkehr über den waisenhausplatz. neben den schreibtischutensilien dampfte in einem stilvollen tässchen, das mit einem herzigen bernerbärchen verziert war, ein nescafé gold. mit einem leisen seufzer öffnete er die schmale akte des ZANGGER, ANATOL JEREMIA, dessen suizid heute morgen das einzig bemerkenswerte ereignis der letzten zeit im raum schützenmatte darstellte. der polizeichef blättete eine serie von forografien durch, die besucher des ehemaligen provisorischen AJZ an der taubenstrasse 12, dem «PAJZ», zeigten. seine polizeifotografen hatten damals gastrecht genossen bei der bundesanwaltschaft im direkt benachbarten verwaltungsgebäude an der taubenstrasse 16: zanger zusammen mit bekannten und weniger bekannten gesichtern, zweimal mit grossen einkaufstaschen, einmal mit besen. tja, merkwürdiger typ, tauchte plötzlich auf, identifizierte sich mit einer sache, die nicht unbedingt die seine war, war aktiv, aber operierte nie in vorderster front… fast ein drahtziehertyp, bloss dazu wieder viel zu naiv. der polizeichef lächelte. und jetzt das: hängt sich in den stacheldraht und meldet sich ab. das kommt immer wieder vor bei solchen leuten, dieses bekennerhafte, märtyrerhafte: ums verrecken wollen sie leiden, öffentlich leiden, sich beispielgebend verheizen. es gab in seiner stadt unter den jungen einige realitätsfremde eiferer, missionarische sektierer, die moral und politik nicht auseinanderhalten konnten. die massten sich an, im recht zu sein, ohne im entferntesten die kraft zu haben, recht durchsetzen zu können, schlugen scheiben ein, randalierten; ärgerlich. freilich, solche hat es immer gegeben. solange man sie im zaum halten kann, wirken sie in ihrem eigenen sinn zuverlässig kontraproduktiv, systemstabilisierend, bloss wenn sie aus wahnwitz oder verzweiflung gewalttätig werden, sind sie nicht ungefährlich.

der polizeichef griff zum telefon, wählte, hörte zweimal den summton, dann sagte er: «tschau viktor, ich bin’s. hast du schon gehört wegen diesem zangger… ja? blöde geschichte, diese leute wollen unbequem sein bis zuletzt… immerhin scheint diese jugendbewegung langsam am ende… doch, ich finde schon, die ‘bewegung’ ist doch mehr oder weniger… alles im allem ging’s ja noch glimpflich über… immerhin, wir haben ja bei der ganzen sache nur gewonnen… seien wir doch ehrlich… ja… aber jetzt müssen wir ja kein blatt mehr… immerhin, haha, haben wir dich nach der schliessung der reitschule in aller form rehabilitiert, nicht wahr… natürlich hat die ‘bewegung’ nicht dazu beigetragen, dass ich in der öffentlichkeit eine verkleinerung des polizeibestandes… ja, aber sei doch du auch ehrlich: du hast die ‘bewegung’ protegiert und vorgeschoben bis zu dem tag, als wir vom gemeinderat her ein quartierzentrenpapier abgesegnet… na weisst du, lies doch einmal deine interviews in ‘bund’ und ‘bz’, wie eine heisse kartoffel hast du die ‘bewegung’ danach… nein, ich mache dir doch nicht… viktor, im gegenteil… weisst du, ich meine, von der ‘bewegung’ haben hier in bern doch die meisten auf ihre art profitiert. das geht doch vom ruf bis zum jenni… natürlich ist die ‘bewegung’ über die klinge, aber das war ja, wie soll ich sagen, von anfang an abzusehen. du kennst da ja meine position… … ja… du meist also, dieser dings, dieser zangger, sei für uns kein problem?… auch wenn der selbstmord gross herausgebracht wird? sauermann sei bereits um halb fünf vor der reithalle aufgetaucht, möchte bloss wissen, woher er jeweils… kein problem?… gut… sehr gut… dank dir und übertu dich nicht. tschau viktor.»

der polizeichef klappte die akte des ZANGGER, ANATOL JEREMIA zu und wandte sich, den leicht abgekalteten kaffee genüsslich in kleinen schlucken trinkend, anderem zu.

