Torria

 

Windignasser Tag im Mai. Ich lese,

eingepackt in Decken, Frischs verworfnes

Drittes Tagebuch, und vor dem Fenster

bläht der Wind hangaufwärts graue Segel

in verwilderten Olivenhängen.

Regen tropft vom Dach und klatscht in Schwällen

in die Trockenmauern der Terrassen,

die sich, ginsterüberwachsen, bauchig

wölben und zerfallen. Eine Villa

in New England träumt sich Frisch mit dreizehn

Zimmern, Wald und Wiesen und im Westen

für die vielen Gäste einen See, für

all die toten Freunde und Bekannten,

die der Alte hier empfangen will. Und

vor dem Fenster talwärts klebt Torria

auf dem Grat. Die Arbeit in den Hainen

bringt zu wenig, muss man davon leben,

sagt mir eine alte Frau am Dorfplatz,

und: Sie koche nun mit Öl aus Spanien,

das sei zahlbar mit der kleinen Rente.

Ab und zu zerreisst der Regenschleier:

Dann steht vorn im Tal der Grattacielo

von Oneglia und dahinter glänzt für

einen Augenblick im Sonnenlicht das

junge Meer auf. Doch, ich lebe gern.

 

(6.+13.5.2010; 22.4.2014)

 

Zu Frischs Traum siehe: Max Frisch: Entwürfe zu einem dritten Tagebuch, Frankfurt am Main (Suhrkamp) 2010, 144 ff.

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