I Stadt

 

[10]

Weihnacht I

Alljährlich das erfrorne Kerzenlicht

an abgeholztem totem Tannengrün:

Die Zeit, in der man Epiloge spricht

auf Illusionen, die vorüberziehen.

 

In Orgien der Hoffnungslosigkeit

wird sinnlos jedes Jahr neu bilanziert:

Wird redlich Träne, Angst und Einsamkeit,

von seinem Tagtraumleben subtrahiert.

 

Die Nacht des Krippenkinds, der neuen Welt,

von Sternenschweif und Engelsang erhellt:

zur Kinderbuchillustration erstarrt.

 

Die Nacht, die ihre eignen Kinder frisst,

weil der Erlöser Schrift geblieben ist,

und alles, alles auf Erlösung harrt.

(15.12.1974, 12.1976)

 

Pfalz

Leise heb ich meine Hand und fahre

Entlang der Häuserzeilen durch die Nacht.

Berühre Dunkelheit. berühre klare

Erstarrte kalte Lichter: Leichenpracht.

NEIN:

           keine dürren Blätter. Nein: kein Regen,

Obwohl auch Herbst hier möglich wär.

Hart liegt die hand in Dunkelheit. Verlegen

Neigt sich langsam ihre Scham. Wie schwer

Es

 

      wird, mir selbst und mir allein zu zeigen,

Leicht und im Vorbeigehn, was ich sehe:

Ein Schmerz im Nacken zwingt den Kopf zu neigen

 

Bis ich die Augen schliesse. Ich gestehe

Ein: Mir sind die kalten Lichter eigen.

NEIN: Der Weg abseits, den ich begehe.

(30.11.1976)

 

[11]

Begegnung

An einer Strassenkreuzung wartest du auf grün,

den Kopf voll Selbstbezichtigungen wie so oft,

und siehst jenseits der Strasse Schattenbilder ziehn,

gedankenlos; und dann erkennst du unverhofft

 

erkennst du wen, du siehst ihn nicht nur, du erkennst

wen; einen Menschen; ja, der könnt es sein,

der Möglichkeit ist; und du rennst bei grün; du rennst,

querst Strasse, Raum und Abgrund; holst ihn ein.

 

Nein. Holst ihn nicht ein; hast ihn nie gesehn,

du hast ihn bloss vermutet; Möglichkeit

ist nicht Gewissheit: Hoffnung die du nährst.

 

Jenseits der Kreuzung weitergehend: ungeschehn,

was du nicht sahst; und etwas in die schreit:

Wenn du nur hier gewesen wärst!

(18.11.1976)

 

Frage

Auf Gräbern schiefe Kreuze, flimmernd: Sommerwärme.

Insekten summen, leise; Birkenlaub im Wind.

Weit unten, modernd die Skelette, die Gedärme;

der stille Blick im Kreise fragt: Wer sie wohl sind?

 

Im Schatten: Sitzgelegenheit, ein Greis, der weint,

die Gräber eingefallen: dumpfes Rattenloch. –

Es gibt Gewitter gegen Abend, wie es scheint,

und trete auf die Strasse, dann: Ich lebe noch. 

 

Nichts als der lange Fall der Erde zu,

nichts als die Weite und zwei leere Schuh,

nichts als der Sinnspruch vin der letzten Ruh.

 

Und weisst: Du gehst im Kreis herum;

und weisst und schweigst und wartest stumm

und fragst und fragst: Warum?

(13.6.1974, 12.1976)

 

[12]

Bardame

Der Zigarettenrauch betrogner Hoffnung schleicht

in trägen Schwaden durch den Dämmerschein:

die heile Welt der Diskothek und Wein

und jenes Mädchen, das die Flaschen reicht. 

 

Und jenes Mädchen mit dem Monroe-Haar

und der Figur der Lollobrigida:

die Märchenwelt des langen Traums so nah,

so unerreichbar fern, so greifbar wahr.

 

Im Scherz die Hollywood-Illusion,

im Scherz des Mädchens Prostitution

für aufgereihte Onanisten auf

 

den Kinohockern einer Bar. Hier schweigt

die Schwäche! Und das liebe Mädchen neigt

sich, leicht lächelnd, flüstert leise: «Sauf.»

(8.12.1976)

 

Feierabend

Ich schlenderte noch spät. Weit unter mir der Fluss,

der schwarzes Gold entlang der Brückenpfeiler war

und murmelte: Er sprach kaum hörbar von Gefahr;

entfernt gedämpft der Stadtlärm wie ein ferner Gruss.

 

Entfernt gedämpft, jenseits der Brücke, Orgelklang

aus jener Kirche, die in schwarzen Bäumen ist.

Dort sass in dämmeriger Leere wohl ein Organist,

der seine Dämmerung mit tausend Pfeifen zwang.

 

Ich ging zur Kirche hin. Ich trat vor das Portal

und lauschte; nahm die Klinke in die Hand und stand

und trat nicht ein. – Die Klänge schnitten mir wie Stahl

 

unmenschlich kalt durch meinen Leib: wie Neonlicht.

Ich trat zurück. Es waren wohl die Klänge nicht,

es war die dämmerige Leere, die ich fand.

(23.11.1976)

 

[13]

Tramfahrt

Der dumpfe Dampf der dicht gedrängten Leute,

der aus den regenschweren Mänteln steigt,

beschlägt die Scheiben. Klagendes Geläute

hat den Ruck der Abfahrt angezeigt.

 

Ein Kind schreit auf. Die Mutter zischt es nieder.

Gekreisch der Räder, Husten, Flüsterstimmen;

die Strassenlichter, die kalt immer wieder

durch die milchigweissen Scheiben glimmen.

 

Wenn man nur schon wieder draussen wäre – 

die Türen zischen und mit leisem Fluche

geht die Mutter mit dem Kind, das flennt.

 

Blicke voll von namenloser Leere

und Angst – auch ohne die Atomversuche,

die das aufgespannte Tagblatt nennt.

(9.12.1976)

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