IV

zwischen bergen von zeitungen, fotos, manuskripten und büchern überflog der redaktor werner aberlein das manuskipt, das ihm sauermann vorhin hereingereicht hatte: DAS SCHAUERLICHE ENDE EINES CHAOTEN, las er, schüttelt aufseufzend den kopf, nahm einen rotstift, strich den titel und schrieb stattdessen: TRAGISCHER SELBSTMORD BEI DER REITHALLE. nachdem er den text überflogen hatte, trat er ans fenster seines büros und starrte lange auf die gegen mittag stark befahrende lorrainestrasse hinunter.

aberlein überlegte, ob er zanggers selbstmord zum anlass nehmen sollte für einen kleinen kommentar, nach dem motto: vier monate nach der reithalleschliessung. kurz die fragen beleuchten: wo ist die bewegung jetzt? was tut der gemeinderat? was das jugendamt? wie steht’s mit dem jugendpolitischen engagement der politischen parteien in der stadt? er war ja selber auf der pressebank gesessen, als sich der stadtrat nach der reithalleschliessung mit zetermordio und lamento von rechts bis links einen abend lang den mund wund geredet hatte. sogar die leute aus der «bewegung» auf der zuschauertribüne wurden an jenem abend vom nackten mitleid gepackt, wieviel sorgen sich die parlamentarier um ihr wohl machten. und dann blieb es dabei, dass das jugendamt mal schauen sollte, wie die reithalle doch noch so billig wie möglich unter ausschluss der bewegungsforderungen und -ideale in ein kulturelles und/oder jugendpolitisches prestigeobjekt der stadt umfunktioniert werden könnte. nun ja, aberlein seufzte, das müsste man natürlich viel ausgewogener und positiver formulieren, vielleicht: der gemeinderat habe sich in klaren stellungnahmen gegen die unrealistischen forderungen der «bewegung» abgegrenzt und doch gleichzeitig mit grossem einsatz versucht, das beste aus der verfahrenen situation zu machen oder so. oder ähnlich. der gemeinderat verabschiedete ja dann zu handen der leicht erregten liberalen öffentlichkeit ein für die augenblickliche situation absolut belangloses papier zur förderung dezentraler quartiertreffpunkte und die polizisten stehen sich seither die demonstrative härte des gemeinderats vor der reithalle in den bauch. im übrigen wartet männiglich auf das endgültige auseinanderfallen der «bewegung»… zum beispiel könnte man schreiben: der fall zangger ist kein einzelfall. nach seinen informationen kamen seit der reithalleschliessung vermehrt bewegungsaktivisten auf harte drogen… viele leute kaputt, desillusioniert auf eine art, dass der horror existentiell wird, viele kriminalisiert, verlorener sinn, kaputte identität, zerschlagene persönlichkeit, einige mahnende wort halt. die bewegler hatten sich verheizt, daran konnte heute kein zweifel mehr sein und jetzt war die zeit angebrochen, wo sie vergeblich darauf warteten, dass ihnen jemand dafür danke sagte. zwar hatte aberlein vor einiger zeit die bewegung hart attakiert, als jene den vortrag einer genfer ahv-rentnerin, von der gewisse schulrektoren, oberrichter und polizeichefs sogar behaupteten, sie sei eine filosofin, wüst zu boden gebrüll hatten. und jetzt müsste man doch wieder… tja, wer liberal zu denken versuchte, der konnte nicht einfach für oder gegen die «bewegung» sein. die war so ein grenzfall…

aberlein seufzte wieder tief auf, setzet sich an die schreibmaschine und spannte ein blatt ein, als das telefon schrillte: «aberlein…, ja, tag, herr zurbuchen… doch, ja, habe davon gehört, sauermann hat bereits was darüber geschrieben und ich wollte eben ein kleines kommentärchen… bitte? lieber nicht?… rücksicht auf die leser?… ja, aber was heisst in angemessener form, dreissig zeilen?… höchstens zwanzig? da muss ich aber sauermanns text ganz schön… ja… ja… gut, kein kommentar, zwanzig zeilen, ich will’s versuchen… wiederhören, herr zurbuchen.»

aberlein hängte auf, riss das blatt aus der schreibmaschine, murmelte etwas, das wie «scheissdreck» tönte und verliess sein büro. er wollte mittagessen gehen.

