VIII zunehmendes schweigen

 

[88]

morgentoilettenspiegelbild

 

auch heute

reicht noch mein erspartes:

kaution für meine narrenfreiheit

angefüllt mit meinem bisschen sprache

und mit lyrischer unpräzision

 

verkaufen könnte ich

auf den plätzen der stadt

meine schönsten sätze:

WER NICHT TUT WAS ER DENKT

DENKT NICHT WAS ER SAGT

ist dir dieser satz 

zwei franken zwanzig wert?

soviel kostet das bier 

auf das ich lust habe

 

worte

wie kieselsteine

in nebel geschleudert

ab und zu treffe ich mein spiegelbild:

schon hoffe ich auf besorgte uniformen

die rennen mit schildern:

ACHTUNG STEINSCHLAG

 

ich kenne die mahnfinger

von fabrikschloten und Bundesräten:

ES IST RATSAM

IM INNERN DES AREALS

DAS BRAUEN VON EIGENEN SUPPEN

ZU UNTERLASSEN

und wirklich: auf der suche

nach holz für mein feuer

werde ich älter und ängstlicher

 

und täglich wirbt

gähnende unverbindlichkeit

um mein bisschen sprache

mit ausgesorgtem schweigen

(26.9.1978)

 

[89]

babel II

 

jenseits des wegs

schieben sich kahle stämme

langsam durcheinander

an mir vorbei

in diesen tagen/ in diesen tagen

                              springen die knospen

                              aus den fenstern der hochhäuser

                              entfalten sich blüten

                              aus asphaltstrassen und kranen

                                                   (und es diente ihnen

                                                   der ziegel als stein

                                                   und der asphalt

                                                   diente ihnen als mörtel)

 

eine taube hüpft über den weg

mit zerfetztem flügel

fliegt nicht mehr fliegt nie mehr

in diesen tagen/ in diesen tagen

                               stribt schattiges betonbeschwert

                               vor babels palästen

                               wolkenwärts fliegen die türme

                                jenseits des sinns

                                                     (und dies ist erst der anfang ihres tuns

                                                     nunmehr wird ihnen

                                                     nichts unmöglich sein

                                                     was immer sie sich vornehmen)

 

nach einer kurzen strecke

verliere ich mich

zwischen

den kahlen stämmen

in diesen tagen/ in diesen tagen

                               erlernen die sehenden

                               taubstummensprache

                               sie sahen wohl die feuerflamme

                               die hervorschlug aus den türmen der stadt

                                                       (wohlan        

                                                       lass uns hinabfahren und daselbst

                                                       ihre sprache verwirren dass keiner mehr

                                                       des andern sprache verstehe)

(3.3.1978)

 

[90]

erste zweifel

 

was mich erschreckt:

da beginnt einer wie ich

zu rechten gegen andere

gegen ihr gesabber und gelalle

das sie sprache nennen

 

da beginnt einer wie ich

gegen andere zu schreien

zu spucken

zu sabbern

zu lallen

auf dem weg

zu den eigenen worten

 

auf dem weg

zu meinen worten

türmen sich leichen

auf meiner zunge

ich spucke und spucke sie

in alle vier winde

 

«es ist nicht gut

wenn bettnässer von recht + ordnung reden

es ist verlogen

wenn sexualfrustraten von gott reden

es ist lächerlich

wenn nagelkauer von revolution reden

es ist schrecklich

wenn offiziere von frieden reden»

 

ich spucke und spucke:

auf dem weg

zu meinen worten

werde ich

schweigsamer

schweigsamer

(26.9.1978)

 

[91]

rufend suche ich meine sprache

 

schweigend

find ich im frost

die einstmals blühenden felder

finde ich wort um wort

zuckend unter entsinntem moder

auf erfrorenen weiten

 

und über die felder

ziehen blöd lächelnd die schinder

im namen diesseitiger götter

ebnen verbliebene widersprüche ein

zertreten hier und dort einen blutenden sinn

und tragen das liegengebliebene tote

von staateswegen hinweg

nach den museen der wahrheit

 

ich aber stecke zwei handvoll

missgestaltiges zuckend voll leben

in meine taschen flüchte

vorbei an singenden schindern

an den museen der grossen worte vorbei

vorbei an den weitwuchernden wahrheiten

 

zwei handvoll

leben hinüberrettend

 

wohin?

(4.6.1978)

 

[92]

wort für wort

 

wort für wort

wird uns genommen

leben um leben

uns ausgelöscht

welt auf welt

wegradiert

 

verstummende

gefangene

in phrasenfabriken

psychiatrisch behandelt

des zackenden sinns beraubt

konserviert

 

pflegeleicht

wort für wort

des schreienden widerspruchs

enthoben entmündigt

wir liebens leichter

und mit geschmack

 

sauber verpackte konserven

dudenregistriert

unschädlich rasch schmerzstillend

stärkt die widerstandskraft

und macht wieder

frisch

 

leben um leben

für manager

die ihren 

führungsstil

optimieren

wollen

 

welt auf welt

 

(frühzeitige anmeldung empfohlen)

(2.3.1978)

 

[93]

rondo

 

wie lauert

die stille wenn die worte erstarren

die sprache versiegt

 

wie schmerzt

die weitaufklaffende wunde

der einsamkeit

 

wie schrein dann

meine augen meine hände zittern

nach trost vor mir selber

 

wie aber schrein

meine worte wenn sie erwachen

aus ihrer erstarrung

 

wie schrein sie

gegen den lieben gott der bluttriefend foltert

in den gefängnissen der gerechtigkeit

 

wie aber soll

ich mich wehren wenn ich nicht schreie

vor angst

 

wie soll

ich schreien vor angst

wenn meine worte erstarrn

(2.8.1978)

