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I
wohlfahrtsstaat
«IM SÜDOSTEN LONDONS
WURDE DAS SKELETT
EINES MANNES GEFUNDEN
DER VOR FÜNF JAHREN STARB
UND IN SEINER WOHNUNG
ERST JETZT ENTDECKT WORDEN IST.»
(dpa, 24.7.1986)
überwachungsstaat
(27.7.1986; 6.10.1986; 25.2.1987)
II
REYKJAVIK: GIPFELTREFFEN REAGAN – GORBATSCHOW:
montag nachmittag: wer arbeit hat, den hat sie jetzt
auf jeder parkbank wartet faltig ein gesicht
schachfigur, die sich ins neue plattenkarree setzt
durch brüchiges kastanienlaub stiebt goldgelicht
kartenfächer: eine lippe, die den finger netzt
ein hingeworfnes wort lischt spurlos als gedicht
zeit geht stiller: dämmernah scheint leben unverletzt
OHNE ERGEBNIS ZU ENDE GEGANGEN (13.10.1986)
(13.10.1986; 25.2.1987)
[218]
III
22.10.1986: BUNDESRAT FURGLER KÜNDIGT DEMISSION AN
plastikparks schiessen über alle horizonte
lichtwärts schlittern läufige glatteisseelen
grazil entlang von ruheundordnungsound
im walkman altehrwürdige zukunft
ist ein henkersbeil im neonliocht:
ihr eintreffen ist das endgültige ende
der plastikparks blitzt lichtjährig davon
KOLLER (AI) AUSSICHTSREICHSTER NACHFOLGER!
(24.10.1986; 25.3.1987)
IV
springt der suizident von der kirchenfeldbrücke…
(«TSCHERNOBÂLE») «UND DIE POLITIKER,
DIE UNS DIE ANGST AUSREDEN WOLLEN?
SIE HABEN ANGST: VOR DER ANGST.
DENN ANGST VERÄNDERT DAS BEWUSSTSEIN DER BÜRGER.
VERÄNDERTES BEWUSSTEIN ABER
STÜRZT POLITIKER.»
(«SONNTAGSBLICK», 9.11.1986)
…direkt auf die aarstrasse: sägemehl streuen (aquaplaning!)
(9.11.1986; 25.2.1987)
[219]
V
«SOLANGE ICH MEINE OHNMACHT ALS BÜRGER DARSTELLEN KANN,
bei uns findest DU immer ein offenes
ohr! sprich DICH aus! such den
dialog! DU musst gesprächsbereit
bleiben! lass DICH nicht verhärten!
mit uns kannst DU jederzeit reden! kon
frontation nützt niemandem! (kunst
ist befriedet) sag doch was, DU!
BIN ICH NICHT OHNMÄCHTIG.» (FREDI M. MURER, BZ 15.11.1986)
(9.11.1986; 25.2.1987)
VI
«SEI KEIN PENNER, DU ARSCHLOCH! IN DEINEM LAND…
die angst ist immer da. geh vorwärts.
die angst ist da. geh immer vorwärts.
die angst ist. geh da immer vorwärts.
die angst! geh immer da vorwärts.
angst! geh immer da vorwärts da.
ich geh vorwärts immer da da –
die angst ist immer da. geh vorwärts.
… RUFT DIE REVOLUTION!» (KORTATU)
(24.10.1986; 15.11.1986; 25.2.1987)
[220]
VII
«ZERSCHLAGUNG DES KAPITALISMUS WELTWEIT»
hektisch gehen die verschworenen
klandestin in engem kreise
auf der suche nach den fronten
in der hochburg hier des feindes
orten jeden sie als spitzel
der im kreis zu gehn nicht fähig
oder willens für den sieg
«METROPOLENWAHNSINN»
(6.10.1986, 25.2.1987)
VIII
was aber, genossen, genossinnen. bleibt…
«WIR LAUFEN DURCH DIE LAUTLOSEN ST
ÄDTE UND DIE ZAUBERPLAKATE BERÜHR
EN UNS NICHT MEHR. WAS NÜTZEN DIE G
ROSSEN ZERBRECHLICHEN BEGEISTERUN
GEN; DIE VERTROCKNETEN FREUDENSPR
ÜNGE?» (AUS: ANDRÉ BRETON/PHILIPPE
SOUPAULT: «DIE MAGISCHEN FELDER»)
…jenseits der verblendungszusammenhänge?
(15.11.1986; 25.2.1987)
[221]
IX
POSTKARTE: «ETNA; COLATA LAVICA», SIRACUSA C. P., 27.10.1986:
was noch an träumen lebt, wird INDUSTRIELL verstampft
mit eisernem gewicht zu grauem staub zerkleinert
pulverisiert, erhitzt und medial verdampft:
es wird der grobe traum zur illusion verfeinert.
mit aufgerissnem hirn stehn einsam
traumhüllen augehöhlt – nichts und versteint
entkernt und leer und frei: bewegt sich weiter:
es hat sich ausgeweint.