V

um die mittagszeit war die müsterplattform voller leute. sie kamen aus ihren büros, rutschten hinter ihren schaltern und kassen hervor und kamen hierher, verbreiteten dümmlich-geschwätzige heiterkeit, warfen hellklingende boules-kugeln über die sandigen wege oder sassen picknickend und schäkernd auf den roten bänken im schatten mächtiger rosskastanien. die bank, auf der märsu sass, stand prall in der mittagshitze. er fror trotzdem, hatte eine fleckige wildlederjacke über die schultern gelegt, die arme verschränkt, zu seinen füssen lag böbu, sein hund, und nagte behaglich an einem knochen. plötzlich war nina neben ihm, berührte ihn zum gruss linkisch an der schulter und sagte: «hesch ghört, wägem zangger?», und als märsu weiter vor sich hinstarrte, fuhr sie fort: «het sech letzt nacht ufghänkt. und weisch wo?»

mit müder handbewegung verscheuchte märsu zwei fliegen und unter der bank hörte man den knochen unter böbus zähnen splittern. nina fuhr fort: «am stachudraht bi dr rithalle und eine vo de schmierlätz dert het ne gfunde.» wie von weiter brummte märsu, den kopf langsam drehend: «wider eine weniger.»

er sah ninas schlanken warmen körper, der sich im hellen licht unter einem dünnen leibchen abzeichnete. dann schaute er zum ausgang hinüber. das warten wurde ihm lang. er fror.

«aber im herscht», meinte nina jetzt, «reiche mer is d’rithaue wider zrügg. wes de giut, si mer de scho wieder gnue, ou ohni zangger. und we aui zittige s’gägeteu schribe und aui lüt a’gägeteu säge: e so wi mir’s im sinn hei, cha me zämeläbe, besser zämeläbe, mein i, mönschlecher, aus sech das d’bonze und d’füdlibürger überhaupt chöi vorschteue. märsu, mir müesse wittermache!»

»us dr rithaue git’s nie me es AJZ», sagte märsu leise und seine hände versuchten, die hühnerhaut auf den unterarmen wegzureiben. «mir hei hie nüt me s’pschteue und nüt me z’muule. üserein cha i dere schtadt nume no umcheere oder kaputtgaa.» nina kauerte zusammengesunken auf der bank und spielte nachdenklich mit ihren nackten zehen. «ja… umcheere», sagte sie, «aber, um gozwiue, wohäre?»

«…oder kaputtgaa», sagte Märsu und erhob sich plötzlich. einige schritte weiter drehte er sich noch einmal um, quälte sich ein lächeln über die bleichen lippen und sagte: «nina heissisch? mach’s guet.» dann ging er ziellos davon. böbu folgte ihm, freudig bellend.

Nachdem die Reitschule in Bern seit Mitte Oktober 1981 als autonomes Jugendzentrum (AJZ) genutzt worden war, wurde das Areal am 14. April 1982 aus verschiedenen Gründen polizeilich geräumt, mit Stacheldraht gegen eine Rückeroberung durch die «Bewegung» gesichert und seither rund um die Uhr von Polizeigrenadieren bewacht. Vor diesem Hintergrund spielt diese Erzählung. Sie dokumentiert meinen Abschied aus Bern (ich trat auf 1. Oktober 1982 ins WoZ-Kollektiv ein und zog als Zeitungsredaktor nach Zürich). Gleichzeitig steht sie für den Abschied von der Hoffnung, die das Reitschulareal als AJZ auch für mich damals einige Monate lang gewesen ist.

