[192: leer; 193: Titel; 194]
«269 morti» (was ist geschehn?)
für heidi
vernAzza: EmpoR durch die gassE
vorbei an fenstern und tOren:
zwisChen geweIsselt-Verqueren mauern
steILsteigenden stufEn
hinAuf Bis der Blick fällt Auf
das sTill-gleissende meer
der weg nun am felsigen hang Tief
UnTen die gischtende brandung
feigen Oliven kakteen
eiDechsen Auf heiss-staubIgem stein
deR horizont als träumender strich
Und hinter der krete
Steigt auf zusammengeklebt
auf sonnigem felS: corniglIa
(Mit der Schlagzeile «Aereo civile abbattuto dai russi: 269 morti» meldete der «Corriere della sera» am 3. September 1983 den sowjetischen Abschuss eines südkoranischen Jumbo-Flugzeugs über Sachalin.)
(9.1983; 19.2.1986)
[195]
autobiografische notiz
Oberer Freiburgweg 30
Gartenstrasse 6
Käsereistrasse 12
Dorackerweg 10
Fichtenwaldstrasse 28
Riehenring 105
Mostackerstrasse 17
Schützenstrasse 1
Fährstrasse 49
Zypressenstrasse 50
Limmattalstrasse 381
St. Moritzstrasse 2
Dapplesweg 17
Ostermundigenstrasse 2
Weissensteinstrasse 108
(3.1.1983; 21.2.1987)
[196]
die ordnung der dinge
(3 variationen über ein Thema von petros ambadsoglu)
von dem moment an
wo du
eine bestimmte ordnung der dinge
angreifst
wird diese ordnung dein leben
angreifen
und es zerstören
von dem moment an
wo du
eine bestimmte ordnung der dinge
nicht mehr akzeptierst
wird diese ordnung dein leben
ignorieren
oder es zerstören
«Von dem Moment an,
wo du
eine bestimmte Ordnung der Dinge
akzeptierst,
kann diese Ordnung dein Leben
rechtfertigen
oder aber es zerstören.»
von dem moment an
wo du
eine bestimmte ordnung der dinge
rechtfertigst
kann diese ordnung dein leben
gebrauchen
(oder aber es zerstören)
(8.1.1987)
[197]
wissen ist macht
«…denn der Mensch kann nichts geniessen,
was er nicht schon hat, und nichts haben,
ohne zu wissen, wo und wie er es bekommt;
sonach ist doch die Begierde des Wissens
die Haupttriebfeder des gesellschaftlichen Organismus,
durch welche alle übrigen geleitet werden.»
(Wilhelm Weitling, 1842)
«Eine Studie der Universität Zürich ergab, dass gegen 40% der Schweiz
er Rekruten den gleichen Wissensstand wie Drittklässler haben. Als ‘fun
ktionale Analphabeten’ haben die untersuchten Rekruten – im Gegensat
z zu den Analphabeten, die nie lesen und schreiben lernten – alles wiede
r vergessen. Dieser sogenannte ‘Verlern-Prozess’ wurde möglich, weil si
e zum Teil keine Lehre gemacht haben oder eine Tätigkeit ausüben, bei
der ihr Wissen, das sie von Radio und Fernsehen haben, genügt.»
(«Blick», 5.12.1985)
«Dann wird der Wille des Einzelnen
nicht mehr über die Gesellschaft herrschen,
sondern das Wissen Aller.»
(Wilhelm Weitling, 1842)
(16.3.1986; 23.11.1986)
[198)
F
R
E
I
F R E I H E I T
H
E
I
T
weckerfreiheit
6uhrsiehörendienachrichtenfreiheit
rasierklingenfreiheit
billettautomatenfreiheit
bus6uhr32freiheit
(scheissdrecktamile
verdammter
kastrieren)
stempeluhrfreiheit
fliessbandfreiheit
ewigaufdieuhrschauenfreiheit
8einhalbstundentagfreiheit
fünftagewochenfreiheit
(geilesaumore
mitanlauframmen
von hinten)
gangzururnefreiheit
fussballplatzfreiheit
autobahnfreiheit
wanderwegundgoggifürdiegofeninderbeizfreiheit
sportamwochenendefreiheit
[199]
(allesflachwalzen
blutknochenfleischbrei
darüberhin)
bierdosenfreiheit
kindergeschrei«ruegopferdami»freiheit
tagesschauundwetterkartefreiheit
schwarzweissamistreifenfreiheit
sendeschussflimmerrauschenfreiheit
(ich ster
chsterbe
nie)
gutenachtkussfreiheit
neinheutenichtfreiheit
aufdemrückenimdunkelnliegenfreiheit
angstvordemeinschlafen(sinddasdienerven?)freiheit
valium: fertig
(4.9.1986)
[200/201]
16. april 1986: bern ab 07.41
(19./20.4.1986)
[202]
1. mai 1986 / bern
OLIDARISTÄT
SARTÄLIODIT
«Wir alle wollen, dass Erträge verteilt
werden können. Insofern kann es uns
nicht gleichgültig sein, ob wir Aufträ
ge bekommen. Die Aufträge aus dem
inland aber reichen nicht aus, um all
en Bewohnern unseres Landes ein Ei
nkommen und eine menschenwürdige
TISTÄDARIOL
kollegen kolleginnen
im weiteren ist unter Varia der antrag gestellt worden
die SOLIDARITÄT
unter den abhängigen im weltwirtschaftssystem
nach massgabe unserer möglichkeiten
zu fördern
gibt es wortmeldungen hierzu?