«NUR KAPUTTE GEHIRNE RICHTEN SICH EIN…
maschinen lächeln weiter.
es hat sich ausgeträumt:
grellweisses neonglück macht schatten zum gerücht
und bräunt die menschenhüllen zärtlich weich
die sanft maschinenwärts zerblättern schicht um schicht.
und randwärts mauert bilddampf
fällt lautlos fliehendes als giftigen bereich
umwuchert die maschinen göttliches gericht
welt als himmelreich.
…DIE ANDERN VERTRAUEN DEM WEG, HERZLICH MARIELLA»
(2.11.1986; 26.2.1987)
[222]
X
DRS 20.05: EIN FALL FÜR ZWEI – BLINDER HASS
du fragst mich, was ich jeweils treibe,
wenn ich nicht in die zeitung schreibe?
dann geh mit meinen nackentieren
mit meiner angst ich promenieren
im brüchigen oktoberlicht
und denke meiner sprache nicht,
sondern den wunden, die sie bricht.
21.15 RUNDSCHAU
(14.10.1986; 26.2.1987)
XI
AMOR FATI
indem
ich mich leugnend
vor mein schicksal stelle
– namen der verantwortlichen
fordernd statt metaphysik –
erfüllt es sich mir
hinterrücks
DUHASTKEINECHANCEABERNUTZESIE
(30.9.1986; 26.2.1987)
[223]
XII
ES GIBT EIN LEBEN VOR DEM TOD
im kopf die bessere welt
machte meine jugend grenzenlos
sie nahm mich im utopischen sturm
jenseits fiel ich ins bodenlose der illusion
nun schmerzt schon der rücken beim aufstehn
und der möglichen welt wachsen grenzen:
180 x 50 x 20 cm
AUF ZUM LETZTEN GEFECHT!
(7.10.1986; 26.2.1987)
XIII
«WIR KÖNNEN NICHT EWIG MIT DEM ERIGIERTEN…
siehst du? die hoffnung geduckt huscht
im dämmer entlang der drahtverhaue irr
flüchtet sie ihr glück vor kimme und korn: «INS FREIE!»
doch hier hat jedes geräusch (TOTSTELLREFLEX)
einen offiziellen finger am abzug: nackenerstarrte
befehlsempfänger lallen DRS 3 raupen
fahrzeuge umkreisen das naturschutzgebiet
…GLIED DER HOFFNUNG HERUMLAUFEN» (BERNWARD VESPER)
(25.10.1986; 26.2.1987)
[224]
XIV
«WEHRT EUCH, LEISTET WIDERSTAND»
wenn aber die dämmerung kommt
fliehen mich die Worte, die notwendigen lügen
flieht mich der schale schimmer
meiner besseren kopfwelt:
kommt dieses schwärzliche herbstgespenst
schreit meine angst nach warmen händen
und geruch von einem menschen
«MITMARSCHIEREN – SOLIDARISIEREN!»
(12.10.1986; 26.2.1987)
XV
ES IST NUR EINE DÜNNE WAND…
einem gedankenfaden folgte ich weg von der freunde ohr
bis weit sehr weit hinaus da ging er mir verloren
im unbestimmten ohne einer gewissheit grenze
in meiner angst und hastigen umkehr fand ich
meinen rückweg nimmer und verirrte mich dorthin
wo ich sie liegen sah in den stolperdrähten weit
vor den schutzwällen der babylonischen maschine
…ZWISCHEN IRRSINN UND VERSTAND
(10.1986; 26.2.1987)
[225]
XVI
«DU SOLLTEST SOGAR […] MEINEN BRIEFEN ES ANSEHN, WIE
ein dämmriger raum. schrank im hintergrund,
davor eine frau, graumelierte haare,
die blaugeäderten brüste kaum verhüllt,
furchtlos geil versuch ich, sie zu berühren.
ruhig sagt sie: «geh hinauf, ich komme nach» (schnitt)
ich steh im schlafzimmer meiner eltern, allein.
ich erwache schweissnass, heftiges herzklopfen.
MEINE SEELE TÄGLICH STILLER WIRD UND STILLER.» (HÖLDERLIN)
(16.11.1986; 26.2.1987)
XVII
…7.11.1986, 20.30: STAMMHEIM (KINO ABC),
flammenflucht: über die sonne gespannt
ein messerdünnes eisfell
trägt zitternd zum
atemstillstand
in splitternde angst
bräche ich rettungslos ein
würde es wärmer in mir: flammenflucht
8.11.1986, 20.30: KORTATU (MEERHAUS)…
(8./9.11.1986; 26.2.1987)
[226]
XVIII
goldlicht: HERBSTSESSION
nacht traum trauer flucht
hals schlag atem schweiss
nacken klammer schläfen pfeil
rachen tränen messer licht
rippen eisen nerven herz
blicke blitze schwindel riss
blut dunst dämmer angst
HERBSTZEITLOSEN: menschen winterwärts voraus
(9.10.1986; 14.10.1986; 26.2.1987)