Folgende Personen sind als Figuren erkennbar verewigt: der BZ-Reporter Thomas Suremann (der später zum «Blick» und noch später ins eidgenössische Militärdepartement Adolf Ogis gewechselt hat), der BZ-Redaktor Peter Abelin und der damalige BZ-Chefredaktor Peter Schindler; der städtische Polizeidirektor, Gemeinderat Marco Albisetti (FDP), und der damalige Leiter des Jugendamts, Victor Riedi. Erwähnt werden zudem die Stadträte Markus Ruf (Nationale Aktion) und Daniele Jenni (Demokratische Alternative). Der Seitenhieb gegen die «filosofin» ging gegen Jeanne Hersch.

Der fünfte Abschnitt ist eine Hommage an Marcel Eberhart, einen Junkie, der im Jahr zuvor im Provisorischen AJZ (PAJZ) an der Taubenstrasse 12 gelebt hatte und am 11. August 1981 bei einer Auseinandersetzung in der Stadt – zusammen mit seinem Hund Böbu – erschossen worden ist. Bereits im «Drahtzieher» Nr. 11/1981 habe ich einen kleinen Text veröffentlicht, der voraussetzt, dass ich im Sommer 1981 in der Küche des PAJZ mitarbeitete:

«märsu,

Du bisch i d’chuchi cho, so gäg die füfe. i ha salat gwäsche, en angere het s’gmües grüschtet für d’polenta. Du hesch gseit, Di fründin sigi wägg, Du heigisch geschter drü mou pprobiert z’telefoniere und hüt ou und’s nääm niemer ap. Du hesch geseit, dass’s Du ar tubeschtross nid ushautisch hinech, dass Du wägg wöuisch, uf züri, einisch go s’AJZ aaluege, de wüsisch ou, wo penne und öb i Dr e driissger chöni pumpe, i überchöm das gäut morn sicher wider ume. dr böbu isch ungerem chuchitisch ggläge und het uf Di gewartet, wo mr pprichtet hei am schüttschtei. wo de d’fründin häre sig, han i Di gfrogt. ää, das wüsisch äbe nid, hesch gseit, vielech ids wallis, und i ha gschpürt, dass es Dr weh tuet und dass’D elei bisch. i ha’s Dinen ouge aagseh, de chliine chugurunde pupille, wo fasch hinger de lider verschwunde si, dass es Dr nid guet geit. vom törki-dürezie hesch hinech nüt gseit, wi süsch auben öppe. nume dr driissger hätsch wöue vo mr für uf züri und i ha Dr ne nid gää: dr zuug hätt i Dr vilech zaut, aber nid s’gift. das nid. Du hesch’s du ufgää, bisch mit em böbu zur chuchi uus und i ha mi nid witter ggachtet, ha ghoufe d’polenta übertue. und nächär das: TÖDLICHE SCHÜSSE NACH MITTERNACHT / STREIT UM GELD ENDETE TÖDLICH / JUNGER MANN UND HUND ERSCHOSSEN(1). so het’s nächär gheissen i de zittige vo de brave und vo de noble bürger, wo mit Dir nie öppis hei wöue z’tüe ha, wo uf söttig wi Di gringschäzzig abegluegt hei. i ha’s vernoo i dr chuchi, em taag truuf, bim salatwäsche, schpäckröschti hei mr wöue mache. und i bi erschrocke, im buuch het’s mi gguslet vor schreck und läär han i gschlückt, gäng wider, und zur chuchitüüre han i ggluegt, öb’D nid plötzlech inechömsch. hueresiech, hätt i Dir gärn dä driisiger gä hüt z’obe, für uf züri. aber itz isch’s z’schpäät.»

(1) Zitiert werden die Titel der Berichterstattungen über das Ereignis in der «Berner Tagwacht», dem «Bund» und der «Berner Zeitung» vom 12.8.1981.

Aktuell

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Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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