II Nächtliche Exerzitien

 

 

[13]

Amphoren 

Geborstene Krüge – Amphoren

in Algen begraben, zerschellt,

vor zweitausend Jahren verloren,

von salzigem Wasser entstellt.

 

Da liegt ihr! In Meergras gebettet,

von Schnecken und Würmern bedeckt,

an Schalen von Muscheln gekettet,

vom Rausch der Zersetzung beleckt.

 

Da liegt ihr! Vergessen, zersprungen,

vergossen das Öl und der Wein,

der Hall eurer tage verklungen.

 

Da liegt ihr! Im Sterben allein. – 

Im Leben um Leben gerungen,

um einer der euren zu sein!

(19.4.1974, 12.1976)

 

[14]

Aquarium

Im atemlosen Glasgeviert

durch Wasserpflanzengrün,

das indirekt beleuchtet wird,

sieht man die Stummheit ziehn.

 

Durchsichtig, gläsern, namenlos,

grazile Farbenpracht:

ein selbstvergessner Flossenstoss,

und Kiemen fächern sacht.

 

In unbewusstem Einklang träumt

fragloses Sein im Dämmerlicht

versinkend, leis. –

 

Denn wer sich jemals aufgebäumt

und sucht, der findet nicht:

Wer nicht fragt, weiss.

(6.12.1976)

 

Lockruf

Aus zweifellosem Sein steigt Morgenlicht,

das blonde Haar fällt tief in mich hinein,

ist lockende Gebärde, die verspricht,

die Brücke des Unmöglichen zu sein.

 

Der Wein der Augen scherzt mit Trunkenheit.

Ich lehn mich lässig gegen meine Nacht.

Der Glaube eines Augenblicks befreit

den Wahn vom Möglichen. Und sacht

 

umfängt, umschlingt Verlangen die Gestalt,

besitzergreifend steigt die Glut empor,

schlägt hoch, erstrahlt, versengt, verglüht –. 

 

Der morgentliche Lockruf ist verhallt.

Streng tritt die alte Flammenflucht hervor,

die brüderlich und sanft mich nachtwärts zieht.

(2.1975; 12.1976)

 

[15]

Spiegelsaal

Wohin ich rannte:

Immer wieder Ich.

Wie ich mich wandte:

Flucht in mich.

 

Wie feiste Ratten

frassen mich getreu

eigene Schatten

täglich neu.

 

Nutzen, Qual?

Und noch kein Ende,

denn jeder Irrtum trägt schon meine Züge,

 

und jede Wahrheit reflektiert die Lüge

an neue Wände,

Spiegelsaal. 

(25.11.1976)

 

Intermezzo

«Wir Graben den Schacht von Babel.» (Franz Kafka)

Zu zweit allein, die Maserung der Wände.

Im Kerzenlicht quirlt Zigarettenrauch

und tief in mir die Wärme Deiner Hände –

entsetzlich schön: Du lebst und atmest auch.

 

Wie Deine Glieder sich an meine schmiegen.

Die List, das Wunder, sich doch zu entgehn.

So wärmend eng umschlungen dazuliegen,

wo keiner hört, um alles zu verstehn.

 

Es reissen Ketten, reissen Nächte auf,

es sinkt gelebtes Wir ins Nichts des Tags:

Der Maulwurf hat die Arbeit eingestellt.

 

Der Schacht von Babel geht in Flammen auf!

Das Liebeslied des schlichten Holzverschlags

verstummt – das Lied der neuen Welt?

(2.1975, 12.1976)

 

[16]

Zugvögel

Sammelt euch und fliegt!

Die Kälte wartet nicht.

Der Sommer hat gewiegt.

Der Winter bricht.

 

Seid wachsam und bereit.

Fliegt weit und hoch.

Noch ist es Zeit.

Wie lange noch?

 

Zurückgebliebene erfrieren bald.

Der Winter bricht.

In seiner drohenden Gestalt

 

ist euch kein Licht.

«Und du?» – Ein Vogelruf, der hallt. –

«Gebrochne Flügel tragen nicht.»

(27.5.1974, 12.1976)

 

Memento mori

Durch Zigarettenrauch der müde Blick

durchs Fenster: Mitternacht mit Schnee bedeckt,

durch meine Armbanduhr in mich zurück

ein Blick, der träumt, erkennt und weckt.

 

Ja, Nacht und Müdigkeit und Rauch und Schall

und immer wieder warten. Bloss: Wozu?

Worauf? – Der Stein der Weisen, Parzival. –

Du suchst. Nun gut. Doch was? Was findest du?

 

Das Paradox der Welt erfandst nicht du

und deuten wird es nicht, wer es nicht schuf,

und wie du schaust, siehst du die Fragen nur.

 

Die Frage ist das äusserste: Wozu?

– Memento mori – Totenschädelruf,

in mich zurück und durch die Armbanduhr.

(18.12.1975)

 

v11.5