[59]
erklärung der heiligen dreifaltigkeit
(3.9.1978)
[60]
brief an eine frau
für heidi
ich will eine sprache erfinden für dich
eine lachende weinende verrückte sprache
eine sprache die nur dich und mich meint
ich will eine gewalttätige zärtliche
eine obszöne sprache
ich will eine sprache die nie salonfähig wird
die in jeder wendung
das kastrierte gestotter
der gottgewollten Vernunft verhöhnt
ich will eine sprache so warm und ehrlich
wie unsere nackten körper
so funkelnd und wild wie die umarmung
nachdenklich und traurig
wie dein lächelnder blick
einen fernseher möchte ich zerschmeissen
eine bildröhrenscherbe dir schenken
und eine abgebrochene transistorantenne
als liebesbeweis
(8.12.1977; 3.9.1978)
[61]
sanduhr I
komm setz dich auf den boden
wir wollen auf den morgen warten
gedenke jener
die vor die stacheldrähte traten
die sich vor wasserwerfer
und vor panzer setzten
wir wollen auf den morgen warten
heb nicht die blosse faust
gegen die waffenstrotzenden
retter des vaterlandes
unser spott und unser hohn
sei das tränengas
das die häscher schrecke
wir wollen auf den morgen warten
grab deine finger
in die feuchte erde
nur in ihr
kann unsere zukunft wachsen
wir wollen auf den morgen warten
sei unnütz hab geduld
zeit macht
jede waffe rosten
wir wollen warten
(23.8.1978)
[62]
wolfgang borchert
da oben: zimmer zweihundert dritter stock
in den tod gelacht: du
gaukler possenreisser meldeläufer
bei kalinin und toropez
malliger teekesselkopf von smolensk
du: zersetzer der wehrmacht
spötter: gefallen gegen die armee
für die du dientest
mein gelber bruder: sänger
des grosser NEIN
(4./5.9.1978)
[63]
aufruf zur notwehr
aus deinem bett
werden sie deinen galgen zimmern
aus deinen leintüchern
werden sie deinen strick drehen
aus deinem haus
werden sie dein gefängnis bauen
aus deinem boden
werden sie dein feld der ehre machen
soviele häuser soviel boden
soviele betten und leintücher:
galgen und strick
gefängnis und schlachtfeld
sind allgegenwärtig:
verweigere deine mittäterschaft
widersetze dich
du handelst in notwehr
(22.7.1978; 17.8.1978)
[64]
skizze zu einem manifest
da dir oft
himmelangst wird
vor den himmeln
der zweifellosen:
BETE DAS UNVERNÜNFTIGE
hoffe das unökonomische
denke das unrationelle
tu das unproduktive
SCHÜTZE DAS NUTZLOSE
ersinne das unsinnige
versteh das unverständliche
ermögliche das unmögliche
LEBE DEM LEBENDIGEN
(24.9.1978)
[65]
es wird zeit dass wir leben
es wird zeit dass wir singen
für madeleine und hans
so erzählt meine mutter:
vor jeder geburt habe sie gesagt
hoffentlich ist das kind gesund
und hoffentlich kann es singen
ich dieser woche
haben polizisten in düsseldorf
den «terroristen» w. p. stoll
wie einen tollwütigen hund
über den haufen geschossen
aus notwehr
in dieser woche
reisen minister an geheime konferenzen
mischen juristische insektizide
zur terrorbekämpfung:
die beobachtende fahndung
gegen alles pulsierende
ist eingeleitet
weil ich meine kinder liebe
sagtest du traurig lächelnd
der du dich sterilisieren liessest
aus notwehr
in dieser woche
sind es fünf jahre
dass allende fiel: die hoffnung so vieler
dass jara im fussballstadion von santiago
zu tode geprügelt wurde
wie ein tollwütiger hund
wegen seiner lieder
dass der grosse sänger pablo neruda starb
in dieser woche
verbluten menschen
unter den kugeln der soldaten
in den strassen managuas
[66]
in den strassen teherans
für die bitte
aus notwehr:
leben zu dürfen
wie menschen
in dieser woche also
begeht ihr das grosse wagnis
versprecht ihr euch trost
und helfende hände im kampf
und vierzig jahre
lehrt euren sohn:
im krieg sind alle schützen schuldig
und eure tochter lehrt:
wisch den helden
da du sie triffst
das mal des versagers von der stirn
erzählt euren kindern von jaras gitarre
und nerudas grosser stimme
verschweigt nicht den schrei
der menschen in den strassen
von teheran und managua
lehrt eure kinder singen:
ihre eigenen melodien
ihre eigenen eigenen worte
(12.9.1978)