das scheint nicht der fall zu sein
STRÄTILODIA
dann stimmen wir ab:
wer für die förderung
der SOLIDARITÄT
unter den abhängigen im weltwirtschaftssystem
nach massgabe unserer möglichkeiten ist
erhebe die hand
der antrag ist mit starkem mehr angenommen
ich danke
[203]
LÄSTITIADOR
s Leben zu sichern. Dafür bedarf es
auch Aufträge aus dem Ausland – in
der Schweiz sogar mehr als ande
rswo. Wir sind deshalb extrem expo
rtabhängig. Mit liegt sehr viel dara
n, dass diese Einsicht von möglichs
t vielen nachvollzogen werden kann.»
ITÄRASTOLID
TÄTARISOLID
(Unter Verwendung eines – in zwei Teile getrennten – Zitates aus der Berner 1.-Mai-Rede des Präsidenten des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes, Fritz Reimann.)
(24.4.1986; 12./13.5.1986)
[204]
Am 26. April 1986, 1.23 Uhr trat in Tschernobyl der GAU ein. «Gestern spürte man zum ersten Mal den Frühling» (BZ, 3. Mai 1986)
CEYLOR: con gelatine scorrevole
«Ich wollte Sie fragen, was wir jetzt tun sollen.»
controllo elettronico a pressione e visuale
«Das Grauenhafte am Schreiben ist,
dass man sich die Fallen selber stellen muss.»
Jod 131, Halbwertszeit 8 Tage
Jod 132, Halbwertszeit 2,4 Stunden
Cäsium 134, Halbwertszeit 2 Jahre
«Sobald ich schreibe ‘grosser Baum’ wird der Baum klein.»
Cäsium 137, Halbwertszeit 30 Jahre
CEYLOR: lubricated
elecronically and visually checked and resistance-tested
Strontium 89, Halbwertszeit 50 Tage
CEYLOR: mit Gleitcrème
«Ob sie denn, fragte eine Zuschauerin gestern die TV-Beraterrun
de von «DRS-aktuell’, nach dem KKW-Unfall von Tschernobyl mi
t ihrem Mann noch gefahrlos ein Kind zeugen könne. Zuerst betr
etenes Schweigen, dann folgt die Beruhigung. Selbstverständlich
h dürfte sie das, wird ihr gesagt. Nur ein Arzt meldet zögernd Be
denken an. Er würde für einige Zeit Zurückhaltung üben, rät er.»
elektronisch, visuell und auf Reissfestigkeit kontrolliert
«Es gibt keine Revolution in der Literatur.
Strontium 90, Halbwertszeit 29 Jahre
Sie würde nicht erkannt.
Man würde sagen, das sei gar keine Literatur.»
Ruthenium 103, Halbwertszeit 39 Tage
Ruthenium 106, Halbwertszeit 1 Jahr
Barium 140,
«Erzählen ist Lautgeben, wie ein Hund lautgibt.»
Halbwertszeit 13 Tage
Lanthan, Halbwertszeit 1,7 Tage
Technetium 99m,
CEYLOR: avec
Halbwertszeit
gelée
6 Stunden
[205]
«Unverändert gilt auch die vorsorgliche Massnahme zu einem Ersatz
glissante
der Kuh-Frischmilch durch Milchpulver, Kondensmilch oder vor dem
contrôle
vergangenen Samstag abgepackter Pastmilch für Kinder unter zwei
visuel,
Jahren, schwangere Frauen und stillende Mütter. Die Einsatztruppe
à
der Kommission für AC-Schutz (KAC) präzisiert, dass die Empfehlun
pression
gen in bezug auf den Frischmilchkonsum auch auf Joghurt, Quark un
et
d ähnliche Frischmilchprodukte anzuwenden sei. Kleinkinder, sowie
électronique
schwangere und stillende Frauen sollten demnach weiterhin auf die
Cerium 143, Halbwertszeit 33 Tage
se Produkte verzichten, ebenso auf Freilandgemüse und -salat.»