 

[94]

sommernachtstraum

 

aus den hauptportalen

der hochhäuser bricht eis

gletscherzungen wälzen sich

aus verwaltungspalästen

eisberge wachsen

auf den plätzen der stadt 

der regen gefriert

in den parks krachen die bäume

 

die eisberge haben vortritt

ruft der polizist auf der kreuzung

gletscherspezialisten

machen routinemässige ausweiskontrollen

IN DIESER HARTEN ZEIT MÜSSEN WIR UNS ALLE EINSCHRÄNKEN

splittert das eis aus dem radio

in den händen knackt die zeitung

DIE LAGE IST UNTER KONTROLLE

 

es ist verboten

im freien feuer zu entfachen

wahnsinnige schlagen mit blossen fäusten

auf das eis in den strassen

ein kühlschrankfabrikant

wird demokratisch zum polizeichef gewählt

schon schlucke ich eiswürfel

aus feigheit

(21.8.1978)

 

[95]

ballade vom unbaum

 

und wenn sie dir sagen

es gibt keine bäume

und wenn sie dir sagen

es hat nie bäume gegeben

 

und wenn sie es dir beweisen:

wenn wissenschaftler in zeitungen

            gegen die irrlehre des baums vorgehen

wenn bundesräte im fernseher

            sorgenvoll warnen vor der gesteuerten hetze des baums

wenn plakate hängen in den strassen:

            gute menschen kennen keine bäume

wenn wirtschaftsfachleute im radio

            von konzerngefährdenden baumepidemien sprechen

wenn demonstrationen für den baum

            von höchster stelle verboten werden

wenn lehrer ihr humanitäres erbe vermitteln:

             es ist ein verbrechen von bäumen zu sprechen (brechtverweisend)

 

wenn du langsam aber sicher/ deinen augen nicht mehr trauen kannst/ weil du dinge siehst/ die es nicht geben darf: BÄUME

wenn du dir am ersten august vornimmst/ von jetzt an stärker an den unbaum zu glauben/ denn an den lieben gott

wenn du deinen kindern einbläust/ es gibt keine bäume/ es hat nie welche gegeben

:

wer hat dir dann die sprache genommen

wenn du die trauerweide trotzdem siehst

im nebligen herbstmorgen

über ophelienhaftmurmelndem Wasser?

(1.3.1978)

 

[96]

meine welt

 

mächtig brüllt die brandung

wind weht möven beiseite

gischt schiesst über sand

 

der sanfte schrecken:

chronische hygiene

ungewissheiten

alphabetisch geordnet

achtung:

militärische anlagen

klinisch getestet

mit blick auf den see

(fotografieren verboten)

 

über sand schiesst gischt:

netzt die schuhe des touristen:

ich

(26.7.1978)

 

[97]

rückschlag

 

vor dem altar meiner sprache

ringe ich um glaubwürdigkeit

 

durch die hinterhöfe

pfeift ein flötchen

 

kompressoren zertrümmern

den nachmittag

 

in mir ist stille

es zerbröckelt mein schrei

 

unter den langsam drehenden schatten

der spekulantengeier

 

geh ich hinunter zum rhein:

er schlägt über meinem schweigen zusammen

er stinkt nach fortschritt

(12.9.1978)

 

[98]

über blendung

 

der graue regen

hängt neblig

zwischen den mächtigen stämmen

schwarzer dämmer

schlendert langsam

die murmelnden gräben herauf

 

über wippendem moosigem boden

zwischen heidelbeerstauden

und tropfendem farn

zwischen den stämmen

meine füsse meine augen

mein tropfendes haar: ich – 

 

da hör ich dich sagen:

nun ja sehr bieder

wald im gedicht lokalkolorit

zurück zur natur schon gehabt

schon gehabt das unbehagen an der kultur

alle fünfzig jahre ein wenig

untergang ein wenig moralische drohung

gerilkt und vertraklt

gleich flippt er ins blutundbodige ab

nichts zu machen

was weiter?

nun ja

 

ich weiss: worte sind grenzsteine

ich weiss: sprache ist stellungnahme

was ich sagen wollte

der wald der spaziergang

da war ein erlebnis

ein gutes gefühl eben etwas

stimmte in mir

ich wollte es dir sagen

meine worte

sind wehrlose bluter

ich wollte

ich wollte

in kann mich nicht verteidigen

kann mich nicht verteidigen

(14.9.1978)

 

[99]

versteinerung

 

grosse worte

verewigen sich

im hochaufgeworfenen stein der stadt

verhärten sich zu mutmasslicher wahrheit

zur lüge gefriert

zertretene hoffnung

 

und viele bleiben stehen in den strassen

pressen die armstümpfe ans gesicht

wollen nicht mehr weiter

wollen nicht weiter

 

viele stehen in den strassen

versinken im schreienden teer

schlagen schon marmorne wurzeln

in ihren augen wächst buntsandstein

weinende trauer tropft

aus granitenen mündern

 

und dann:

die kehrichtabfuhr

die saubere säubernde offizielle

walzt nieder räumt auf

knackt die versteinerten körper auf

sammelt restwärme

zur wiederverwertung

die schale in den müll

auf die steinernen halden der vorstadt

der schreiende teer

schluckt die erinnerung

 

im fernsehen

wird fussball gespielt

mit unseren herzen

(21.8.1978)

v11.5