Cerium 144, Halbwertszeit 280 Tage
Niob 95,
«Das Grauenhafte am Schreiben ist,
Halbwertszeit 35 Tage
dass man sich die Fallen selber stellen muss.»
Molybdän 99, Halbwertszeit 2,8 Tage
Zirkon 95,
«Die kleinen Leute reden nicht über Fussball,
weil sie das am brennendsten interessiert,
sondern weil ihnen die Wörter vom Fussball am nächsten liegen.»
Halbwertszeit 64 Tage
(am sonntag, 4. mai 1986, abends
beim liebe machen,
riss das präservativ,
am 19. tag von heidis zyklus.
ist sie schwanger?)
In der Schweiz machten Jod und Cäsium
etwa 90% der Strahlenwolke aus.
«Gut, wir haben die Zeit durchgebracht.
Ich hab’s hinter mir und ihr auch.»
(Unter Verwendung von Zitaten, die ich an einer Werkstatt von Peter Bichsel anlässlich der Solothurner Literaturtage am 9. Mai 1986 mitgeschrieben habe; einer Zusammenstellung «Das brachte uns die Strahlenwolke», «Schweizer Illustrierte» 21/1986; dem Schachtelaufdruck des Präservativprodukts «ceylor Blauband»; zwei Zitaten aus der «Berner Zeitung» vom 9. Mai 1986, S. 3 resp. 13.)
(26.5.1986)
[206]
jahrestag: Tschernobyl 1600 km / mühleberg 16 km
nationale demonstration, 25.4.1987
«Der Einsatz war verhältnismässig.» (Christoph Hofmann, Kommandant der Stadtpolizei Bern)
VERHÄLTNISMÄSSIG ist: sich
den verboten der regierung zu fügen
die bewilligte demonstration
führt ins abseits ohne öffentlichkeit
die unbewilligte
in die schlacht
MÜHLEBERG STILLEGEN STATT NACHRÜSTEN!
VERHÄLTNISMÄSSIG ist: sich
von den polizeigrenadieren abschrecken zu lassen
der schritt durch den polizeikordon
der schritt vorbei an den verteidigern
ihrer öffentlichkeit
auf unsere öffentliche strasse
STILLEGUNG ALLER ATOMKRAFTWERKE!
VERHÄLTNISMÄSSIG ist: sich
vom gasangriff treffen zu lassen
die CS-granaten fliegen
das jochbein bricht
die giftwolken treiben
das kind schreit
KEINE ATOMAREN FERNWÄRME-PROJEKTE!
VERHÄLTNISMÄSSIG ist: sich
von fall und fall in höherem interesse vergiften zu lassen
der wurf einer bierflasche über
die abschrankung über die bundesgasse über
die polizeigrenadiere in das eine fenster
des bundeshauses: ist unverhältnismässig
UMWELTGERECHTE ENERGIEVERSORGUNG OHNE ATOMSTROM!
(25/26.4.1987)
[207]
«Wichtiger ist die Frage, ob und wie man in unserem Zeitalter der Reproduktion, von dem bekannt ist, dass in ihm individuelles Erleben und schöpferische Originalität durch die Allgegenwart des Zitats tödlich bedroht sind, überhaupt noch ohne Lüge zu schreiben vermag.» (Alexander Stephan)
ORIGINAL*)
*) dieser text ist ein zitat
und nun singen wir als grosses finale:
WIRD SIND GEKLONTE ORIGINALE
(31.3.1986)
[208]
schädel gespalten
(naturhistorisches museum der burgergemeinde bern)
die idee treibt
aus dem kopf
in die welt
und hier in der paläontologie
im hintersten schaukasten links
sehen sie als beispiel
für den menschlichen KAMPF UMS DASEIN
eine KRIEGSVERLETZUNG
ein männlicher schädel
mit TÖDLICHER HIEBVERLETZUNG
AUS DER VÖLKERWANDERUNGSZEIT
also FRÜHMITTELALTER
fundort SCHOSSHALDE BERN
wir erkennen:
der hieb mit schwertartiger waffe
traf von hinten
das linke scheitelbein
nahe der pfeilnaht
– wobei beim aufschlag
ein schädelbruchstück abgesplittert ist
wir sagen impressionsfraktur –
und schlitzte das scheitelbein auswärts
bis vor die kreuznaht
aus der welt
in den kopf
treibt die tat
(19.2.1986)
[209]
nachtraum
«Du musst deine persönlichen Interessen an dir selbst aufgeben, denn sonst drängst du dich dem Gegenstande auf und wirst nichts lernen.» Matsuo Bashô, 1644-1694)
im vorbeigehen
feuer gefangen am eis
ein schritt zu nahe
im schatten der stadt
gehen sternfremd zwei kinder
merkwürdiges paar
der kellner bringt wein
wörter sickern durchs tischtuch
die gäste im raum
tischtuch weiss blumen
so essen sie sehn sich an:
sie sind nicht gemeint
später bei ihr wein
langsam trinken sie weiter
sie warten auf sich
warten und reden
müd und allein in der nacht
was soll’s? dann gehn sie
betrunken im raum
kleidlos stehn sie versteckt jetzt
wohinter im licht?
im dunkel leitet
die wärme der körper – nicht
lustvoll nur dankbar
sie brauchen sich ja:
du versvorlage – ich ding
austauschbar wärmend
[210]
verirrtes traumbild
erwachend wirbel entlang
des nackten rückens
kalter schweiss torkeln
licht hausflur schwarz kniend luft
schlottern klo keuchen
den schweiss abgewischt
kalt leer im fremden nachtraum
an einem körper
schlaf – gleitend berührt
die warme ferse das knie
glüht auf der haut fort
dämmer – im halbschlaf
hand auf hand finger verkreuzt
draussen frühverkehr
taglicht – augen leer
verlorne berührungen
vergessen schon jetzt
kaffee die zeitung
jacke tasche – schon draussen
winterlicht – das war’s
ein schritt zu nahe
feuer gefangen am eis
im vorübergehen
(21.-26.2.1986; 25.11.1986)
[211]
Aus dem Film «Muttertag»
Sequenz Waldweg, ca. 2’30’’
(0’’:)
Hellgrün der Wald. Das Auto bockt, bleibt stehn.
Aus steigt die Alte, will zum Motor sehn.
Im Fond des Wagens räkelt sich ein Mann.
Vorne stellt die junge Frau das Radio an.
(30’’:)
Musik erklingt. Durchs offne Fenster fährt,
und köpft den Mann im Fond, ein Schwert.
Die Frau schreit auf und ein Maskierter packt
sie: will sie auf dem Autodach und nackt.
(50’’:)
Rittlings ein zweiter schlägt ihr ins Gesicht,
schlägt brüllend blutig, bis die Alte spricht:
«Das reicht.» Zum Opfer sagt sie sacht:
(1’50’’:)
«Ich liebe dich.» Und würgt sie langsam drauf
zu Tod. Zu ihren beiden Söhnen blickt sie auf:
«Ich danke euch, ihr habt mich froh gemacht.»
(11.1982)
[212]
südwärts
I
NIEMAND
WEISS WIE ES
WEITER
GEHEN
SOLL
DIE ELITEN
BETEN
IM KREIS
WEGWERF
HOFFNUNGEN
AM ANFANG
ABER IST DER
TRENNUNGSSTRICH
ZWISCHEN UNS
UND DEM FEIND
II
agoNIE der MANDelblüten
WEISS WIEgt blinkendES licht
über WEITestem wassER:
reGEn von loHENden
SOnnenweLLen
DIEse hELIgkeiTEN!
sie BrEiTEN
IM KREISE
WildE GeWaltig–ERgreiFende
HOFFNUNGEN
schAuMfANFAreN Gischten
Am BERstenden rIff STtrahlenDER
TRENNUNGSSTRICH
ZWIngt SCHnEideNd himmel UNd waSser
UNter Das DEnken voM FernEn Im NahenDen
[213]
III
agonie der mandelblüten
weiss wiegt blinkendes licht
über weitestem Wasser:
regen von lohenden
sonnenwellen
diese helligkeiten!
sie breiten
im kreise
wilde gewaltig-ergreifende
hoffnungen
schaumfanfaren gischten
am berstenden riff strahlender
trennungsstrich
zwingt schneidend himmel und wasser
unter das denken vom fernen im nahenden
(10.3.1986; 9./10.12.1986; 1989)